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Selten gespielte Haydn-Oper

Thema heute ist die Neueinspielung einer Oper des 18. Jahrhunderts, die im aktuellen Theaterbetrieb leider vergessen ist.

Von Frank Kämpfer |
    * Musikbeispiel: Joseph Haydn - aus: "Orlando Paladino"

    Ein Enkel Karls des Großen, den der Wahnsinn ereilt. Ein fränkischer Sancho Pansa, der einer Schäferin nachstellt. Eine Prinzessin aus China, die Verlust-Ängste quälen, und deren Geliebter, ein Saraszenen-Fürst, ein Angsthase ist. Eine Zauberin schließlich, ein Schlagetot, der auf christliche Ritter losgeht, und ein Fährmann zum Hades. Sie alle bilden das Personal für Franz Joseph Haydns Oper "Orlando Paladino", deren Handlung, ernst genommen, manche Rätsel aufgibt. Ist, was in den drei Akten geschieht, reine Fantasy? Reflektiert das Stück Realität? Was ist der Kernpunkt des Handlungsgeschehens? Erlebt der Zuschauer eine Komödie oder ist es ein ernster und tragischer Stoff?

    Gesichert ist zunächst, dass das Stück nur durch Zufall entstand. Haydn sollte 1782 auf Schloss Esterháza eine bereits vorhandene Oper Guglielmo’s aufführen. Dass deren Libretto zur Vorlage wurde, die Haydn kurzer Hand selbst komponierte, war einem höfischen Megaereignis geschuldet - dem geplanten Besuch des russischen Großfürsten Pawel Petrowitsch, des späteren Zaren, der jedoch nicht zustande kam. Im Theaterlabor auf Esterháza wurde nichtsdestotrotz uraufgeführt und - bearbeitet wohlgemerkt - ein Stück Weltliteratur auf die Bühne gestellt: "Orlando Furioso", ein Epos von 1516, verfasst von Ludovico Ariosti, einem Meister der Renaissance-Literatur, der bis in Haydns Zeit hinein ganze Scharen von Librettisten und Theaterautoren inspirierte.

    Ariostis’ Gesänge ihrerseits reflektieren die Gemengelage zwischen Christen und Heiden zur Zeit Karls des Großen und bedienen sich dabei höchst eigenwilliger Ausflüge in die Ritter-, Schelmen- Unterhaltungs- und Sciencefiction-Literatur. Das Unwahrscheinlichste ereignet sich hier und genau dies findet seinen Niederschlag in Haydns Oper: der Held, Orlando, die Titelfigur, der fränkische Ritter, der die am Ende siegreichen Christen vertritt, entsagt Ehre und Ruhm. Er liebt und wird in seiner Liebe geschmäht, er hat Rache geschworen und ist - musikalisch deutlich gezeichnet - dem Wahnsinn nah:

    * Musikbeispiel: Joseph Haydn - aus: "Orlando Paladino"

    Orlando überrascht: sein erster Auftritt zeugt nicht, wie von allen Figuren im Vorfeld gefürchtet, von blinder Rache - ein Schwankender artikuliert sich hier: einer, der unglücklich liebt und am politischen Auftrag verzweifelt. Tenor Michael Schade gibt der Figur Stimme und Ambivalenz - das große Potenzial des Deutsch-Kanadiers sind jene Szenen, die im Piano beginnen und die er höchst spannungsreich zu entwickeln vermag. Der Spagat hin zur Komödie jedoch gelingt nur partiell - jener Orlando, den Alcina, die Zauberin durch mittelalterliche Gehirnwäsche heilt, bleibt bei Schade ein tragischer Held.

    Haydn jedoch nennt "Orlando Paladino" ein Dramma eroicomico - sein Personal, insbesondere seine Titelfigur ist aus ernsten und heiteren Elementen zusammengebaut. Deutlicher wird die ästhetische Zwiegestalt bei den buffonesken Figuren: beim poltrigen Haudegen Rodomonte oder bei Orlandos stets hungrigem Knappen Pasquale, der einer niederen sozialen Sphäre entstammt und der in Haydns bemerkenswert scharfer sozialer Optik ein Aufschneider ist.

    * Musikbeispiel: Joseph Haydn - aus: "Orlando Paladino"

    Die Kiekser sind Absicht, denn der sich hier als ruhmreicher Ritter selbst zu besingen versucht, ist nur ein ewig hungriger Knappe, der dem Essen und den Frauen nachstellt. Pasquale - von Tenor Markus Schäfer in großer Verwandlungsbandbreite gespielt - ist eine Buffo-Figur par excellence. Auch die zentrale Frauengestalt, Prinzessin Angelica, ist sängerisch-darstellerisch eine Herausforderung. Haydn hat sie als eine Figur angelegt, die emotional überspannt. Gesungene Gefühle wirken stets ein Stück zu exzessiv, um glaubhaft und überzeugend zu sein. Für Mezzosopranistin Elisabeth von Magnus - eine hervorragende Mozart-Sängerin aus Wien - bedeutet dies, bis in Extreme zu gehen.

    * Musikbeispiel: Joseph Haydn - aus: "Orlando Paladino"

    Unter Joseph Haydns heute allesamt wenig gespielten Opern ist "Orlando Paladino" das insgesamt erfolgreichste Stück. Zwischen 1782 und 1784 wurde es auf Schloss Esterháza 30 Mal aufgeführt und bis 1813 u.a. in Pressburg, Prag, Brünn, Wien, Breslau und Hamburg, Petersburg, Dresden und Graz nachgespielt. Das bis heute einzige gültige Tondokument ist 30 Jahre alt und verdankt sich Antal Dorati, der in den 70er Jahren alle wichtigen Haydn-Opern für die Schallplatte eingespielt hat.

    Die hier vorliegende digitale Neuaufnahme mit Nicolaus Harnoncourt und dem Concentus Musicus Wien dürfte Anstöße geben, das höchst unterhaltsame Opus zurück auf die Bühne zu holen. Ästhetisch neue Maßstäbe betreffs Haydns Opernverständnis eröffnet der Mitschnitt bei der Styriarte in Graz im Sommer 2005 ohnehin. Dirigent Harnoncourt richtet das Augenmerk hier auf die ästhetische Vielgestalt - auf die Verquickung von Pathos und Parodie, von Heroik und Kleingeist, von echten und überdrehten Gefühlen. Und bringt das Uneinheitliche, Nichtzusammengehörige der Partitur höchst reizvoll zum Klingen.

    Haydn als Wegbereiter und Initiator des Klassischen Stils erweist sich demnach als Autor eines Musiktheaters, das seiner Zeit gern den Spiegel vorhält. Ob seiner Heterogenität erscheint es zudem überraschend modern und lohnenswert, es im Theaterbetrieb neu zu entdecken. Und nicht zuletzt birgt Haydns Orlando ungewöhnliche Vorschläge, Konflikte zu lösen und Extreme zu mildern. Der Titelfigur beispielsweise wird das falsche, aggressive Gedächtnis gelöscht - der in seiner Liebe Geschmähte kann somit gesunden. Der Schlusschor gar birgt einen höchst verallgemeinerbaren pragmatischen Rat: "Wollt ihr glücklich sein / so
    liebt diejenigen, die euch lieben / ehrlich und ohne Betrug / und euer Herz wird glücklich sein."
    * Musikbeispiel: Joseph Haydn - aus: "Orlando Paladino"

    Joseph Haydn - Orlando Paladino
    div. Solisten
    Concentus musicus Wien
    Leitung: Nikolaus Harnoncourt
    Label: Deutsche Harmonia Mundi
    Labelcode: LC 00761
    Bestellnr.: 82876 73370 2