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Sein oder Nichtsein

Fast drei Stunden Geduld müssen die Zuschauer mitbringen. So lange dauert die aktuelle Hamlet-Inszenierung des Regisseurs Michael Thalheimer. Die Schauspieler werden in Thalheimers konzeptionellem, minimalistischem Theater stark in den Mittelpunkt gerückt. Hans Löw spielt dabei einen zwischen Empörung und Empfindungslosigkeit ermatteten Hamlet.

Von Hartmut Krug |
    Totenmaske William Shakespeares.
    Totenmaske William Shakespeares. (AP)
    Am Anfang sitzen sie alle minutenlang schweigend nebeneinander auf dem niedrigen Holzpodest, das als Spielfläche im leeren, schwarzen Bühnenkasten von Henrik Ahr dient. Doch anders als vor Jahren, bei Michael Thalheimers Inszenierung von Molnars "Liliom" im gleichen Haus, bei der das Auftrittsschweigen der Figuren Verweigerung, Konfrontation und Fremdheit zugleich ausdrückte und lange ausgehalten wurde, wird es hier als Ausdruck von Ratlosigkeit schnell abgelöst von kleinen Bedeutungs- und Beziehungsspielereien.

    Königin Gertrud legt ihre Hand mit stolzer Zärtlichkeit in Claudius` Schoß, während dem Strippenzieher Polonius vor lauter Tatendrang leicht die Glieder zucken. Und Hamlet verfestigt sich in nachdenklicher Trauerpose, während uns Claudius seine Schwierigkeiten beim Aufsetzen einer blutroten Krone im Slapstickspiel verdeutlicht.

    Am Schluss, nach fast drei Spielstunden nebst Pause in der längsten Thalheimer-Inszenierung seit vielen Jahren, sitzen sie hier wieder alle schweigend nebeneinander. Jetzt aber, nach einem Spiel um Liebe und Macht, sind sie alle tot. Keine Hoffnung bleibt, denn der mit seinen Truppen an den verwaisten Königshof angekommene Fortinbras wird vom Darsteller des Geistes von Hamlets totem Vater gespielt.

    Hatte Michael Thalheimer bei seiner ersten Shakespeare- und Hamlet-Inszenierung, vor rund zehn Jahren in Freiburg, noch einen protestierenden Hamlet als Identifikationsfigur gezeigt, so wirkt sein Hamlet diesmal in suchender Trauer zuweilen wie erstarrt. Er ist nicht der bewusste Spieler, der Rache aus innerer Sicherheit will, er ist überhaupt nicht jemand, der sich seiner Sache und Absichten sicher ist. Hans Löw spielt ganz virtuos einen in seinen Gefühlen zwischen heftiger Empörung und Empfindungslosigkeit ermatteten Hamlet. Dennoch bleibt die Figur blass und wirkt mehr wie eine gedankliche Konstruktion.

    Wie vieles in dieser durchaus anregenden Inszenierung, für die Regisseur Michael Thalheimer und sein Dramaturg John von Düffel etliche neue Erklärungen und Kommentare zu Shakespeares Drama gefunden haben. So wurde der erste Schauspieler, der für Hamlet die Szene des Mordes am Vater als Mausefalle für den König aufführt, mit dem körperlich behinderten, eigentlich auf den Rollstuhl angewiesenen Schauspieler Jan Dziobek besetzt. Wenn dieser auf die Bühne krabbelt, seinen Text spricht und die Puppen, mit denen er die Geschichte erzählt, aufeinander eindreschen lässt, dann wirkt das allerdings nur als szenischer Effekt. Die dramaturgisch tiefer gehende Absicht, mit einem Behinderten einen Macher gegen einen Tatenlosen zu setzen und damit Hamlets Scheitern für ihn selbst und uns doppelt deutlich werden zu lassen, wird allerdings nicht szenisch sinnlich.

    So geht es manchem, was im Programmheft zu den Figuren gesagt wird: Es wird auf der Bühne nicht versinnlicht. Dabei ist es eine spielerische, ja, eine immer wieder auch schauspielerisch expressive Inszenierung. Doch die Figuren bekommen hier oft so viel Eigenraum, dürfen sich, jede für sich, so sehr ausstellen und präsentieren, dass sich der Zuschauer mit ihnen in der Fülle ihrer Problem-Spiele verliert. Thalheimer inszenierte kein Hamlet-Solo, sondern ein Suchspiel mit vielen Wirklichkeiten. Hier werden alle Figuren gleich ernst genommen, hier behauptet jede die Empfindung ihrer eigenen Wahrnehmung und Wirklichkeit, hier hat aber auch jeder seine eigene Spielweise.

    Hamlet und sein brudermörderischer Onkel Claudius sind hier als Gleichaltrige sowohl Konkurrenten um den Thron wie um Königin Gertrud. Victoria Trauttmansdorff zeigt sie als in sinnlicher Freude aufgehende, ganz bei sich seiende Frau. Wenn Hamlet vorn von seiner Hoffnung flüstert, "oh schmölze doch dies allzu feste Fleisch", dann gibt sich das neue Königspaar im Dunkel hinter dem Podest so lautstark wie sichtbar fleischlichen Freuden hin. Hamlet spricht seine Monologe meist nachdenklich und leise an der Rampe, dabei befragt er sich und informiert das Publikum.

    Beim Hamlet wird wieder deutlich, wie sehr Thalheimers konzeptionelles Theater doch den Schauspieler in den Mittelpunkt stellt. Das nutzt Norman Hacker, um seinen aufstiegswütigen Polonius mit körpersprachlich virtuosen Kaspereien als einen Kontrollfreak zu spielen. Er peinigt seine Kinder mit Verhaltensvorschriften und Handgreiflichkeiten und entwickelt sich dabei zum Glieder verrenkenden und Grimassen schneidenden Wiedergänger des Komikers Mr. Bean.

    Während Paula Dombrowski den Druck, der auf ihrer Ophelia lastet, mit kleinen, nervös zuckenden Beinbewegungen verdeutlicht, um sich in Ophelias Wahnsinnszene mit gestisch-akustischer Überinstrumentierung ihrer schauspielerischen Mittel zu verlieren. Womit sie ihrer Rolle gegenüber die gleiche Haltung eingenommen hat, wie der Regisseur Thalheimer gegenüber dem gesamten Stück.