Archiv

Selbsterfüllende Prophezeiung
Erwartungen bestimmen, wie sehr etwas schmerzt

Wenn unsere Erwartungen nicht mit dem übereinstimmen, was wir erleben, dann passen wir unsere Erwartungen für die Zukunft an. Beim Schmerzempfinden ist es genau umgekehrt. Um herauszufinden, warum das so ist, mussten 34 Probanden einiges an Schmerzen erleiden - und nicht alle konnten sie vorhersehen.

Von Anneke Meyer |
Flammen brennen auf menschlicher Hand
Wenn man Schmerz erwartet, ist dieser oft schlimmer als ein überraschender Schmerz (imago/Mike Moran)
Ein harter Stoß, ein tiefer Stich – Aua! Das hat wirklich wehgetan. Wirklich? Tatsächlich fällt es uns erstaunlich schwer zu sagen, wie stark ein Schmerz ist. Ob Stoß oder Stich, es schmerzt immer so sehr, wie wir es erwarten. Erklärt Marieke Jepma, Wissenschaftlerin an der Universität Amsterdam.
"Je mehr Schmerzen man erwartet, desto mehr tut es weh. Umgekehrt gilt das genauso: Denkt man, es wird nicht so schlimm, fühlt es sich auch nicht so schmerzhaft an. Die Erwartung beeinflusst die Wahrnehmung. Und hat eine Erwartung sich erst einmal gebildet, kann sie sehr beständig sein."
Die guten Seiten des Placebo-Effekts
Ein Phänomen, das seine guten Seiten im Placebo-Effekt zeigt: Solange man glaubt, es hilft, können auch Zuckerpillen Schmerzen stillen. Umgekehrt gilt leider auch: Bringen Medikamente keine Linderung, können Schmerzen chronisch werden. Die Macht der Erwartung über die Wahrnehmung ist dabei durchaus überraschend, denn normalerweise ist es genau umgekehrt.
"Wenn das, was man erwartet, mit dem, was man erlebt, nicht übereinstimmt, wird die Erwartungshaltung für die Zukunft angepasst. So funktioniert Lernen. Wenn es um Schmerzen geht, scheint das aber nicht immer so abzulaufen."
Wie kommt der starke Einfluss der Erwartungshaltung auf die Schmerzwahrnehmung zustande? Wird das Lernvermögen einfach außer Kraft gesetzt? Um diese Frage zu beantworten, testeten Marieke Jepma, damals noch als PostDoc an der Universität Boulder, Colorado, gemeinsam mit Kollegen 34 Versuchspersonen.
"Zuerst haben wir den Versuchspersonen eine Schmerzerwartung antrainiert. Wir haben ihnen ein bestimmtes Symbol gezeigt, zum Beispiel ein Quadrat, und danach wurde immer ein leichter Schmerz durch einen Temperaturreiz verursacht.
Auf ein anders Symbol, etwa ein Kreis, folgte immer ein deutlich stärkerer Schmerzstimulus durch Hitze. Wir haben das mehrfach wiederholt, und nach einer Weile fingen die Leute an, stärkere Schmerzen zu erwarten, wenn sie den Kreis sahen und nicht so starke Schmerzen beim Quadrat."
Wahrnehmungen, die den Erwartungen widersprechen, werden ignoriert
Nachdem die Versuchspersonen gelernt hatten, welches Symbol jeweils mit wie viel Schmerz verbunden war, führten die Forscher sie aufs Glatteis. In der zweiten Testphase gab es keinen Zusammenhang mehr zwischen Symbol und Schmerzintensität. Auf einen "schmerzhaften Kreis" konnte jetzt ein starker oder auch ein schwacher Hitzestimulus folgen. Die Probanden bemerkten die Veränderung nicht oder genauer: nur teilweise
"Wir haben die Daten im Detail analysiert und gesehen: Immer wenn auf ein Symbol, das mit starken Schmerzen assoziiert ist, nur ein leichter Schmerz folgt, bleibt das unbemerkt. Wird aber ein intensiver Reiz erwartet und dann folgt ein noch stärkerer Schmerz, wird die Erwartungshaltung nach oben angepasst. Das Gegenteil tritt bei Symbolen ein, die mit schwachen Schmerzen in Verbindung gebracht werden. Das bedeutet, Wahrnehmungen, die die ursprüngliche Erwartung bestätigen, lösen einen Lernprozess aus. Wahrnehmungen, die der Erwartung widersprechen, werden ignoriert."
Ein relevanter Befund
Egal wie schlimm er tatsächlich ist, der Schmerz entspricht immer dem, was erwartet wird. Diese Wahrnehmung spiegelte sich nicht nur in der Selbsteinschätzung der Probanden wieder, sondern auch in ihrer Hirnaktivität, wie Messungen mit funktioneller Bildgebung zeigten. Der Lernprozess wird durch den starken Einfluss der Schmerzerwartung so einseitig verzerrt, dass es zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung kommt. Ein Befund, der durchaus relevant über die Schmerz-Wahrnehmung hinaus sein könnte, meint Marieke Jepma:
"Ich denke, das ist ein universaler Mechanismus. Wir haben gezeigt, dass es ihn bei der Schmerzwahrnehmung gibt, aber ich denke, dasselbe passiert überall in unserem Leben."