Archiv


Selten gespielt

Jenseits der eingeweihten Kreise ist er unbekannt geblieben – Hans Henny Jahnn aus Hamburg-Stellingen, 1894 geboren, 1959 gestorben; Schriftsteller und als solcher 1920 Träger des Kleist-Preises. Wer im ganz neuen Reclam-Schauspielführer nach ihm sucht, findet ihn nurmehr als Fussnote der Geschichte. Erstmals in Jahnns Heimatstadt zeigt das Deutsche Schauspielhaus jetzt die Jahnn-Version von "Richard III"

Von Michael Laages |
    Jede und jeder im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg wird den dritten Richard, wie Hans Henny Jahnn ihn zeichnet, zum ersten Mal gesehen haben; und dass nicht nur der "Hamburger Erstaufführung" wegen. Uraufgeführt 1922 am Leipziger Schauspiel, ist auch dieser (wie fast der ganze Jahnn) dem Vergessen an-heim gefallen; über alle Modernen seither hinweg, will er zu keiner wirklich passen. Zutiefst interessiert am Ritual aus vorzivilisierter Zeit, gedanklich vertraut mit Opferkulten fremder Völker, Geisterbeschwörungen und Voodoo, fixiert auf alles, was den Menschen von innen her ausmacht, vom Sitz der Seele bis zu jedem mehr oder minder besonderen Saft, der in ihm gärt, blieb (und bleibt) Jahnn stets der Avantgarde voraus, indem er hinter sie zurück tritt; dabei pflegte er eine Sprache, die nur so schwillt und quillt und Emotionen über Emotionen türmt, Form zu Trümmern schlägt mit anderer Form, Rhythmen und Verse wie in freier Im-provisation gegen ungebundene Rede und auch manches wabernd-zeremoniell-rituelle Geschwätz stellt. Kaum zu lesen ist das, wie viel schwerer zu sprechen, zu spielen!

    Aber – auch dieser Richard sagt recht klar und deutlich, wie er sich in die Welt geworfen sieht.

    Knabe wär' er selber gerne immer noch, und Sebastian Nüblings Inszenierung zeigt den Kern der eigenen Sicht der Dinge in einem wirklich anrührenden Bild: mit Richard drin, gerade mal wieder psychisch überlas-tet von König-Sein und Leute-Umbrin-gen, wie er sich ganz vorne an der Rampe zum Embryo zusammen krümmt. Und da der Schauspieler Samuel Weiss über eine gehörige Portion stimmlicher Facetten verfügt (und ihm vielleicht auch ein Tonband dabei hilft), ist bald die Regression bis zum Greinen in der Wiege per-fekt. Nur zurück in die Mama geht’s halt nicht – da sei Gott vor.

    Überhaupt Gott! Abendfüllend ficht dieser Richard den tiefen Hader mit dem Schöpfer aus. Und noch unter Verzicht auf alles blasse Personal, Königin und Königskinder, Arzt, Herzöge und Folterknechte, hätte Jahnns Richard immer noch genug Stoff für einen anregenden Solo-Exkurs über Unschuld und Schuld, über den Einzelnen und das System, das göttlich ist. Und tödlich, mörderisch, barbarisch eben auch – sagt und schreibt Jahnn. "Die Krönung Richards des Dritten" ist im Grunde ein getarnter Monolog. Wie im Krieg (1917 beginnt Jahnn mit der Niederschrift, 1920 ist die beendet) fragt hier natürlich auch das potenziell in allumfassend-kriegerischer Barbarei schuldig gewordene Subjekt, was und wer es denn hat werden lassen, wie es ist: im Schützengraben, im Rollstuhl, im Massengrab.

    Barbarisch ist die Welt ja schon vor Richard – Königin Elisabeth steht auf Lust-Knaben, und am liebsten würde sie sie auch verspeisen. Wer nicht spurt, wird kastriert und/oder in den Tower geworfen. Zu Ehre und zu Ruhm wird in diesem Umfeld nur einer kommen, der mitmacht und besser ist; Richard macht mit und ist viel besser als die echten Killer. Jahnn gönnt ihm denn auch längst noch nicht den Tod, wenn das Stück zu Ende ist – kein Happyend, nirgends.

    Starker Tobak, von der ersten bis zur letzten Minute in gut dreieinhalb Hamburger Stunden – zumal Regis-seur Nübling das Stück nie schneller macht als es ist. Dies ist ein Rede-Drama; Action? Knapp über Null. Und wenn, dann hält Nübling sie möglichst abstrakt, gerne (mit Hilfe des Musikers Lars Wittershagen vor Muriel Gerstners Bühnen-Wand aus 80 Lautsprecher-Boxen) akustisch, rhythmisch, dezent musikalisch. Und wenn’s ganz finster und vage wird in Richards gemartertem Hirn, bricht optisch flimmernd und akus-tisch "Weisses Rauschen" aus. Und so ganz sicher darf niemand sein, dass damit nicht eventuell der Text selber gemeint sein könnte. Ob der noch junge, aber schon sehr erfahrene und erfolgreiche Regisseur diesem Trumm von Wort-und-Widerwort-Gewitter auch nach massiver Kürzung wirklich ganz hat trauen mögen? Eher nicht.

    Dazu zerfällt der Abend zu offensichtlich in verschiedene Haltungen: zum Mosaik aus Jahnn-Phantasmen. Richard selbst, das alte Kind, darf rotzen, röcheln, rumspektakeln wie Beelzebub und Rumpelstilz; die Killer ihm zu Diensten sind finstre Clowns; der Hofstaat wird zum feinen Stepp-Ensemble. Mama Königin ist (und Richard wird zum Ende hin) die Glucke über ihren (seinen!) Knaben, die Zwillingskinder sind von gnaden-loser Zwillingshaftigkeit in Bild und Geste. Der Arzt schließlich, für jede Schandtat zu haben, klettert affen-gleich die Lautsprecherwand hinauf und hinab – als solle sich das Stück irgendwie nach Afrika sehnen, nach Urwald. Und vielleicht wär’s das ja – nur blitzen all diese Bilder immer sehr kurz durch die Düsternis, die Richard selber ist. So unentschieden bleibt diese fremd-vertraute Maske des Bösen wie sie selber deliriert: zwischen Mutterschoss, Gräbern und Gott.