Archiv


Selbstverständnis der roten Armee

In den 90er Jahren bekamen Historiker Zugang zu sowjetischen Archiven, die zuvor jahrzehntelang verschlossen waren. Die britische Historikerin Catherine Merridale nutzte die Gunst der Stunde und begann über das sowjetische Militär zu forschen. Jetzt hat sie "Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939-1945" vorgelegt. Robert Baag hat das Buch gelesen.

    "Schlosser und Lehrer, Kunstmaler und Stahlkocher melden sich zu den Jagd-Abteilungen, in die Arbeiter-Bataillone..." - ein Ausschnitt aus dem zeitgenössischen sowjetischen Dokumentarfilm "Die deutsche Niederlage vor Moskau im Winter 1941", die vor genau 65 Jahren den gescheiterten deutschen Blitzkrieg-Versuch gegen die UdSSR markierte. Zuvor aber war der europäische Teil der Sowjetunion von Hitlers Soldaten weitgehend überrannt worden, hatte die Rote Armee gigantische Verluste erlitten. Allein im ersten halben Jahr seit dem Überfall Nazi-Deutschlands am 22. Juni 1941 hatte sie in gewaltigen Kesselschlachten rund 4,5 Millionen Mann an Toten, Verwundeten und Gefangenen verloren:

    "Fast die gesamte Vorkriegsarmee (der Sowjetunion) war Ende 1941 tot oder interniert","

    bilanziert Catherine Merridale in ihrer soeben erschienen Monografie über die Rote Armee in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. "Iwans Krieg", so der Titel des Bandes, setzt zu Recht nicht mit dem deutschen Angriff vom Frühsommer 1941 ein, sondern untersucht Rolle und Selbstverständnis des sowjetischen Militärs noch als Verbündeter Deutschlands nach dessen Überfall auf Polen im Herbst 1939 sowie die sowjetische Aggression gegen Finnland kurz darauf im Winter 1939/40. Dieser Krieg gegen den kleinen aber zähen Nachbarn im Nordwesten – dies arbeitet Merridale überzeugend heraus – endete für die Sowjetunion im Chaos und als ernüchternde Niederlage, kurz: als strategische und taktische Blamage vor den Augen einer verblüfften Weltöffentlichkeit:

    ""Die Truppen der Roten Armee sollten immer nur angreifen. Das kam den Finnen sehr entgegen, deren Maschinengewehr-Schützen sowjetische Soldaten fast im Schlaf niedermähten. Auch half es ihnen, dass einige sowjetische Offiziere den Einsatz von Tarnung für einen Ausdruck von Feigheit hielten."

    Schon hier taucht ein Leitmotiv auf, das für die sowjetische Kriegsführung auch in den kommenden Jahren kennzeichnend sein sollte: Menschenleben zählen nicht, um ein Ziel zu erreichen.

    Merridale ist es gelungen, den bisherigen Forschungsstand über die Rote Armee um einen entscheidenden Aspekt zu erweitern. Russische Archive mit Feldpostbrief-Beständen, Vernehmungsprotokollen und persönlichen Aufzeichnungen gefallener oder aus den unterschiedlichsten Gründen verhafteter Rotarmisten öffneten sich ihr, einer britischen Historikerin, und erlaubten Einsichtnahme. Auch Veteranen waren bereit, ihr Auskunft zu geben, wie sie die Zeiten damals erlebt hatten. Heraus kam ein in weiten Teilen faszinierender Blick auf das Innenleben dieser bislang für ein westliches Publikum immer noch geheimnisumwitterten Institution RKKA – zu Deutsch: Rote Arbeiter- und Bauern-Armee, immerhin ein tragender Bestandteil des seit Mitte der 30er Jahre gefestigten Hoch-Stalinismus. Doch auch die Streitkräfte waren von den unionsweiten Säuberungen, denen Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren, nicht verschont geblieben. Marschall Tuchatschewskij, bis dahin strategischer Kopf der Roten Armee und Anwalt einer Tiefenverteidigung des Landes, war zusammen mit den meisten seiner Generalskameraden nach konstruierten Anklagen hingerichtet worden – sein Konzept damit diskreditiert. Ein verhängnisvoller Schritt Stalins: Denn noch am Vorabend der deutschen Invasion suchte man händeringend nach Offizieren, nach militärischen Profis. An wehrpflichtigen Mannschaften hingegen schien kein Mangel zu herrschen:

    "Jene Rote Armee von 1939, die im finnischen Schnee gekämpft hatte, (wurde) 1941 mit Millionen neuer Wehrpflichtiger und Freiwilliger aufgefüllt, also mit patriotischen Jugendlichen, die darauf brannten, große Taten zu vollbringen. Die Finnland-Veteranen gehörten zu jenen Zehntausenden, die binnen weniger Wochen der Offensive Hitlers zum Opfer fielen, sei es durch Tod, Verwundung oder Gefangenschaft. Die Männer der alten Roten Armee überlebten also nicht bis Stalingrad."

    Dies bedeutete nach Merridales Ansicht zugleich einen Bewusstseins- und Mentalitätswechsel innerhalb der Streitkräfte:

    "Die entscheidenden Generationen der Soldaten, die später in Stalingrad und Kursk kämpfen sollten, waren im Sowjetsystem geboren und kannten nichts anderes."

    Dennoch: Zunächst schien die konzentrierte Feuerkraft und moderne Militärtechnik der deutschen Angreifer die völlig überraschten sowjetischen Verteidiger buchstäblich zu überrollen. Das Land stand am Abgrund – hätte dies dann nicht auch zum Zusammenbruch des Stalinismus als Herrschaftssystem führen müssen?

    "Nach wie vor fällt es schwer, die wahre Stimmung des Volkes in jener ersten Woche aus dem Geflecht der Propaganda herauszupräparieren. Selbst beim (Geheimdienst) NKWD konnte niemand ermessen, wie stark der Patriotismus im Verhältnis zu Panik, Wut und Misstrauen ausgeprägt war. Auch konnte niemand voraussagen, wie sich die Massen verhalten würden."

    Der Moskauer Militärexperte Aleksandr Gol’c hingegen hält für gesichert:

    "Es kam zu einer riesigen patriotischen Aufwallung im Volk: Die Verbrechen des eigenen Regimes - das ist das eine. Ein ausländischer Eroberer aber - das ist ein Unterschied. Etwas anderes ist undenkbar für die russische Mentalität. - Und zweitens: Wer noch irgendwelche Illusionen hinsichtlich der deutschen Armee gehabt hatte, dem vergingen sie sehr schnell angesichts der Bestialitäten, die von den Deutschen im besetzten Gebiet verübt worden sind. – Es ging um das Überleben der Nation! – Selbst jene, die Stalin hassten, wie ehemalige Weißgardisten oder Repressionsopfer, waren bereit zu kämpfen und zu sterben."

    Stalins Geschick bestand offenkundig darin, dies sofort erkannt zu haben und sich, nachdem er zunächst tagelang geschwiegen hatte, am 3.Juli 1941 in einer Radioansprache direkt an die Sowjetbürger zu wenden. Und zwar – hier sind sich die Forscher weitgehend einig - mit einem psychologisch raffinierten Trick, der seine Wirkung nicht verfehlte:

    Gol’c: "Zum ersten Mal hatte der gott-gleiche Führer das Volk angesprochen und sie mit 'Brüder und Schwestern' angeredet! Damit appellierte er bewusst an religiöse, an russisch-orthodoxe Werte. Ein Aufruf war das an alle, sich zu vereinen in gemeinsamer Not. Diese Rede spielte eine sehr große Rolle."

    Aber sie war ihrem Wesen nach auch von einer gehörigen Portion opportunistischer Heuchelei durchtränkt. Denn selbst der Schock des deutschen Überfalls, vor dem man Stalin übrigens vorab mehrfach aber vergeblich gewarnt hatte, änderte nichts am despotisch-totalitären Kern von Stalins Herrschaftsstil. Er passte sich den neuen Gegebenheiten lediglich an und instrumentalisierte sie umgehend. Schon während der Schlacht um Moskau, am 7. November 1941, dem Jahrestag der Oktoberrevolution, gab Stalin die Richtung vor, wo der Marsch der Roten Armee dreieinhalb Jahre später enden sollte:

    "Genossen Rotarmisten, Genossen Seeleute der Roten Flotte, Kommandeure und Politarbeiter, Partisaninnen und Partisanen! – Auf Euch blickt die ganze Welt, auf Euch, die Ihr es schaffen werdet, die räuberischen Horden der deutschen Eindringlinge zu vernichten. Auf Euch wartet eine große Befreiungsmission. Zeigt Euch ihr würdig."

    Catherine Merridale weist überzeugend nach, dass die Rotarmisten spätestens nach 1943, nach dem Sieg von Stalingrad auf ihrem Vormarsch nach Berlin bis zur Eroberung des Reichstags im Frühjahr 1945, derlei Motivationen schon gar nicht mehr benötigten:

    "Die Soldaten schöpften ihre Kraft aus der Wut. Sie legten alles, von den gefallenen Freunden bis zu den abgebrannten Städten, von den hungernden Kindern der Heimat bis zur Sorge über einen weiteren Granatenhagel, alles – sogar den bourgeoisen Wohlstand (im Feindesland)– den Deutschen zur Last. Ob bewusst oder nicht, viele Rotarmisten machten bald auch einem Ärger Luft, der sich im Lauf der Jahrzehnte durch die staatliche Unterdrückung und endemische Gewalt angestaut hatte. Als sie schließlich Ende Januar 1945 ins Feindgebiet überwechselten, konnte sich dieser Ärger praktisch an alles heften."

    Vergewaltigungen, Raub, Plünderungen beim Vormarsch der Rotarmisten nach Westen, aber auch deren Traumatisierungen während und nach den überproportional verlustreichen Kämpfen mit den diversen psychosozialen Spätfolgen bis in die Gegenwart hinein – all dies thematisiert Merridale in ihrer materialreichen und spannenden Arbeit.

    Lediglich die teilweise dürftige Übersetzung aus dem englischen Original beeinträchtigt an manchen Stellen die Lektüre. Und ach bei sowjetischen Militärfachbegriffen hätte das Buch manchmal ein aufmerksameres deutsches Lektorat verdient gehabt. Insgesamt können aber selbst diese von der Autorin nicht zu verantwortenden Mängel den Erkenntnisgewinn ihrer Forschungsbemühungen nicht überlagern.

    Ihr an keiner Stelle distanzloses Einfühlungsvermögen bezieht die emotionalen Elemente jener Kriegszeit bewusst ein. Auf diese Weise entsteht ein plastisches Bild vom inneren Funktionieren dieser die eigenen Menschen fressenden Kampfmaschine Rote Armee, die für viele Menschen in Europa noch weit über das Kriegsende hinaus Synonym geblieben ist für Tod, Schrecken und Gewalt.

    Catherine Merridale: Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939-1945
    S. Fischer Verlag. Frankfurt/Main 2006.
    480 Seiten, 22,90 Euro