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Selbstverleugnung nach Gefängnis und Folter

Wenig weiß man über Ding Ling in Deutschland, über die wohl bedeutendste chinesische Schriftstellerin der Moderne. 1958 wurde sie wegen "Rechtsabweichung" aus der chinesischen KP ausgeschlossen, gut 20 Jahre später rehabilitiert. Gefängnis und Folter lösten bei ihr eine schwer verständliche Selbstverleugnung aus. Heute vor 20 Jahren starb Ding Ling in Peking.

Von Ariane Thomalla | 04.03.2006
    "Embracing the Lie" – die Lüge umarmend – lautet der Titel der jüngsten Biografie der Schriftstellerin Ding Ling aus der Feder des amerikanischen Sinologen Ch.J. Alber, der sich erschüttert zeigt über die "monumentale Selbstverleugnung" der großen alten Dame der chinesischen Literatur. 20 Jahre lang mit Schreibverbot belegt, verbannt, gefangen, gefoltert, habe sie nach ihrer Rückkehr nach Peking 1979 Sätze von sich gegeben wie:

    "Die meisten Schriftsteller sind heute rehabilitiert. Das ist ein Beweis dafür, dass die KP Chinas großartig ist."

    Und als Stellvertretende Vorsitzende des Schriftstellerverbands wieder eingesetzt, habe sie gleich an einer Kampagne gegen "geistige Verschmutzung" teilgenommen, die junge Kollegen traf, und sogar die "große proletarische Kulturrevolution" gelobt:

    "Ich fand diese Revolution sehr wichtig. Rotgardisten haben mich geprügelt. Ich sagte zu ihnen: Ihr seid sehr gut, ihr habt politische Fortschritte gemacht. Früher gab es keine klare Trennungslinie zwischen dem Volk und den rechten Elementen, aber jetzt könnt ihr dies alles unterscheiden. Manchmal wurde ich zur Anprangerung durch die Straßen geführt. Aber ich war nicht unzufrieden mit den jungen Leuten."

    "Ding hatte auf dem Staatgut mehrfach so genannte Kritik- und Kampf-Versammlungen über sich ergehen lassen müssen","

    stellte ihr Mann, Chen Ming, richtig:

    ""Sie wurde derart geschlagen, dass das Blut über das Gesicht floss, und mit Füßen getreten, dass man ihr die Hüftknochen angebrochen hatte und sie über einen halben Monat nicht aufstehen konnte."

    Ding Ling stammt aus einer verarmten Großgrundbesitzer-Familie, die typische Herkunft der intellektuellen Revolutionäre Chinas. 1904 als Jiang Bingzhi in der Provinz Hunan geboren, verlor sie mit vier Jahren den Vater, was den endgültigen Bankrott der Familie besiegelte. Ihre Mutter überlebte, indem sie sich radikal vom Familienclan absetzte, sie studierte, wurde Lehrerin, zuletzt sogar Schulrätin. Aber sie vernachlässigte die beiden Kinder, die Hunger und Not litten.

    Der jüngere Bruder starb. Jiang setzte sich mit 16 Jahren alleine ab nach Shanghai, wo sie in anarchistischen Kreisen verkehrte und ebenso radikal wie ihre Mutter alle Familienbande abbrach. So nannte sie sich von nun an Ding Ling. Sie schrieb sich ihre große Wut vom Leib mit Porträts junger Frauen, die ebenfalls das klassische chinesische Frauenschicksal hinter sich gelassen hatten. 1928 wurde sie über Nacht mit dem "Tagebuch der Sophia" berühmt, der Geschichte einer tuberkulosekranken sentimental zerrissenen aufmüpfigen jungen Frau, die sich am Ende zum Sterben zurückzieht.

    "Glücklicherweise geht mein Leben in dieser Welt ausschließlich mich etwas an. Und doch: Wem kann ich mein verrücktes Herz offenbaren!" So lautete der Tenor dieser unter westlichem Einfluss stehenden Bekenntnisliteratur.

    1930 trat Ding Ling mit ihrem ersten Mann, dem Dichter Hu Yepin, in die neugegründete "Liga linker Schriftsteller" ein, die mit Chinas konfuzianischer Literaturtradition brach. Hu Yepin wurde Kommunist und unter dem weißen Terror der Guomindang hingerichtet. Daraufhin trat Ding Ling selbst in die KP ein. Auch sie wurde von den Rechten entführt und konnte erst drei Jahre später entkommen. Sie schlug sich zum Hauptquartier der Roten Armee durch.

    Sie machte Agitprop-Theater an der Front, wurde Herausgeberin wichtiger Parteizeitungen und Zeitschriften und profilierte sich auch mit Erzählungen, Romanen und Essays als politische Aktivistin der Literatur. Mao schätzte sie und schob ihr hohe Posten zu. Er schützte sie, als sie den Chauvinismus der Parteibonzen anprangerte und mehr Freiheit für die Literatur einklagte. Als Stellvertretende Vorsitzende des Schriftstellerverbands war sie auch international unterwegs. Einer ihrer Romane über die Bodenreform, "Die Stunde über dem Sanggan", errang 1952 den Stalinpreis.

    Im August 1957 wurde sie jedoch plötzlich als so genanntes "Rechtes Element" etikettiert und zur "Umerziehung durch körperliche Arbeit" nach Nordchina verbannt. Zwölf Jahre arbeitete sie dort als Geflügelwärterin. Später setzten die "Rotgardler" sie jahrelang in Einzelhaft. Als sie 1979 rehabilitiert wurde, schrieb sie über einige Erfahrungen überraschend ungeschminkt. Doch insgesamt gilt für Ding Ling, die 1986 mit 82 Jahren starb, was der große alte Schriftsteller Mao Dun einmal sagte:

    "Menschen, die lange im Gefängnis eingesperrt waren, können, wenn sie plötzlich befreit werden, die Augen nicht öffnen."