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Selbstbespiegelung

Ich appelliere an deine Vernunft heißt es oft bei Eltern und anderen Erziehern, wenn ihr Zögling etwas angestellt hat. Aber dem Nachwuchs liegt vernünftiges Handeln nicht immer am Herzen, hat es doch sein besonderen Reiz wider die Vernunft. Vernunft ist eben nicht gleich Vernunft. Welche Ambitionen verfolgen die Geisteswissenschaften und ihre Vernunft? Wie entstand sie und wohin wird sie führen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt einer Tagung an der Freien Universität Berlin.

Von Bettina Mittelstraß | 14.02.2008
    Im 18. Jahrhundert, der Zeit der Aufklärung, liegen die Wurzeln neuzeitlichen rationalen Denkens. Der damals entwickelte Vernunftbegriff prägte die modernen Wissenschaften. Aber was für eine Vernunft bestimmt die Methoden der Geisteswissenschaften? Wer sich dieser Frage widmet, der weiß bereits, dass es in den rund zweitausend Jahren europäischer Geistesgeschichte mehr als nur eine Vernunft gibt, über die Philosophen nachdenken.

    "Es gibt schon bei Aristoteles, auch in der Spätantike und im Mittelalter eine sehr differenzierte Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen des Wissens und Vernunft. Aristoteles sagt nun in der nikomachischen Ethik, dass die praktische Vernunft es eben mit dem Einzelnen zu tun habe, nicht mit abstrakten, allgemeinen Begriffen, sondern mit Einzeldingen, mit Einzelsituationen, mit dem einzelnen Handeln insbesondere.

    Das praktische Element ist, dass es um etwas geht, was einen Vorteil für den Betrachter bzw. das jeweilige Subjekt bringt. Und da unsere Lebensweise darauf angewiesen ist, beständig Vorteile auszunutzen um weiterexistieren zu können, ist das das sozusagen Zentrierende in der Praxis. "

    Thomas Buchheim, Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians Universität München. Praktisch vernünftig ist es, das eigene Handeln, Wissen, Fühlen und Denken der Menschen in einer Situation und Umwelt mit in die Überlegungen einbeziehen. Theoretische Vernunft arbeitet hingegen mit allgemeinen Gegenständen, Begriffen, logischer Beweisführung, mit Ableitung und Kausalität. Was so unterschiedlich klingt, ist zu Aristoteles Zeiten bis ins Mittelalter hinein keineswegs streng methodisch voneinander getrennt., so Gyburg Radke, Professorin für griechische Philologie an der Freien Universität Berlin:

    "Es gibt einen unmittelbaren, methodischen Zusammenhang zwischen der theoretischen Vernunft und der praktischen Vernunft. Die praktische Vernunft hat es natürlich bei Aristoteles tatsächlich mit dem Einzelnen zu tun, aber nicht als Gegenbewegung gegen die Beschäftigung mit Begriffen, sondern als eine Anwendung dessen. "

    Theorie und Praxis bleiben lange aufeinander bezogen. Erst die Moderne spitzt die Unterscheidung zu. Der Philosoph Martin Heidegger greift 1923 in einer Vorlesung den aristotelischen Begriff der praktischen Klugheit - auf Altgriechisch "Phronesis" - als Gegenbegriff auf. Sein Schüler Hans Georg Gadamer, prominenter deutscher Philosoph des 20. Jahrhunderts, erklärt schließlich die praktische Klugheit zur der methodischen Tugend der Geisteswissenschaften. Literatur- oder Kunstwissenschaft müssten anders arbeiten als mit allgemein gültigen Beweisführungen. Damit wendete man sich gegen den Vernunftbegriff der Aufklärung. Gyburg Radke, Professorin für griechische Philologie an der Freien Universität Berlin:

    "Und zwar ist .. es .. so, dass Gadamer .. einstimmt in die Kritik, die die Moderne an dieser Vernunft der Aufklärung übt. Nämlich, dass diese Vernunft distanziert sei, kühl, abstrakt, leer, also alles das, was die schöngeistigen Produkte der Geisteswissenschaften ausmacht, nicht umfassen könne. Man sucht nach etwas, was diese Ganzheitlichkeit, den Geschmack, das Gefühl, die Empfindungen, eben alles das, was über die bloße abstrakte distanzierte Vernunft hinausgeht, in einen Begriff zu fassen. Und da hat sich für Gadamer eben dieses aristotelische Konzept der Phronesis angeboten."

    Anders als Philosophie oder Theologie beschäftigt sich Kunst- oder Literaturwissenschaft mit einzelnen, wahrnehmbaren Gegenständen. Und zuviel Theorie ist da hinderlich. Peter-André Alt, Professor für Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin: 14

    "Die Kunstdebatte der letzten 20 Jahre - sei es im Felde der Literaturwissenschaft oder auch der Auseinandersetzung mit Film und Malerei, ist ja sehr stark von theoretischen Ansprüchen geprägt, und diese theoretischen Ansprüche sind vielfach auch immer wieder in den letzten Jahren kritisiert worden. Weil sie das, was letzten Endes alle Interpretation will, nämlich die Möglichkeiten des Verstehens herzustellen, häufig nicht befördert. Das liegt daran, dass sich Kunstwerke theoretischen Systemansprüchen entziehen. Und insofern ist die Besinnung auf die Möglichkeiten einer praktischen Vernunft, die vor allen Dingen eine Technik sein will, die ihren Gegenständen angemessen ist, etwas sehr Nützliches auch für die hermeneutischen, also auf Verstehen angewiesenen Geisteswissenschaften."

    Was unmittelbar einleuchtet, erscheint aus anderer Sicht problematisch. Wer sich darauf versteift, methodisch so ganz anders zu arbeiten als andere Wissenschaften, stellt sich ins Abseits. Gyburg Radke.

    "Das ist nun sehr interessant, dass diese Emanzipationsbewegung der Geisteswissenschaften mit dem Begriff dieser anschaulichen, konkreten Vernunft, der Phronesis eben, dass diese Emanzipationsbewegung sehr viel mit der Krise der heutigen Geisteswissenschaften zu tun hat. Also viele Aspekte einer sehr starken Formalisierung und einer Isolierung auch zum Teil aus anderen Diskursen hat mit diesem Bestreben zu tun, etwas ganz Eigentümliches, was anders ist als abstrakte Vernunft auch der Naturwissenschaften zu entwickeln.

    Dabei ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur oder Kunst nicht theoretisch unvernünftig, nur weil sie sich mit einzelnen Gegenständen beschäftigt. Peter-André Alt:

    Die Literaturwissenschaft ist nicht irrational, sie hat es allerdings mit Gegenständen zu tun, die sich der rationalen Erkenntnis bekanntlich verschließen. Die literaturwissenschaftliche Praxis hat insofern immer das Problem, dass sie den Anspruch verfolgt, etwas zu verstehen und dieses mit wissenschaftlichen Mitteln tun möchte und muss. Sie unterscheidet sich eben von der Lektüre des passionierten Lesers oder der leidenschaftlichen Leserin dadurch, dass sie ihr Verstehen nach den Regeln eines wissenschaftlichen Urteils organisiert. Das verpflichtet sie dazu, Kategorien zu benutzen, die sie erklärt, ihre Vorannahmen zu erläutern, aber das setzt sie zugleich auch in den Stand, Verstehen nicht auf Intuition zu gründen sondern auf die Erfahrung eines wissenschaftlichen Urteils. "

    Vernünftig ist also, was nicht einseitig bleibt - ? Thomas Buchheim:

    "Die Formen des Vernünftigen sind natürlich unterschiedlich, aber man sollte daran festhalten, dass sie alle irgendwie ineinander übersetzbar sind und sich füreinander verständlich machen müssen. Eine Form, die das nicht mehr bereit ist zu tun, die geht sozusagen aus dem Chor der Stimmen heraus. "