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"Seid bereit!"

Heute jährt sich zum 18. Mal der Tag der deutschen Einheit. Die deutsch-deutsche Republik wird volljährig, und viele jüngere Menschen haben die DDR gar nicht mehr kennengelernt. Wie der Schulunterricht zu Zeiten des real existierenden Sozialismus' aussah, das können Besucher des Schulmuseums in Leipzig trotzdem noch anhand einer nachgestellten Unterrichtsstunde miterleben.

Von Sven Näbrich | 03.10.2008
    Von der Wand grüßt Erich Honecker, über der Tafel hängt die blaue Pionierfahne. Heimatkundeunterricht steht auf dem Stundenplan. Der Ordnungsdienst meldet die Klasse.
    "Frau Urban, ich melde, die Klasse 3b ist vollständig zum Unterricht bereit."

    "Danke schön. Für Frieden und Sozialismus - Seid bereit!"

    "Immer bereit!"

    "Setzen."

    Im grauen Kostüm steht Elke Urban vor der dritten Klasse. Die Kinder sollen heute den Pioniermarsch lernen. Sie schlagen die Bücher auf. Was hier wie eine Nostalgieveranstaltung anmutet, ist in Wahrheit eine Nachhilfestunde in deutsch-deutscher Vergangenheit. Der Ort hierfür ist gut gewählt: das Schulmuseum befindet sich in der ehemaligen Stasi-Zentrale, wo in der zweiten Etage ein Schulzimmer im DDR-Stil nachgestellt wurde.

    Alles ist perfekt aufeinander abgestimmt: die Dederon-Gardinen an den Fenstern, die zehn Gebote der Jungpioniere gerahmt an der Wand und auf den Fensterstöcken das unverwüstliche Sachsengras. Von den Topfpflanzen bis hin zum Mobiliar ist alles echt. Nur Klasse und Lehrerin sind für 45 Minuten in eine Rolle geschlüpft. So auch Elke Urban, Leiterin des Schulmuseums Leipzig, die freundlich, aber mit strengem Unterton die Stunde leitet.

    "Ich hab mich bei der Stundenvorbereitung ganz strikt an das gehalten, was sich Margot Honecker gewünscht hätte; nämlich das, was in den Unterrichtshilfen als Empfehlung für die Lehrer drinstand. Und da stand nirgendwo drin, dass die jetzt nur im Kommando-Ton die Schüler triezen sollten, sondern natürlich, dass sie freundlich sein sollen, dass sie die Kinder sehr viel loben sollen. Und dadurch wird die Perfidität noch viel deutlicher – beziehungsweise: das, was mit denen passiert an Manipulation, wirkt noch brutaler."
    Manipulation und Gleichschaltung im DDR-Schulalltag - diese Aspekte sind Elke Urban besonders wichtig, wenn sie mit Jugendlichen oder auch Lehrern die Schulstunden abhält. Denn vieles von damals habe sich in der Erinnerung verklärt, so die Museumsleiterin, oder aber sei noch gar nicht richtig zu Bewusstsein gekommen. Um dies zu verdeutlichen, übernimmt in der nachgestellten Unterrichtsstunde ein Teilnehmer die Rolle des Nicht-Pioniers, des Außenseiters.

    "Jetzt haben wir ein Problem: Monika darf ja nicht mitkommen. Sie ist kein Pionier. Es ist ja Pioniernachmittag und wenn wir das erste Mal eingeladen sind, da wollen wir uns ja nicht gleich blamieren."

    Ohne Halstuch sitzt Monika zwischen ihren Mitschülern und hat es besonders schwer bei Lehrerin Urban. Doch keiner der Klassenkameraden solidarisiert sich mit dem Mädchen - und das, obwohl Einmischung ausdrücklich erwünscht ist.

    "Also zum Beispiel, wenn ich sage: 'Der Nicht-Pionier, der darf natürlich nicht mitkommen, wenn wir zur Patenbrigade gehen, weil er ja kein Pionier ist. Und es ist die erste Veranstaltung bei der Patenbrigade, da wollen wir uns nicht blamieren.' Das hat bis jetzt ganz selten mal jemanden veranlasst zu sagen: 'Nee, da mach ich nicht mit. Wenn mein Freund, der nicht Pionier ist, nicht mitkommen darf, da will ich auch nicht mitgehen.'"

    Die Besucher, die meist im Rahmen des Geschichtsunterrichtes die DDR-Schulbank drücken, fügen sich erstaunlich schnell den Wünschen der Lehrerin. Wie es ist, einmal selbst als Pionier das Halstuch zu tragen, hat auch Nadine Jünger erfahren. Die 23-jährige Studentin der Kommunikations- und Medienwissenschaften absolviert gerade ein Praktikum im Leipziger Schulmuseum. Als sie ihre Stelle antrat, hat auch sie am Rollenspiel teilgenommen und gemerkt, dass es gar nicht so einfach ist, sich dem Gruppendruck zu entziehen.

    "Und war schon ein bisschen beklemmend muss ich sagen, dieses Gefühl. Wenn man sich dann in diese Situation reinversetzt, merkt man halt auch selber, wie man dann auch so anfängt zu denken, dass man überlegt: Was sagt man jetzt, dass man im Prinzip das Richtige sagt oder das, was die Lehrerin hören will und nicht das, was vielleicht die eigene Meinung ist. Und dafür verbiegt man halt auch manchmal seine eigene Meinung, um halt einfach nicht negativ aufzufallen, anzuecken und Probleme zu bekommen."
    Hier setzt Elke Urbans Konzept der DDR-Unterrichtsstunde an: Es geht nicht darum, das damalige Schulsystem zu verteufeln oder liebgewonnene Kindheitserinnerungen zu trüben. Ebenso wenig aber will Urban einer Ostalgiewelle Vorschub leisten. Vielmehr soll die Schulstunde für die Freiheiten der Demokratie sensibilisieren und darüber hinaus heutige Schüler zur eigenen Meinung ermuntern.

    "Wenn wenigstens erkannt wird: zur Demokratie und zur demokratischen Schule gehören Handlungsspielräume. Und ich als mündiger Bürger habe diese Handlungsspielräume zu nutzen, das ist meine Pflicht, und ich hab die nicht zu verpennen - dann wäre meine wichtigste Botschaft gesagt."