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Sehnsucht nach Wahrheit

Edith Stein wurde, weil sie gebürtige Jüdin war, vor 70 Jahren in Auschwitz-Birkenau umgebracht. Nach dem intensiven Studium der Mystikerin Teresa von Avila ließ sich die promovierte Philosophin taufen und wurde Ordensfrau bei den Karmeliterinnen. Papst Johannes Paul II. sprach sie 1998 heilig.

Von Burkhard Reinartz | 21.08.2012
    Es gibt keinen Beruf, der nicht von einer Frau ausgeübt werden könnte. Keine Frau ist ja nur Frau, jede hat ihre individuelle Eigenart und Anlage so gut wie der Mann und in dieser Anlage die Befähigung zu dieser oder jener Berufstätigkeit künstlerischer, wissenschaftlicher oder technischer Art.

    Neben ihrem gesellschaftspolitischen Einsatz stürzt Edith Stein sich in das Studium der Philosophie. Sie glaubt nicht an die Existenz Gottes, erwartet von der Wissenschaft Antworten auf die Fragen ihres ethischen Idealismus.

    Edith Stein meldet sich 1915 zu einem freiwilligen Lazaretteinsatz und lernt dort Tod und menschliches Leid kennen. Zurückgekehrt beendet sie ihre Doktorarbeit zum Thema "Einfühlung", die Husserl mit summa cum laude bewertet und strebt eine Habilitation an. Die Professur einer Frau: Undenkbar in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Husserl verweigert die Habilitation und beschäftigt Edith Stein als Privatassistentin. Die Zeit von 1917 bis 1921 wird für Edith Stein zu vier Jahren einer lebenswendenden Krise. Viermal versucht sie, sich zu habilitieren. Vergeblich. Sie wird Opfer einer Gesellschaft, die den Frauen ihre Rechte verweigert und die philosophische Begabung der jungen Frau verkümmern lässt. Die Lebenskrise durch das berufliche Scheitern wirkt verstärkt durch zwei unglückliche Lieben zu ihren Philosophenfreunden Roman Imgarden und Hans Lipps.

    Eine Erfahrung, die meine Kräfte überstieg, meine geistige Lebenskraft völlig aufgezehrt und mich aller Aktivität beraubt hat.

    Die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkowitz, die an der Technischen Universität Dresden Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaften lehrt:

    "Man hat lange Zeit gar nicht gewusst, dass Edith Stein in ihrer Jugend eine Beziehung zu zwei Männern gehabt hat, nacheinander. In beiden Fällen war es so, dass Edith Stein eigentlich gerne eine Ehe angestrebt hätte. In beiden ist sie sehr stark brüskiert worden. Man hat ihre Kameradschaft, ihre Klugheit, gesucht, aber dann sie als Frau zurückgewiesen. Sie war natürlich leer, enttäuscht, ausgebrannt. "Totenstille" hat sie das genannt. Es ist eher so, dass sie dann über die Entdeckung Gottes – sag ich jetzt mal vorsichtig – eine Form von Heilung erfahren hat, die ihr sehr geholfen hat."

    Der christliche Glaube hilft Edith Stein ihr berufliches Scheitern und ihre unerwiderten Lieben zu verarbeiten. In einem Brief an Roman Imgarden nennt sie ihren Weg ins Christentum eine "Wiedergeburt aus Zerstörung".

    Ich habe mich mehr und mehr zu einem positiven Christentum durchgerungen. Das hat mich von dem Leiden befreit, das mich niedergeworfen hatte und hat mir zugleich die Kraft gegeben, das Leben aufs Neue und dankbar anzunehmen.

    Im Zuge ihrer Begegnung mit den Werken Teresa von Avilas lernt Edith Stein, sich nicht andächtig aus der Welt zurück zu ziehen, sondern als Zeuge des Überweltlichen in der Welt zu wirken.

    Allmählich habe ich einsehen gelernt, dass in dieser Welt anderes von uns verlangt wird, dass selbst im beschaulichsten Leben die Verbindung zur Welt nicht durchgeschnitten werden darf. Denn je tiefer jemand in Gott hineingezogen wird, desto mehr muss er auch aus sich herausgehen, das heißt in die Welt hinein, um das göttliche Leben in sie hineinzutragen.

    Sie, die kritische Philosophin, die jahrzehntelang an der Existenz Gottes gezweifelt hatte, entscheidet sich für den katholischen Glauben. Am 1. Januar 1922 lässt Edith Stein sich taufen und wählt als neuen Namen Teresia. Bewusst entscheidet sie sich für einen jüdischen Feiertag als Tag der Taufe, das "Fest der Beschneidung des Herrn". Symbolisch will sie dadurch ihre jüdische Herkunft mit der neuen Religion verbinden. Aus Rücksicht auf ihre Mutter traut sie sich noch nicht, nach der Konversion rasch in ein Kloster in der Nachfolge Teresas einzutreten.

    Anders als andere Mystiker, die oft in einer kritischen Beziehung zur Institution Kirche standen, hat Edith Stein ein ungebrochenes Verhältnis zur katholischen Kirche. Die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz erklärt das so:

    "Edith Stein gehörte der Generation an nach dem ersten Weltkrieg, für die die Kirche der Leuchtturm und das Leuchtfeuer in einer zerbrochenen Welt ist. Es gibt in den 20er-Jahren Hunderte von Konversionen, auch gerade von jüdischen Konversionen. Die große Kultur ist in den Schlachtfeldern verblutet. Die deutsche Kultur war am Ende. Das wilhelminische Kaiserreich aus. Es schien als einzige Größe wirklich etwas wie die spezifisch katholische Kirche übrig zu bleiben."

    Edith Stein arbeitet von 1923 bis 1931 als Lehrerin für Deutsch und Geschichte am Lyzeum St. Magdalena bei den Dominikanerinnen in Speyer. 1932 geht sie als Dozentin an das Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster. Wenig später wird sie als Nichtarierin entlassen. Das Angebot eines Lehrauftrags in Südamerika lehnt sie ab. Im Herbst 1933 tritt sie in den Karmel Teresas von Avilas ein. Jetzt lebt sie im Kloster St. Josef in Köln. Ein neuer Abschnitt im bewegten Leben Edith Steins beginnt.

    Gott verbunden bist du allgegenwärtig wie er. Nicht hier und dort kannst du helfen wie der Arzt, die Krankenschwester, der Priester. An allen Fronten kannst du sein in der Kraft des Kreuzes.

    Im Kloster arbeitet die Ordensfrau weiter an ihrem philosophischen Werk. 1936 beendet sie "Endliches und ewiges Sein." Im selben Jahr wechselt Edith Stein in den Karmel des holländischen Echt in der Hoffnung, dort der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen. Bis zu ihrem Tod schreibt sie 1941 und 1942 an der "Kreuzeswissenschaft". Darin verarbeitet sie die Erfahrungen des spanischen Mystikers Johannes vom Kreuz zu einer christlichen Philosophie der Hingabe und des Leidens.

    "Johannes vom Kreuz ist ja ein Mystiker des 16. Jahrhundert, von einer Radikalität, die bestürzt. ‘Verachte alles, besitze nichts!’ Wie kann man das leben? Edith Stein hat es geschafft, diese radikale Aussage zu übersetzen. Sie sagt, in dem Augenblick, wo man Gott entgegen reift, vielleicht sogar gezogen wird, kommt ein Zeitpunkt, wo man wirklich keinen großen Wert mehr auf andere Dinge legt. Dieses Abgeschnelltsein auf Gott braucht rechts und links keine großen Dinge mehr, das heißt, es wird plötzlich leicht. Wenn man einen bestimmten Durchbruch durch diese Abhängigkeiten gemacht hat, ist es eigentlich lästig, von zu vielen Dingen behängt zu sein."

    Ende Juli 1942 verlesen die holländischen Bischöfe ein Hirtenwort gegen die Verfolgung der Juden. Die Nazis verhaften darauf hin in einer Racheaktion katholische Juden, vor allem Ordensangehörige – darunter Edith Stein und ihre Schwester Rosa, die im Karmel in Echt als Bedienstete untergekommen ist. Die beiden Frauen werden am 2. August aus dem Kloster abgeholt und in das Übergangslager Westerbork gebracht. Ein Mitarbeiter des Lagers fragt die Ordensfrau am 7. August 1942, ob er noch etwas für sie tun könne, und er etwas für ihre Rettung unternehmen solle. Edith Stein antwortet:

    Tun Sie das nicht. Warum soll ich eine Ausnahme sein? Ist dies nicht gerade Gerechtigkeit, dass ich keinen Vorteil aus meiner Taufe ziehen kann? Wenn ich nicht das Los meiner Brüder und Schwestern teilen darf, ist mein Leben wie zerstört.

    In Edith Steins Beziehung zum Judentum gibt es zwei Auffassungen, die nicht leicht nach zu vollziehen sind. Einmal ihre Deutung der Judenverfolgung im Dritten Reich als "Teilhabe am Kreuz Christi", dann die Deutung des eigenen Todes als Sühneopfer für den "Unglauben" der Juden.

    "In ihrem Testament vom Juni 1939 spricht Edith Stein von fünf Positionen, für die sie ihr Leben geben will. Und die, die Ärgernis erregt hat, ist die mittlere, dass sie sich für den "Unglauben des jüdischen Volkes" dem Herrn anbietet."

    Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz verteidigt Edith Stein gegen die Kritik, die Ordensfrau hätte den Holocaust als Sühneopfer für den "Unglauben des jüdischen Volkes" interpretiert.

    "Es ist nicht der Unglaube eines Judentums gemeint, das selber von Edith Stein als ganz deutliche Glaubenshaltung aufgenommen ist. Sie hat auch ihrer eigenen Mutter nie einen Unglauben unterstellt, im Gegenteil: Mit Unglauben meint sie einzig den Unglauben an die Gestalt Jesu. Es wäre Edith Stein im Traum nicht eingefallen, das Judentum als Unglauben zu bezeichnen."

    Edith Steins Leben war durch Gegensätze geprägt und den Versuch, diese Gegensätze zu versöhnen: Judentum und Katholizismus, Philosophie und Religion, innere Einkehr und tätige Nächstenliebe. Am 11. Oktober 1998 wurde Edith Stein von Papst Johannes Paul II. als "Märtyrerin" heilig gesprochen. Von jüdischer Seite gab es Kritik an der Heiligsprechung. Man fürchtete, das jüdische Schicksal der Shoa würde christlich vereinnahmt.
    Wer bist du, Licht
    das mich erfüllt
    und meines Herzens Dunkelheit
    erleuchtet?
    Du leitest mich
    gleich einer Mutter Hand
    und ließest du mich los,
    so wüßte keinen Schritt
    ich mehr zu gehen.