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Seiner Zeit immer einen Schritt voraus

Mit elf Jahren und Steppunterricht begann, was später auf den großen Showbühnen der USA enden sollte: die Karriere des Tänzers und Choreographen Merce Cunningham. Auch mit 90 Jahren choreographiert er noch - und zeigt der Welt, was Tanzavantgarde ist.

Von Christina-Maria Purkert |
    Das Foto zeigt einen gebrechlich wirkenden Greis im Rollstuhl - mit wachem, konzentriertem Blick auf die beiden Tänzerpaare im Probensaal. Merce Cunningham choreographiert auch noch mit fast 90. "Nearly Ninety" - "Beinahe neunzig", hat er das Werk genannt, das er heute an seinem 90. Geburtstag in New York zur Uraufführung bringt. Doch der Abend wird nichts vom Alter erzählen oder von der Lebensgeschichte des Choreographen. Denn Cunningham hat sich schon in den 40er-Jahren davon verabschiedet, mit Tanz Geschichten zu erzählen und Gefühle auszudrücken.

    Für abstrakt hält er seine Arbeit aber bis heute nicht, wie er in der Filmreihe "Montag mit Merce" auf seiner Website erzählt:

    "Ich finde Bewegung nicht abstrakt. Was ist daran abstrakt? Es ist etwas, das Du tust. So gibt Dir die Tatsache, dass Bewegung keinen spezifischen Bezug zu einer Sache hat, die Chance, sie zu vielen Dingen in Beziehung zu setzen."

    Cunninghams Interesse galt und gilt der Bewegung an sich, nicht ihrer Bedeutung. Weil sich jeder Mensch anders bewegt, hat Individualität einen hohen Stellenwert in seiner Arbeit - aber das hat nichts zu tun mit Ausdruck der Persönlichkeit im psychologischen Sinn.

    Dabei hatte er genau damit als junger Tänzer in der Compagnie von Martha Graham brilliert. Von 1939 bis 1945 war er in tragenden Rollen zu sehen. Nach New York zu Martha Graham, der Mitbegründerin der American Modern Dance, war Merce Cunningham nach seiner Ausbildung am Cornish College of the Arts in Seattle gekommen.

    Schon im College lernte Merce Cunningham John Cage kennen - mit ihm verband ihn bis zum Tod des Komponisten 1992 eine intensive künstlerische Zusammenarbeit und später auch eine private Lebenspartnerschaft. Bereits in den frühen 40er-Jahren begannen Cage und Cunningham mit neuen Formen von Tanz und Musik zu experimentieren.

    Im Jahr 1951 wurde "Sixteen Dances for Soloist und Company of Three” uraufgeführt. Cage schrieb die Musik für Cunningham und drei Tänzerinnen. Erstmals nutzte Cage hier die uralte Orakeltechnik des chinesischen I Ging mit seinen 64 Zeichen, um die Abfolge der Klänge zu bestimmen:

    "Anstatt eine Auswahl zwischen möglichen Entscheidungen zu treffen, stelle ich nur Fragen, die nicht von einem Menschen beantwortet werden, sondern von einem Orakel beantwortet werden."

    So erklärte John Cage die Methode, nach der sowohl seine Musik und als auch Cunninghams Choreographie entstanden. Dabei beziehen sich Musik und der Tanz nicht wie gewohnt aufeinander, sondern werden nur zeitgleich auf die Bühne gebracht.

    1953 gründete der Tänzer und Choreograph seine Merce Cunningham Dance Company am Black Mountain College in North Carolina. Zur Blüte kam sie in New York, wohin Cunningham, Cage und ihre zahlreichen Künstlerfreunde abwanderten. Robert Rauschenberg war einer der häufigsten Bühnenbildner der Merce Cunningham Dance Company.

    Für eines der erfolgreichsten Stücke "Rainforest" installierte Andy Warhol 1968 silberne, kissenförmige Luftballons - "Silver Clouds". David Tudor komponierte die Musik - elektronische Klangwolken und -gewitter.

    Neben der Popart spielte auch die Performancekunst eine große Rolle - Cunningham verließ das Theater und inszenierte für Plätze oder Bahnhofshallen. Cunninghams Lust an der Erkundung neuer künstlerischer Terrains erschöpfte sich nicht in der Auseinandersetzung mit Klangexperimenten und bildender Kunst. Die Möglichkeiten von Film und Video entdeckte er seit Ende der 50er-Jahre als einer der ersten Choreographen überhaupt. Ab Mitte der 70er-Jahre entstanden Videos und "Filmtänze" - Choreographien für den Film.

    Ende der 80er-Jahre trieb Merce Cunningham seine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von realer und virtueller Bewegung weiter. Mit Softwareentwicklern schuf er das erste Choreographieprogramm für Computer. Seit 1991 nutzt er es für jedes neue Werk. Jüngst soll der Choreograph ein Notebook angeschafft haben, um auch auf Reisen digital zu choreographieren. Auch mit 90 Jahren wird Merce Cunningham weiter Tanz auf der Höhe der Zeit schaffen und vielleicht der Zeit noch immer einen Schritt voraus sein.