Donnerstag, 28. März 2024

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Selbstmorde im Mai 1945
"Ein Akt der kollektiven Verzweiflung"

Am Ende des Zweiten Weltkriegs gab es innerhalb weniger Tage in Deutschland Tausende Selbstmorde. Schuldgefühle und die Angst vor Vergeltung durch die Siegermächte habe die Menschen dazu getrieben, sagte der Historiker Florian Huber im DLF. Er hat ein Buch über die Hintergründe der Verzweiflungstaten geschrieben.

Florian Huber im Gespräch mit Peter Kapern | 08.05.2015
    "Gebt mir fünf Jahre und ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen" steht in Deutsch und Englisch auf einem Schild vor einem Trümmerberg, ein Mann liest das Schild, schwarz-weiß-Aufnahme.
    Am Kriegsende standen die Menschen vor dem Nichts, sagt Florian Huber. (AFP)
    Für das Buch mit dem Titel "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt" hat Huber vor allem viele Tagebücher und private Erinnerungen ausgewertet. Er sieht die Ursache für die Selbstmorde in den extremen Gefühlslagen, in denen sich die Menschen im Dritten Reich befanden. "Das Reich befand sich emotional in einem permanenten Ausnahmezustand," so Huber. Die Erfolge in den 1930ern hätten zunächst eine große Euphorie ausgelöst. Die Stimmung sei von Hoffnung, einem Gefühl der Dazugehörigkeit und Stolz geprägt gewesen. Die Expansion in Europa habe dann zu Hochmut geführt, der Krieg habe die Bevölkerung in einen Rausch versetzt. Das habe die Leute enthemmt, meint Huber.
    Als dann jedoch der Gegenschlag kam, schlugen auch die Gefühle in Schuld, Scham und Verstrickung um. Die Menschen entwickelten einen Hass auf andere und sich selbst - gepaart mit der Angst vor Rache und Vergeltung führte das laut Huber zum Suizid.
    In allen Dokumenten, die er untersucht hat, habe er Hinweise darauf gefunden, dass die Menschen wussten oder ahnten, was angerichtet wurde im Deutschen Reich. Sie hatten deswegen Angst davor, was passieren könnte, wenn das Pendel zurückschlage.

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Da gibt es seit ein paar Wochen ein Buch in den Läden, dessen Titel genauso schockierend wie deprimierend klingt. Er lautet: "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt". Schockierend, weil man sich nicht ausmalen mag, welcher Vater oder welche Mutter dem eigenen Kind diesen Schwur abnehmen will, und deprimierend ist der Buchtitel, weil er darauf hinweist, dass Hunderte und Aberhunderte von Eltern genau dies getan haben. Sie haben damit beigetragen zu einer unfassbaren Selbstmordwelle, die zum Kriegsende vor 70 Jahren über Deutschland hinwegrollte. Niemand kennt genaue Zahlen, aber es waren insgesamt etliche tausend Menschen, die sich nicht vorstellen konnten, nach dem Krieg, nach dem Nationalsozialismus, nach dem Ende des Völkermordens noch weiter leben zu können. Der Historiker Florian Huber hat dieses Buch geschrieben, dessen Kristallisationspunkt der Ort Demmin bei Berlin ist. Allein dort haben sich 600, 900, vielleicht gar mehr als tausend Menschen am Ende des Krieges vor 70 Jahren das Leben genommen. Guten Tag, Herr Huber.
    Florian Huber: Guten Tag.
    Kapern: Herr Huber, können Sie das, was da in Demmin geschehen ist, auf einen Begriff bringen?
    Huber: Es war ein Akt der kollektiven Verzweiflung, der aber aus verschiedenen, vielen verschiedenen Gründen herrührt und der dann noch in Verbindung mit einem Ansteckungssog dazu geführt hat, dass sich hier hundert Menschen in wenigen Tagen umgebracht haben.
    Kapern: Was muss man sich da vorstellen unter einem Ansteckungssog?
    Huber: Sie müssen sich vorstellen, dass hier in dem Moment, wo die Rote Armee in Demmin einmarschiert, die Leute völlig kopflos, voller Angst getrieben, sich entweder gegenseitig aufstacheln, zum Teil buchstäblich in Familien zusammenbinden, in die Flüsse steigen, sich gegenseitig aufhängen. Ein Nachbar sieht das, was der andere tut, und vollzieht dies nach. Es war also eine Welle, eine regelrechte Epidemie, die da ausgebrochen ist und die dann innerhalb von drei bis vier Tagen mehrere hundert Leute mitgerissen hat.
    "Die Leute wussten, was im deutschen Namen angerichtet worden ist"
    Kapern: Das klingt, als seien die Menschen in einem Selbstmordrausch gewesen in diesem Ort. Was hat sich da in den Köpfen der Menschen abgespielt? Was muss in Köpfen geschehen sein, damit so etwas möglich wird?
    Huber: Da muss man gucken, was die Leute in den Jahren vorher so erlebt haben im Dritten Reich. Das war ja ein Reich im permanenten Ausnahmezustand, so würde ich das nennen, Ausnahmezustand vor allen Dingen, was die extremen Gefühlslagen der Menschen angeht. Es hat ja angefangen in den 30er-Jahren mit diesen Erfolgen, die der Nationalsozialismus den Menschen ja gebracht hat, und das hat die in immer neue Gefühlsspitzen getrieben, in Hoffnungen mit diesem Aufschwung. Dieses Glücksgefühl des Dazugehörens war ganz wichtig. Dann der Stolz, auch besonders zu sein, das wurde einem ja eingeredet. Dann diese großen Erfolge außenpolitisch, innenpolitisch, dieser Hochmut, der dann auch dazu kam, als man angefangen hat, tatsächlich halb Europa zu erobern. Und dann, weil Sie Rausch ansprechen: Der Krieg hat auch einen Rausch gebracht, nämlich den Rausch und die Wut des Zerstörens. Das hat die Leute im Prinzip völlig enthemmt. Dann kam aber im weiteren Verlauf des Krieges, als das Pendel zurückschlug, der Gegenschlag und diese Gefühle von Schuld und von Verstrickung und von Scham wurden immer stärker, und es gab auch einen Hass nicht nur auf die anderen, sondern auch auf sich selbst. Das gepaart mit der Angst vor der Rache und Vergeltung führte zu einem Sog, zu einer Ansteckung und zu einem kollektiven Suizid.
    Kapern: Schauen wir noch mal auf ein paar Aspekte dieser sehr komplexen Antwort, die Sie gerade gegeben haben. Sie sagten, es seien dann kurz vor dem Kriegsende auch Momente der Schuld, des Wissens um die Verstrickung und der Scham darüber erkennbar gewesen. Wie genau drückt sich das aus in den Dokumenten, die Sie gefunden haben?
    Huber: Ich habe in allen Dokumenten, die ich vorgefunden habe, Hinweise darauf bekommen, dass die Leute wussten, was im deutschen Namen angerichtet worden ist - vielleicht nicht jetzt bis in jedes Detail, aber das was im Osten Europas vorgefallen war, das ahnten die Leute, zum Teil durch die Frontberichte, sprich von Soldaten, die auf Urlaub waren, zum Teil hat das die Propaganda ja auch ganz öffentlich gemacht, und viele Leute waren tatsächlich auch selber Zeugen geworden. Zum Teil hatten die den sogenannten Osteinsatz, Arbeitseinsätze irgendwo im besetzten Polen, oder man musste ja im Prinzip gar nicht so weit gehen: Jeder hat doch gesehen, dass die Juden aus den Orten verschwanden. Das war sehr weit verbreitet und mehr und mehr hat sich da ein Gefühl der Verstrickung in dieses Wahnsinnssystem breit gemacht und daraus resultierend die Angst, um Gottes Willen, was passiert nur, wenn das Pendel zurückschlägt, wenn die Leute zu uns kommen, bei denen wir das alles angerichtet haben.
    "Ein Querschnitt der kleinstädtischen deutschen Bevölkerung"
    Kapern: Sie haben eben gesagt, in allen Dokumenten, die Sie gefunden haben, finden Sie einen Ausdruck des Bewusstseins über die eigene Schuld. Was für Dokumente genau waren das, die Sie ausgewertet haben?
    Huber: Ich habe sehr viele Tagebücher aus der Zeit ausgewertet, Tagebücher und Erinnerungen von Menschen, im Prinzip ganz normalen Menschen, die diese Zeiten beschreiben. Da finde ich tatsächlich in allen persönlichen Dokumenten auch neben den großen Begeisterungen, die man natürlich überall hat, und auch der Begeisterung für den Führer, die tatsächlich sehr ausgeprägt war - die Leute haben diesen Menschen tatsächlich geliebt -, ist immer bei allen auch dieser Schatten des Zweifels dabei: Oh, oh, kann das gut gehen bei alledem, was wir da anrichten, wir haben doch schon so viel Dreck am Stecken. Dieser Zwischentext, der schleicht sich bei allen irgendwann im Laufe der späten 30er-Jahre ein, spätestens übrigens 1938 ab der großen Pogromnacht.
    Kapern: Wie deckt sich das mit dem, was wir dann in der Nachkriegszeit erlebt haben, nämlich der großen Leugnung von Schuld, der Weigerung, sich überhaupt mit der Vergangenheit zu beschäftigen?
    Huber: Das ist doch im Prinzip die Folge daraus. Man wacht plötzlich auf im Mai 1945 und der Rausch ist vorbei. Und diese Alternative, die das Dritte Reich gestellt hatte, alles oder nichts, die war im Nichts geendet. Und wer wollte sich denn dann noch umdrehen und sich damit auseinandersetzen? Die allerwenigsten wollten das und deswegen ist für viele ganz zwingend der Schluss gewesen, wir müssen nach vorne schauen, lasst uns das begraben, tief im Innern begraben, möglichst nie wieder darüber sprechen. Das war ja die Antwort, die die Mehrheit der Deutschen dann darauf gefunden hat.
    Kapern: Ihr Buch trägt den Untertitel, Herr Huber, "Der Untergang der kleinen Leute 1945". War Selbstmord tatsächlich ein Phänomen, das auf die sogenannten kleinen Leute begrenzt war?
    Huber: Es war nicht auf die kleinen Leute begrenzt. Wir kennen ja die Selbstmorde der prominenten Nationalsozialisten, Hitler, Goebbels, Himmler sowieso, aber auch sehr viele hochrangige Wehrmachtsgeneräle haben sich umgebracht. Natürlich war es nicht beschränkt auf unbescholtene Bürger. Aber es galt auch nicht das Umgekehrte, sondern die Mehrzahl der Leute, die sich da umbringen, das folgt keinem erkennbaren Muster. Es ist im Prinzip ein Querschnitt der kleinstädtischen deutschen Bevölkerung, den ich da vorgefunden habe.
    Kapern: Sagt der Historiker Florian Huber. "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt", so heißt sein Buch, das im Berlin Verlag erschienen ist.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.