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Selbstinszenierung in Stahlgewittern

Ernst Jünger zählt zu den umstrittensten deutschen Literaten. Keines seiner Werke hat für mehr Kontroversen gesorgt als das aus seinen Kriegstagebüchern entstandene "In Stahlgewittern". Nun liegt eine historisch-kritische Ausgabe vor.

Von Paul Stänner | 07.10.2013
    "Ernst Jünger hat die ‚Stahlgewitter‘ als ein Buch geschrieben, mit dem er seinen gefallenen Kameraden ein Denkmal setzen wollte, das ist das eine und sozusagen auch etwas deklamatorische Ziel ..."

    Und so klingt die Deklamation im Vorwort der Erstausgabe 1920:

    "Das war der deutsche Infanterist im Kriege. Gleichviel wofür er kämpfte, sein Kampf war übermenschlich. Die Söhne waren über ihr Volk hinausgewachsen. Mit bitterem Lächeln lasen sie das triviale Zeitungsgewäsch, die ausgelaugten Worte von Helden und Heldentod. Sie wollten nicht diesen Dank, sie wollten Verständnis."

    Es war und ist noch immer ein umstrittenes Buch - Ernst Jüngers "In Stahlgewittern". 1920 erschien die Erstausgabe, da war der Autor noch Angehöriger der Reichswehr. Dreieinviertel Jahre lang war Jünger im Fronteinsatz gewesen, mehrfach verwundet, hoch dekoriert. Seinen gefallenen Kameraden wollte er ein Denkmal setzen - das war wie bereits erwähnt ein Motiv. Ein anderes: Sein Vater, der um die seelische Stabilität seines ältesten Sohnes fürchtete, hatte ihm therapeutisch nahegelegt, die reichhaltigen Kriegstagebücher zu einer geschlossenen Darstellung umzuarbeiten. Dann noch ein drittes Motiv, so wie es der Herausgeber Helmuth Kiesel versteht:

    "Dann hat er aber versucht - zu Recht - sich als Kriegsteilnehmer zu schildern, der diesen Krieg auf eine - man kann so sagen, muss es so sagen - heldenhafte Weise überstanden hat und durchgefochten hat."

    Nun liegt dieses dreifach motivierte Werk auf dem Tisch. Zwei schwere Kaliber, möchte man sagen, um im Thema zu bleiben. Der erste Band sammelt die unterschiedlichen Ausgaben, in denen die "Stahlgewitter" von 1920 bis 1978 herausgekommen sind. Dann gibt es noch einen nicht weniger voluminösen Kommentarband mit biografischem und editorischem Zusatzmaterial wie dem Vergleich der unbearbeiteten Tagebücher mit dem Buchtext, dazu die Rezeptionsgeschichte und ein akribisches Variantenverzeichnis, in dem die zahllosen Abweichungen und Veränderungen aufgelistet sind.

    Zurück zum Textband, der die sieben verschiedenen Fassungen mit einem komplexen, aber leicht zu durchschauenden typografischen Unterscheidungssystem nebeneinanderstellt und es möglich macht, die Historizität von Jüngers Bearbeitungen zu verstehen, zum Beispiel seine Bemühungen, die eigenen Erlebnisse so zu gewichten, dass sie dem Selbstbild des Autors entsprechen. 1920 schildert Jünger die Flucht aus einem Granatenangriff, bei dem er verwundet wurde, so:

    "Ich will offen gestehen, dass mich meine Nerven restlos im Stich ließen. Rücksichtslos rannte ich alles über den Haufen. Ich bin kein Freund des Euphemismus: Nervenzusammenbruch. Ich hatte ganz einfach Angst, blasse, sinnlose Angst. Ich habe später noch oft kopfschüttelnd an jene Momente zurückgedacht."

    Und sich dann vier Jahre später in der Neuauflage entschlossen, den Vorfall anders zu beschreiben:

    "Meine Besinnung ließ mich völlig im Stich. Rücksichtslos rannte ich alles über den Haufen. Ich raste wie ein durchgehendes Pferd durch dichtes Unterholz..."

    Und so weiter: Der Nervenzusammenbruch ist gestrichen, von Angst ist nicht mehr die Rede, dafür wird ein dramatischer Vergleich eingeführt: der Soldaten-Autor als durchgehendes Pferd.

    Helmuth Kiesel, Heidelberger Germanist, der bereits eine Biografie zu Ernst Jünger vorgelegt und seine Kriegstagebücher, also die Stoffsammlung zu "In Stahlgewittern", editiert hat, sagt, dass Ernst Jünger in der ersten Be- und Verarbeitungsschicht versucht hat, in klarer und präziser Weise Auskunft zu geben über die Ereignisse.

    "Dann kommt die Metaphorisierung hinzu, man weiß aus der Beobachtung, aus der Untersuchung der Spätfassungen, dass die Metaphorisierung im Lauf der Jahre, der Fassungen immer intensiver wurde, also sprunghaft anstieg."

    Und bei der Gelegenheit auch Jüngers Selbstinszenierung als distanzierter Beobachter, der seine Observationen mit leidenschaftsloser, wissenschaftlich anmutender Unberührtheit protokolliert.

    "Blutige Zeug- und Fleischfetzen hingen rings um den Einschlag an den Gebüschen - ein sonderbarer, beklemmender Anblick, der mich an den rotrückigen Würger denken ließ, der seine Beute auf Dornensträucher spießt."

    So steht es in den Fassungen 1924 bis 1978 - in der Erstfassung von 1920 ist diese zurückgenommene Haltung noch nicht zu lesen. Helmuth Kiesel nennt ein anderes Beispiel:

    "Ein Flieger stürzt nieder auf die am Boden liegende Besatzung eines Grabens wie ein Geier, in einer weiteren Fassung wie ein Aasgeier, in einer weiteren Fassung wieder wie ein Geier. Da sieht man den Versuch, diesen Eindruck deutlich zu machen und jetzt ist interessant der Wechsel von Geier zu Aasgeier und wieder zurück, weil damit ja auch damit etwas verbunden ist, was Auskunft gibt über diejenigen, die davon betroffen sind, ob die sich gewissermaßen schon als Aas fühlen, die von einem Aasgeier heimgesucht werden - oder ob die sich noch als Opfer fühlen, die von einem Geier, von einem Adler gewissermaßen heimgesucht werden."

    Dass aus einem Geier ein Adler wird, ist wohl eher interpretatorischem Überschwang zu schulden, deutlich wird aber in den jeweiligen Fassungen, wie Jünger versucht, sein Werk einerseits den wechselnden Zeitumständen anzupassen, andererseits die Grundlinie seiner Absichten beizubehalten. Und sicherlich hat Herausgeber Kiesel recht, wenn er sagt:

    "Es ist, glaube ich für unser politisches Bewusstsein, für unser historisches Bewusstsein durchaus von einem Interesse, über diese Zeit und deren Wirkung und Aufarbeitungs- oder Bewältigungsmöglichkeit in den folgenden Jahrzehnten Auskunft zu bekommen. Dafür sind die "Stahlgewitter" eine unvergleichlich gute Basis."

    Wenn im kommenden Jahr am 100. Jahrestag an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erinnert wird, wird man sicher zu den beiden Bänden greifen, die Helmuth Kiesel aufwendig erarbeitet hat. Ob einem der Autor Ernst Jünger aber sympathischer wird: Noch immer erscheint er als elitärer Kämpfer-Literat, der von Krieg durchaus romantisch schwärmen kann. Bis in die letzte Fassung hinein bleibt er jemand, der den Krieg als Naturgewalt der menschlichen Existenz und nicht als Versagen von Politik versteht. Da waren andere schon 1920 weiter.


    Helmut Kiesel (Hrsg.): Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe.
    Klett-Cotta-Verlag, 924 Seiten, 68 Euro, ISBN: 978-3608939460