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Selten aufgeführte Musik

Bei EMI Classics ist jetzt die neueste Aufnahme der Berliner Philharmoniker mit ihrem Chefdirigenten Simon Rattle erschienen. Sie widmet sich ausschließlich dem Werk des französischen Komponisten Claude Debussy. Selten Aufgeführtes wie die Ballettmusik "La boîte à joujoux" oder für Orchester bearbeitete Klavier-Preludes stehen hier neben Hauptwerken wie den Tondichtungen "La mer" oder "Prélude à l’apres-midi d’un faune".

Von Ludwig Rink |
    · Musikbeispiel: Claude Debussy - aus: "Prélude à l’apres-midi d’un faune"

    Nach dieser programmatischen Musik, die anhand der dichterischen Vorlage von Mallarmé die erotischen Fantasien eines Fauns in der Nachmittags-Hitze schildert und nach den um 1900 entstandenen "Nocturnes" erwartete Paris von Claude Debussy so etwas wie eine erste große Sinfonie. Doch die war für ihn als Form erledigt.

    "Es scheint mir", schreibt er, "dass seit Beethoven der Beweis für die Sinnlosigkeit der Sinfonie erbracht wurde. Bei Schumann und bei Mendelssohn ist sie nur mehr die respektvolle Wiederholung der gleichen Formen mit schwächeren Kräften. Dennoch war - Beethovens - Neunte ein genialer Hinweis, sie kündet den herrlichen Wunsch, die gewohnten Formen zu weiten und zu befreien. Die Lehre Beethovens lautet also nicht, die alten Formen zu bewahren. Man muss durch die offenen Fenster auf den freien Himmel schauen."

    Debussy geht den einmal eingeschlagenen Weg konsequent weiter: Ein Werk für großes Orchester ja, aber um Himmels Willen keine Sinfonie. Und auch einem seiner Lieblingsthemen bleibt er treu, dem Meer, das schon in der erfolgreichen Oper Pelléas et Melisande auftauchte und bei den Sirenen in den Nocturnes eine wichtige Rolle spielte. Für die See hat er eine aufrichtige Leidenschaft bewahrt, sie ist reizbar wie er selbst. Heute sonnenüberglänzt, lächelnd, strahlend, morgen wild, ungestüm, bösartig, dann wieder grau, apathisch und traurig. So entstehen die drei sinfonischen Skizzen "La Mer" als eine Art Gegenentwurf zur klassisch-romantischen Sinfonie, von monumentaler Kraft, aber ohne die Durchführungs- und Steigerungstechnik der herkömmlichen Sinfonik.

    Dennoch vermag diese Musik den Hörer einzufangen mit ihrem Raffinement, ihren reichen und seltenen Harmonien, ihrem Überfluss an unerhörten Rhythmen, ihrer Stimmenvielfalt und ihren völlig natürlich wirkenden, dennoch äußerst kunstvoll hergestellten inneren Zusammenhängen. Mit "Dialog zwischen Wind und Meer" ist der dritte Satz überschrieben. Hier ist er in der Neuaufnahme der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Simon Rattle.

    · Musikbeispiel: Claude Debussy - 3. Satz: 'Dialogue du vent et de la mer’ aus: "La mer"

    Claude Debussy: letzter Satz aus den sinfonischen Skizzen "La Mer". Natürlich liefern Rattle und seine Berliner Mannschaft musikalisch und spieltechnisch eine Spitzenleistung ab, sonst hätten die allesamt ausgezeichneten und auf ihr Image als das führende Orchester in Deutschland bedachten Musiker diesen Konzertmitschnitt sicher auch nicht freigegeben.

    Dennoch fallen bei der Darstellung der Musik Debussys hier zwei Dinge auf, deren Sinnhaftigkeit und Angemessenheit zumindest diskutierbar sind. Zum einen die Betonung des Kammermusikalischen, der Schlankheit des Klanges, der freieren Ausarbeitung der Melodien, gepaart mit einer relativ nah und direkt aufnehmenden Mikrofonierung. Zum anderen die deutliche Hervorhebung aller Bläser im Vergleich zu den Streichern. Das ist sehr spannend, weil man vertraute Passagen in neuem Licht sieht und Linien hört, die in anderen Aufnahmen weitgehend verborgen blieben, bedeutet aber auch einen gewissen Verzicht auf die Möglichkeiten dieser großen Streicherbesetzung und deren gerade zur Darstellung des Meereswogens eigentlich gut geeigneter dynamischer Kraft.

    Zusammen mit Rattles Tendenz, bestimmte Effekte ganz besonders auszukosten besteht hierdurch bei den leisen Stellen die Gefahr, dass die Bläser ohne Basis quasi im luftleeren Raum agieren und bei den lauten Passagen unangemessen derb daherkommen. Spätestens hier stellt sich dann die Frage, was man sich unter impressionistisch vorzustellen hat – ein Begriff aus der Kunstgeschichte übrigens, der von vielen der damit etikettierten Künstler abgelehnt wurde.

    "La Mer" ist jedenfalls keine direkt abbildende Programm-Musik, nicht bemüht, die wirkliche Welt einzufangen, sondern durch den Klang ein Erlebnis im Kopf des Hörers zu erwecken. Die hierzu nötige Farbenvielfalt, das klangliche Raffinement bietet die Berliner Aufnahme in Hülle und Fülle, französische Leichtigkeit und fließende Eleganz findet man in anderen Einspielungen mehr.

    "Prélude à l’apres-midi d’un faune" und "La Mer" sind zusammen nur etwa 35 Minuten lang, deshalb bietet diese CD dankenswerterweise noch zwei viel weniger bekannte Werke Debussys: zum einen die von Colin Matthews vorgenommene, äußerst farbige Orchestrierung dreier Klavier-Preludes sowie die halbstündige Ballett-Musik "La Boîte à Joujoux", die auch weitgehend von fremder Hand, in diesem Fall von André Caplet, instrumentiert wurde.

    Das auf einer Erzählung für Kinder beruhende Szenario war im Februar 1913 fertig geworden, und Debussy schrieb dann im Sommer des Jahres an seinen Verleger, er sei dabei, "den alten Puppen seiner Tochter ihre Geheimnisse zu entlocken". Bald war das erste Tableau abgeschlossen und Debussy meinte, er habe versucht, "einfach und sogar amüsant zu sein". Im Dezember 1919, also erst nach Debussys Tod, fand in Paris die getanzte Premiere des vergnüglichen Werkes statt. Debussy hatte es mit zahlreichen Zitaten aus Volksliedern und Kompositionen von Gounod, Mendelssohn und eigenen Stücken geschmückt.

    · Musikbeispiel: Claude Debussy - Letzter Teil Changement à vue, 4. Tableau, Epilogue
    aus: "La Boîte à joujoux"

    Titel: Debussy: "La mer"
    Orchester: Berliner Philharmoniker
    Leitung: Simon Rattle
    Label: EMI Classics
    Labelcode: LC 06646
    Bestellnr.: 7243 5 58045 2 5