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Selbstauflösung einer Kanzlerin

Bei der Bundestagswahl im September wird sich zeigen, ob Angela Merkel für ihren Krisenkurs vom Wähler ein Lob oder eine Ohrfeige bekommt. Auf dem Büchermarkt ist schon jetzt Bewegung zu bemerken: Merkel-Biografien, Merkel-Bücher, Merkel-Bewertungen haben Hochkonjunktur. Ein Buch sticht dabei besonders hervor: Es ist der Band von Dirk Kurbjuweit, dem Leiter des Spiegel-Büros in der Hauptstadt.

Von Stefan Braun | 02.03.2009
    Der 46-jährige hat Merkel erst als Reporter, dann als Leiter eines der wichtigsten Korrespondentenbüros in Berlin begleitet. Er ist mit ihr gereist, hat mehrfach mit ihr gesprochen, hat über die Größe und die Bedeutung des "Spiegel" ohnehin besondere Möglichkeiten des Zugangs. Und herausgekommen ist ein Buch, das sich lohnt zu lesen.

    Kurbjuweit hat keine Biografie geschrieben. Er möchte - manchmal etwas schulmeisterlich, manchmal großartig - die bisher dreieinhalb Jahre Kanzlerschaft in den großen politischen Zusammenhang stellen und bewerten. Letzteres tut er mit Leidenschaft, und sein Urteil ist auf den ersten Blick eindeutig: Er ist sehr unzufrieden darüber, wie Merkel regiert hat. Sein Resümee ganz am Ende:

    Sie hat nicht gezeigt, dass sie einen großen Kampf führen kann, führen will. Sie hat sich oft versteckt, sie hat es nie riskiert, unbeliebt zu werden. Sie wollte durchkommen, sich eine zweite Kanzlerschaft sichern. Dabei hat sie die Führung ihrer Großen Koalition unterlassen. Das ist eine große Enttäuschung. Fürs Überleben im Amt wird man nicht gewählt, sondern fürs Machen.
    Kurbjuweit hat sein Buch in drei Teile geteilt, im ersten schildert er, wie Merkel sich in einer Welt der Medien und der immerwährenden Beschleunigung organisiert und präsentiert hat, im zweiten Teil fragt er sich, was aus der in der Opposition noch so reformfreudigen Merkel als Kanzlerin wurde, und im dritten Teil lenkt er den Blick auf die beiden großen Bewährungsproben ihrer Amtszeit, den Georgien-Krieg und die Weltfinanzkrise.

    Kurbjuweit unternimmt dabei den hin und wieder eitlen, oft aber auch erfolgreichen Versuch, erst die großen Rahmenbedingungen zu schildern, in denen sich die Kanzlerin und ihre Große Koalition bewegt haben - um dann Merkels Regierungsstil, ihren Mut, ihre Versäumnisse zu beschreiben.

    So bekommt der Leser viel für sein Geld, nicht nur ein Buch über Merkel, sondern auch eines über die wichtigsten politischen Entwicklungen der letzten Jahre. Über die wachsende Macht von Umfragen, über die Hysterisierung in den Medien, über die schwierigen Verhältnisse in dieser Großen Koalition, über die extrem schwierigen Bedingungen seit Ausbruch der weltweiten Wirtschaftskrise.

    Und dazu bekommt der Leser sehr klare Urteile über Merkel, immer wieder. Für Kurbjuweit ist die Kanzlerin die Perfektionierung des Politiker-Typus, 150-prozentig auf Politik konzentriert, medien-durchgestylt, immer auf Ausgleich und noch mehr auf Machterhalt bedacht. Das klingt nicht angenehm in seinen Worten:

    Angela Merkel ist das, was die Politikverdrossenen genau nicht wollen, eine klassische Politikerin, die in einer reinen Politikwelt lebt, aber sie ist übrig, ihr Prinzip hat sich durchgesetzt. Sie hat sogar klassische Politik weiter zugespitzt, weiter ausgefeilt, entschlackt und reduziert, bis nur noch eines übrig ist: totale Politik.
    Nicht minder scharf geht Kurbjuweit mit der Kanzlerin ins Gericht, wenn es um ihre Reformbereitschaft und ihren Willen geht, das Land zu prägen, ihm also eine Richtung zu geben.

    Hier wählt er am Ende ein besonderes Wort: Er spricht von der Selbstauflösung. Er ist enttäuscht und lässt das auch alle spüren:

    Angela Merkel hat sich als Kanzlerin zur Sozialdemokratin gewandelt, zur Zuckerbäckerin. Aus Angst vor Lafontaine. Aus Angst vor der SPD. Aus Angst vor der Stimmung im Volk. Das ist die traurigste Erkenntnis ihrer ersten Amtszeit. Sie hat, dabei bleibt es, als Reformpolitikerin ihre Kontur verloren. Sie hat sich aufgelöst.
    Ein Vorwurf, den Kurbjuweit beim Blick auf Merkels Umgang mit der großen Wirtschaftskrise, noch einmal wiederholt. Erneut hat sie ihm zu wenig eigene Linie gezeigt, hat nicht in offener mutiger Rede den Menschen erklärt, wie sie die Krise sieht, wie sie sich einen Weg hindurch und hinaus aus der Krise vorstellt. Und so könnte dieses Buch wie eine einzige große Abrechnung mit Angela Merkel enden. Die Wucht seiner Kritik lässt das ohnehin so erscheinen.

    Doch das hat sich Kurbjuweit nicht getraut. Und das ist gut so. Denn Kurbjuweit ist zwar einerseits ein harter Kritiker, aber er ist andererseits eben auch ein sensibler Beobachter. Er unterschlägt nicht die Zwischentöne, er hat sie mehr als einmal im persönlichen Gespräch erlebt, dort, wo die Kameras und Mikrofone aus sind, wo Merkel oft ganz anders auftritt, wo sie witzig, schlagfertig und manchmal sogar fest entschlossen sein kann. Das führt dazu, dass Kurbjuweit seine Kritik immer wieder durchbricht, zum Beispiel wenn er eine kleine Gesprächsrunde mit Merkel schildert:

    Sie ist meistens gut in solchen Situationen. Sie redet schnörkellos, präzise, sie ist drin in den Themen, die anstehen. Manchmal würzt sie ihre Rede mit einer dieser boshaft-witzigen Bemerkungen, die typisch für sie sind. Als es um die Erwartungen der Russen geht, dass die Finanzkrise die eigene Rolle in der Welt stärken könne, sagt sie: "Die russische Börse wird die Rolle der Wall Street nicht unmittelbar übernehmen können." Heiterkeit ringsum. Bei witzigen Bemerkungen der Bundeskanzlerin wird schon aus Höflichkeit gelacht, aber diese war so schlecht wirklich nicht.
    Kurbjuweit hat ein gutes, entschlossenes, sehr lesenswertes Buch über Angela Merkel geschrieben. Sicher, man kann manches anders sehen als er, man muss kritisieren, dass er Merkels Reformen in der Integrations- und Familienpolitik fast ganz unterschlägt. Außerdem schnurrt und summt der
    Regierungsapparat bei ihm allzu häufig. Und seine Versuche, immer wieder ein plötzlich sehr persönliches Ich einzuflechten, stören sehr und bringen als Bekenntnis wenig.

    Aber sieht man davon ab, dann ist das Buch sehr gut geworden. Und das auch, weil Kurbjuweit bei aller Entschlossenheit zeigt, dass er nicht ohne Selbstzweifel auskommt. Das macht einen guten Journalisten aus, davon gibt es leider nicht mehr allzu viele in der Hauptstadt.

    Stefan Braun empfiehlt Dirk Kurbjuweit: Angela Merkel - Die Kanzlerin für alle? Erschienen ist das Buch im Hanser Verlag, 160 Seiten ist es dick und es kostet Euro 16,90. Ab übermorgen finden Sie es beim Buchhändler Ihres Vertrauens.