Archiv


Seitenwechsel. Die Geschichte eines schwulen Familienvaters

"Seitenwechsel" ist die gelinde gesagt widersprüchliche Geschichte eines Mannes, dessen Lebensweg Debatten herausfordern kann, gleichgültig, ob oder wie fremd dieser Weg einem ist. Der Autor, der unter dem Pseudonym Bastian Brisch schreibt, ist 1985 43 Jahre alt; er ist verheiratet und hat zwei Kinder von acht und zehn Jahren; er lebt in einer Kleinstadt und arbeitet im kirchlichen Bereich. Und dann erzählt er seiner Frau, er habe "schwule Anteile" in sich.

Sabine Peters |
    Eine der zahlreichen "Coming-out"-Geschichten? Eines dieser Bücher, die durch die Nacht des Verdrängens, der Scham und des Sich-Versteckens zum Licht des Bei-sich-Seins führen? Der Autor möchte es wohl so. Nur, sein Text teilt dem Leser noch anderes mit, und er wirft Fragen auf, die nicht allein für Schwule und ihre Familien interessant sind. Beim "Seitenwechsel", soviel vorweg, handelt es sich weder um einen literarischen Text noch um ein Sachbuch; dies hier ist eins der Bücher, die durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte versuchen wollen, als ermutigende "Lebenshilfe" zu wirken.

    Die Rezensentin mißtraut solchen Versuchen, und trotzdem ist der "Seitenwechsel" diskussionswürdig, denn es geht hier einmal mehr um Möglichkeiten und Grenzen der Selbstentwicklung. Oder so: Welche gesellschaftlichen Grenzen behindern die Entwicklung der Person, und wo liegen die je eigenen Schranken, die man nicht öffnen kann oder will. Bastian Brisch "ringt" buchstäblich um seine Identität und Integrität, mit allem, was bei dieser Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umgebung wohl unvermeidbar an Verdrehungen und Verdrängungen verbunden ist. Es war doch alles so schön harmonisch: Brisch lebte in einer Traumfamilie, die traditionellen und christlichen Werten anhing. Klare Rollentrennung zwischen Mann und Frau. Tanzkurse, bei denen das Paar eine Silbermedaille errang. Gemeinsame Gottesdienstbesuche, Nachtgebete mit den Kindern, sonntägliche Ausflüge und - die respektlose Rezensentin verfiel in nervöses Kichern - im Anschluß an solche Ausflüge mochte die Familie nicht in verrauchte Lokale einkehren, man stärkte sich im Auto mit Keksen, Tee und Kaffee.

    Und in dieser Idylle wächst die Ahnung, schwul zu sein; und es wächst auch der Mut, das nicht zu verheimlichen. Nur: Bastian Brisch will den viereckigen Kreis. Er möchte niemanden verletzen und nichts verlieren; er will eine Unschuld bewahren, die es in keinem erwachsenen Leben gibt, völlig unabhängig davon, ob man homo-oder heterosexuell ist. Der "Seitenwechsel" artikuliert die Schwerarbeit, anzuerkennen, daß jedes Handeln Folgen hat, so oder so. Der Erzähler begreift zunächst nicht, daß sein kleinbürgerliches Leben hierzuland nicht mit offen gelebtem Schwulsein zu vereinbaren ist. Er rechnet auch nicht damit, daß sein Arbeitgeber, die Kirche, Konsequenzen zieht und ihn, christliche Nächstenliebe hin oder her, schleunigst versetzt. Auch die Ehefrau, die zuerst aufgeschlossen auf seine Nachricht reagierte, will in ihrem Wunsch, die Ehe zu retten, teilweise nicht wahrhaben, was los ist; so meint sie u.a., Zitat "Die paar Jahre, wo die Sexualität bei dir noch eine Rolle spielt, die kriegen wir schon rum." Bei allem Händeringen über solch eine Reaktion, oder über die von Freunden und Vorgesetzten verblüfft einen vor allem die Blauäugigkeit des Erzählers und seine aussichtslosen Versuche, seine Idylle beisammenzuhalten bzw seine Mitverantwortung für die Familie wie im früheren Maß zu tragen.

    Immer wieder will der Autor konträre Werte und Lebensweisen unter einen Hut zu bringen. Es hilft nichts. Brisch entwickelt sich in bestimmten Grenzen. Er trennt sich von der Familie, zieht in eine größere Stadt, findet neue Freunde und Geliebte. Eine Zeitlang sucht er das, was er vorsichtig "flüchtige Begegnungen an wenig einladenden Orten" nennt, dann wieder hat er die Sehnsucht, Zitat, "mit einem lieben Menschen Tisch und Bett teilen zu können". Er ist aufgeschlossener geworden, aber auf das Pseudonym mochte er leider noch nicht verzichten. Das sagt aber nicht nur etwas über ihn, sondern auch über die Gesellschaft aus: Es mag ja sein, daß die Werbung inzwischen vielfach auf die Zielgruppe junger dynamischer erfolgreicher Homosexueller hin zugeschnitten ist, daß in den Großstädten alles leichter ist, aber die Mehrheit der Bevölkerung lebt eben nach wie vor nicht in Berlin, Hamburg, München. Gerade weil es während der Lektüre von Brischs Buch so leicht ist, über manches kleinbürgerlich und halbherzig Gebliebene zu spotten, verdient das Buch aber auch eine Verteidigung und einen gewissen Respekt, denn es führt einem deutlich vor Augen: Der Weg zur Identität verläuft nicht sprunghaft, sondern in teilweise äußerst schmerzhaften Prozessen, d.h, Identität ist niemals abgeschlossen und fertig. Und: Mindestens so spießig wie manche Äußerungen des Autors sind die seiner heterosexuellen Angehörigen und Bekannten.

    Brisch hat seine Entdeckung in einem Alter gemacht, in dem man mehr oder weniger seinen Platz in der Welt gefunden hat - und er verliert ihn. Eine große Mühsal ist die Anerkennung dieser Tatsache, in immer neuen Wendungen versucht der Text, den Verlust zu ummänteln. Aber daneben beschreibt der Erzähler eben auch, was es wert ist, relativ offen leben zu können. Darüber hinaus diskutiert er gängige Klischees dessen, was als schwul gilt, erklärt, was gegen die Bezeichnung "homosexuell" spricht und beschreibt das sehr ambivalente Verhältnis der christlichen Kirchen zur schwulen Bewegung. Im übrigen gibt es im "Seitenwechsel" ein kluges Nachwort von Rainer Jarchow, das den Text seinerseits befragt und auf diese Weise öffnet. Weitere Informationen unter: http://www.maennerschwarm.de