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Seltene Exemplare

Biologie. - Wilde Rentiere sind selten. In Norwegen gibt es zwar offiziell noch 30.000 Tiere an 26 Standorten im Süden des Landes. Allerdings sind die meisten dieser Tiere wirklich wild, sprich: Nur bei wenigen sind auch die Ahnen niemals in Menschenhand gezüchtet worden. Vielmehr stammt ein großer Teil des so genannten "Wildbestands" von verwilderten Zuchtrentiere ab, die in den 50er Jahren mit dem Ende der kommerziellen Rentierzucht in Südnorwegen freigelassen worden sind. Aber ob nun wild oder verwildert, norwegische Forscher bemühen sich, all’ diese Tiere bestmöglich zu schützen. Dabei sind sie auf deren schlimmsten Feind gestoßen: die Dasselfliege.

von Dagmar Röhrlich |
    Wer in Skandinavien ein frei umherstreifendes Rentier sieht, hat meist ein verwildertes Tier vor sich, dessen Vorfahren von Menschen gezüchtet und später frei gelassen worden sind. Ein wirklich "reinrassig" wildes Ren ist äußerst selten. Sie haben sich nur in besonders kargen Gebieten halten können, in denen sich kommerzielle Zucht nie gelohnt hat. Wo sie leben, finden sie im Sommer wenig zu Beißen und ihre Fettschicht ist entsprechend dünn – und im Winter müssen sie regelrecht darben, weil in ihren Wäldern die Winterflechten rar sind. Als Folge wiegt ein männliches Wildrentier kaum die Hälfte dessen, was sein verwilderter Artgenosse auf die Waage bringt – von den gezüchteten in Menschenhand ganz zu schweigen. Aber obwohl rein wilde Rentiere selten sind, wird ihr Bestand kurz gehalten: Werden sie zu zahlreich, hat das fatale Folgen, erklärt Eigil Reimers von der veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Oslo.

    In einigen Gebieten wurden die Flechten überweidet. Dann können die Tiere im Winter ihr Körpergewicht nicht halten, sie sterben oder die Weibchen bilden die Feten in ihren Körpern wieder zurück. Frühgeburten sind häufig, die Kälber sind kleiner und haben schlechtere Überlebenschancen als in Regionen mit ausreichend Flechten. Gerade in den kargen Gebieten ist es deshalb wichtig, daß die Tiere wenigstens im Sommer ungestört fressen können....

    Damit ihre Speckschicht für die kalte Jahreszeit wenigstens halbwegs dick wird. Aber das ist oft unmöglich. Zum einen ist Südnorwegen relativ dicht besiedelt und entsprechend hoch ist der Druck durch Freizeitaktivitäten. Sind die Sommer warm und sonnig, drängen aber nicht nur besonders viele Menschen ins Grüne. Dann ist auch der Hauptfeind des Rens besonders aktiv: die Dasselfliege. Pausenlos fällt sie über die Rentiere her.

    Die eine Fliegenart attackiert die Rentiere von hinten, legt ihre Eier auf ihrem Pelz ab. Daraus schlüpfen Larven, die unter die Haut kriechen, wo sie sich bis zum nächsten Sommer vom Rentier ernähren. Die dann anderthalb Zentimeter großen Larven lassen sich auf den Boden fallen und entwickeln sich zu fliegenden Insekten fort. Die zweite Art attackiert die Rentiere von vorne. Sie legt lebende Larven in die Mundregion der Tiere. Die Larven kriechen dann schnell in den Mund und nisten sich zum Überwintern in Hauttaschen ein.

    Bei manchen Tieren haben die Forscher bis zu 1000 Larven unter der Haut gefunden. Das ist nicht nur sehr schmerzhaft, die Larven zehren auch reichlich vom Speck der Rentiere, und sie übertragen Krankheiten. Vor allem die wilden Rentiere geraten schon beim bloßen Summen dieser Fliegen in Panik und fliehen, um auf Schneeresten oder Gletschern Ruhe vor den Plagegeistern zu finden. Auf Spitzbergen, wo es keine Dasselfliegen gibt, konnten die Forscher den ungestörten Tagesablauf eines wilden Rens beobachten:

    Dort sind die Rentiere wirklich fett und glücklich, und sie laufen nicht dauernd herum. Zwei Drittel ihrer Zeit verbringen sie mit Fressen, den Rest mit Ruhen. In Südnorwegen sind sie die meiste Zeit des Tages auf dem Flucht vor dem Menschen und vor allem vor den Insekten und kommen nicht zum fressen.
    Die wilden Rentiere auf dem Kontinent leiden besonders unter der Dasselfliege. Ihre verwilderten Artgenossen haben durch den Eingriff des Menschen in ihre Ahnenlinie einen Vorteil: Sie reagieren weniger ängstlich auf Mensch und Fliege – das Ergebnis der Zucht:

    Solange sie gezähmt wurden, haben die Hirten die nervöseren Tiere aussortiert, um die Herde unter Kontrolle zu halten. Die Population bestand schließlich aus wenig scheuen Rentieren. Und auch noch ihre verwilderten Nachfahren fliehen beim Anblick des Menschen deutlich später als die wilden Rentiere und kommen mit dem Menschen besser zurecht.

    Die letzten wilden Rentiere stehen unter starkem Druck. Aber sie bieten den Biologen die Chance, mehr über die züchterischen Veränderungen zu erfahren. Derzeit laufen genetische Untersuchungen, um zu erfahren, wie weit sich das Erbgut der wilden Tiere von dem der verwilderten und der heute gezüchteten unterscheidet.