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Selbstverwirklichung eines Lehrers

Nach dem Abitur im Jahr 2003 entschied sich der Autor Benedict Wells gegen ein Studium und für die Schriftstellerei. In seinem Debütroman "Becks letzter Sommer" schickt er seinen Protagonisten, einen frustrierten Lehrer, der eigentlich Rockstar hatte werden wollen, auf eine abenteuerliche Reise, an deren Ende ihm klar wird, wohin er gehört.

Von Patrick van Odijk | 27.10.2008
    Wie jeden Morgen stand Robert Beck nackt vor seinem Badezimmerspiegel. Meine Güte bist du fett geworden, dachte er. Für ihn gab es nur eine Erklärung: Gott:
    Gott wollte einfach nicht, dass er abnahm. Eine andere Begründung war: Er hasste Bewegung, er aß ungesund, und sein Körper war nicht mehr der jüngste. Man altert einfach zu schnell, dachte Beck. Einmal kurz weggeschaut, schon war man nicht länger ein junger Leadsänger in einer Band, sondern ein siebenunddreißigjähriger Lehrer an einem Münchner Gymnasium. Nicht gerade der erhoffte Lebenslauf.

    Was Lehrer Beck an diesem Morgen noch nicht weiß: Er wird bald eine zweite Chance erhalten. Autor Benedict Wells hat genug von der Midlife–Crisis–Nabelschau dieser Lehrergeneration.

    "Die Idee zur der Geschichte kam, weil ich sehr gut mit einem Lehrer befreundet bin, der damals so 35, 36 war, und er hat mir viel erzählt über das Dilemma eines Lehrers. Du hast alles, bist Beamter, kriegst Geld, Sicherheit ein Leben lang, der war todunglücklich, weil er gefangen war, weil er das Gefühl hatte, sich nicht verwirklicht zu haben. Und ich hab mir gedacht, was passiert wenn ich diesen Typen packe und in das verrückteste Abenteuer stecke, das nur möglich ist."

    Bevor Musiklehrer Beck allerdings sein Abenteuer antritt, kümmert er sich pflichtbewusst um einen neuen Schüler, der von Klassenkameraden gemobbt wird.

    Er war blass und dünn, seine pechschwarzen Haare hingen ihm ins jungenhafte Gesicht. Zudem war er wahnsinnig schlecht angezogen. Unter seinem Bundeswehrparka trug er ein Metallica-Shirt und eine schwarze Karottenhose. Obwohl er bereits siebzehn Jahre alte war, wirkte er eher wie ein rebellischer Vierzehnjähriger. Wahrscheinlich hatten sie ihn deshalb auch mit Papierkugeln beworfen.

    Dieser Junge heißt Rauli Kantas, er kommt aus Litauen und er verhält sich eigenartig verstockt. Aber als er beim Gespräch mit Lehrer Beck dessen Fender Stratocaster entdeckt, lebt er auf und entpuppt er sich als kleiner Gitarrengott.

    Durchs Zimmer donnerte ein mächtiges Gitarrenriff, vorgetragen in rasanter Geschwindigkeit. Raulis lange Finger huschten über die sechs Saiten und entlockten der Gitarre winselnde, schneidende Klänge, die Beck nicht mal im Traum hinbekam.

    Lehrer Beck wollte selbst einmal Rockstar werden und entwickelt jetzt einen Plan. Als Entdecker und Manager von Rauli, vielleicht sogar als sein Songwriter, könnte er jetzt doch noch Karriere im Musikgeschäft machen. Allerdings ahnt er da noch nichts von der zwielichten Art dieses Rauli und dessen undurchsichtiger Familie. Außerdem verliebt sich der beziehungsunfähige Beck in die elfenhafte Kellnerin Lara und muss sich auch noch um seinen einzigen Freund kümmern. Das ist der hünenhafte Deutschafrikaner Charly, ein arbeitsloser, drogenabhängiger Hypochonder mit großer Veranlagung zur Schwatzhaftigkeit. In diesem ersten Teil des Romans zeigt Benedict Wells dass er ein talentierter Erzähler ist. Die Geschichte kommt gut voran mit gelungener Situationskomik und treffend genauen Beschreibungen der unterschiedlichen Milieus. Vor allem aber sind es seine starken Figuren, die mit authentischen Dialogen auch in skurillsten Situationen noch glaubhaft wirken. Hier spürt man den Einfluss John Irvings, der Benedict Wells schon früh beeindruckt hat.

    "Mit 15 habe ich das Hotel New Hamshire von Irving gelesen und dieses Buch hat mich total in seinen Bann gezogen , nicht weil es spannend und fesselnd war, das sind viele Bücher, sondern weil ich die Figuren geliebt habe. Als ich fertig war, dachte ich mir: Das möchte ich auch mal machen. Dann gab es den Moment mit 18: Hey, das mache ich jetzt wirklich."

    Benedict Wells beschließt nach dem Abitur tatsächlich ohne weitere Ausbildung oder Studium sofort Schriftsteller zu werden. Er geht nach Berlin, lebt vom Kindergeld und kleinen Jobs und schreibt tausende von Seiten die er Freunden und Verwandten zum lesen gibt.

    "Bis zum Feedback lief es super, ich hatte das Gefühl: Hey Junge: Du bist der beste Schriftsteller der Welt. Das ist ja fantastisch, was ich da schreibe. Und dann hab ich das Leuten gegeben und dachte mein Gott, die rufen jetzt mit tränenerstickter Stimme an und sagen, das ist ja fantastisch, Junge, aber die haben gesagt: Das ist ja furchtbar. So was Schlechtes habe ich noch nie gelesen. Da - muss ich sagen - hatte ich auch sehr verständnisvolle Leute, die mich nicht runtergemacht haben, die haben gesagt, das ist wirklich Müll, aber die haben mir zwei, drei, vier seiten genannt die gut waren und an denen habe ich mich festgehalten."

    Und die Ausdauer hat sich gelohnt. Nach fünf Jahren erscheint jetzt sein erster Roman "Becks Letzter Sommer" beim renommierten Diogenes-Verlag. Ein zweiter Roman kommt nächstes Jahr, der dritte ist gerade in Arbeit. Dabei spielt es bestimmt eine Rolle, dass Benedict Wells zwar vordergründig eine leichte rasante Geschichte erzählt und dabei gleichzeitig viele ernste Themen aufgreift. Schwierige Vater-Sohn-Beziehungen, Freundschaft und Verrat, Drogenabhängigkeit, Tod und Liebesleid. Wenn man dann diesem gut aussehenden und gutgelaunten jungen Autor gegenübersitzt mit seiner sprunghaften Lebhaftigkeit dann fragt man sich, woher nimmt Benedict Wells all diese Lebenserfahrung. Vielleicht liegt es daran, dass er schon mit sechs Jahren ins Internat kam und viele ältere Freunde um die Vierzig hat.

    "Das Problem ist, dass ich eine seltsame Mischung aus einem 14-jährigen und einem 40-jährigem bin und ich habe mich nie als klassischer Twen oder dergleichen gefühlt, und von daher bin ich schon immer anders gewesen."

    Und deshalb ist es für den jungen Autor auch ganz selbstverständlich, dass sein Roman neben einer guten Geschichte auch eine Botschaft haben muss.

    "Man soll verdamt noch mal das tun, was man möchte und sich nicht davon abbringen lassen. Das ist die Botschaft, dass man wirklich auf sich hört. "

    Sein Lehrer Beck muss noch lernen auf sich zu hören und deshalb schickt Benedict Wells ihn im zweiten Teil des Buches auf eine irrwitzige Reise. Er fährt seinen psychisch kranken Freund Charly, da dieser Flugangst hat, in einem schrottreifen Auto quer durch Osteuropa nach Istanbul zu seiner Mutter. Mit dabei der immer zwielichtigere Rauli und eine Menge Drogen. Unterwegs lauern Gangster und viel schräges postkommunistisches Lokalkolorit. Und außerdem als Traumfigur ein alternder Rockstar namens Robert Zimmermann.

    "Ich mag Bob Dylan sehr gerne, mich nervt der auch nicht. Ich kann die Stimme hören und finde ihn extrem clever und gut. "All along the watchtower" ist der Song, den ich mir immer für eine Reise vorstelle, da steckt so viel Reisegefühl und Power in dem Song, Freiheit, sodass klar war, damit beginne ich die Reise."

    Nach dieser dramatischen Reise trennen sich die Wege der Romanfiguren. Jeder weiß jetzt, wohin er zu gehen hat. Um Becks Weg zu beschrieben greift Benedict Wells allerdings im letzten Teil des Buches zu einem befremdlichen Stilmittel. Der Erzähler entpuppt sich in den Zwischenkapiteln "Beck und Ich" als ein Autor, der die wahre Geschichte des Lehrers Beck recherchiert und aufgeschrieben hat.

    " Ich wollte, dass das Buch so geschrieben ist, dass die leute denken, das hat wirklich so stattgefunden. Tatsächlich gab es Reaktionen in diese Richtung, wo die mich gefragt haben: "Ich hab jetzt gegoogelt nach rauli, nach beck". Das war der Vater des Gedankens."

    Leider bremsen diese Passagen als länglich wirkende Einschübe den ansonsten schnellen Erzählfluss des Buches und sind eigentlich überflüssig. Schade, dass Benedict Wells seiner Geschichte so wenig traut, dass sie wie alle gute Literatur und Fiktion viel mehr über das wahre Lebens aussagt als jegliche Dokumentation.

    Gleichzeitig ist dies mit etwas jugendlicher Geschwätzigkeit aber auch die einzige und verzeihbare Schwäche in dem ansonsten äußerst gelungenen Debütroman. Man kann deshalb dem Autor nur wünschen dass er sich in Zukunft ganz auf seine erzählerische Kraft verlässt. Aber wie singt schon Bob Dylan: The Times They Are A-Changing.


    Benedict Wells: Becks letzter Sommer, Diogenes Verlag, Zürich