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Seltene Roma-Popsongs

Für das Album "Stand up, people. Gypsy Pop Songs From Tito's Yugoslavia 1963-1980" haben zwei Oxfordstudenten 19 Lieder aus etlichen Archiven ausgegraben und aufwendig restauriert. Veröffentlicht wurde die Kompilation auf dem Berliner Label Asphalt Tango Records, das sich auf Osteuropa spezialisiert hat.

Helmut Neumann im Gespräch mit Luigi Lauer |
    Luigi Lauer: Helmut Neumann, ihr kleines Label ist ja selbst bekannt für seine Zusammenstellungen älterer Ostblock-Musik. Diesmal waren sie aber nicht selbst vor Ort. Sondern?

    Helmut Neumann: Zwei Oxfordstudenten, Ned und Phil, und ja auch irgendwie von der Welt gelangweilt waren und angefangen haben, in der Weltgeschichte herumzureisen und der Ned in Mazedonien hängen geblieben ist, und dort so seine ersten Bekanntschaften unter den Roma gemacht hat. Daraus ist dann auch der Wunsch entstanden, sich mit dieser Musik näher zu befassen, und dann haben sie angefangen, Vinyls auszugraben und so hat das ganze Projekt quasi seinen Lauf genommen.

    Lauer: Musik aus den Jahren 1964-1980 liegt aber auch in Ex-Jugoslawien nicht einfach irgendwo rum, oder?

    Neumann: Na, sie sind halt vor Ort gewesen und haben eigentlich auch die aktuelle Musik erlebt, und sind dann aber auf die alten Sachen gestoßen, bzw. haben eben alte Vinyls ausgegraben, bekommen, gekauft, zusammengetragen, und haben da festgestellt, dass das eigentlich tatsächlich der Kick ist und einfach es sich lohnen würde, diese alten Vinyls wieder zu veröffentlichen, weil es die ja auf CD im Prinzip überhaupt nicht gibt.

    Lauer: Es ist dann aber noch ein großer Schritt, sich alte Platten zu besorgen oder die Rechte zu bekommen, sie neu zu veröffentlichen. Wie muss man sich das vorstellen?

    Neumann: Wir haben das ja vor vier Jahren ungefähr selber mal aufgenommen und haben versucht quasi, Rechte zu erkunden und zu schauen, wo liegen denn Rechte von alten Saban-Bajramovic-Aufnahmen, und haben ziemlich schnell festgestellt, dass es ziemlich verzwickt ist. Weil einfach der Staat Jugoslawien nicht mehr existiert und halt diverse Rechtenachfolger auf dem Plan stehen. Vom serbischen Radio über Croatia Records, vier, fünf verschiedene Richtungen, die man da hätte verfolgen müssen, und wir dann einfach wieder davon abgelassen haben. Und die beiden Jungs tatsächlich den Elan aufgebracht hatten, eben diese Pfade zu verfolgen und tatsächlich Kontakt zu den Rechteinhabern aufzunehmen. Und bis hin zu Künstlern, also zig verschiedene Parteien letztendlich vertraglich binden mussten, um das Ganze zum Arbeiten zu bringen.

    Lauer: Das klingt so selbstverständlich, einfach mal Kontakt aufzunehmen. Geht das so leicht?

    Neumann: Die sind da halt rumgefahren, die sind da hingegangen, haben Guten Tag gesagt. Kennen wir auch selber: E-Mails? Kriegt man nie eine Antwort. Da musst du hingehen, anklopfen, und dann gucken sie dich mit solchen großen Augen an. Aber dann sind sie natürlich gastfreundlich, und dann sitzt man da drin, und dann, so nach dem Motto: Wieso habt ihr denn keine E-Mail geschrieben? Das läuft nur über persönliche Kontakte, wenn man es da wirklich auf den Punkt bringen will.

    Lauer: Nun bekommt man solche Rechte ja nicht einfach ausgehändigt, die muss man ja üblicherweise kaufen. Das sind für solche Zusammenstellungen normalerweise keine ruinösen Summen, aber die Kaffeekasse macht's auch nicht. Wie wurde das finanziert?

    Neumann: Die haben ein Kickstarter-Projekt eingepflegt und haben 6000 Pfund sammeln wollen und haben das auch geschafft. Und als sie das gelauncht haben, da kam über einen bekannten Journalisten aus England die Nachricht, guckt euch das mal an, und wir haben das irgendwie auf unsere News-Seite gepackt und ein bisschen durchs Netz gepostet. Und dann haben wir natürlich irgendwann auch mal direkten Mail-Kontakt aufgenommen und mit ihnen über das Projekt an sich geredet und zu philosophieren begonnen und so weiter und so fort.

    Lauer: Hatten die beiden eine Ahnung, dass sie mit Asphalt Tango Records eine Plattenfirma an der Hand hatten, die auf diesem Gebiet ganz weit vorne ist, oder war das Kickstarter-Projekt der erste Kontakt?

    Neumann: Ich denke eher, dass sie auch vorher schon einfach mit ihrem Faible für diese Musik dann auch von Asphalt Tango Records gehört haben. Zumindest haben sie das uns gegenüber auch geäußert, Fans von unserem Label zu sein. Und irgendwann kam mal so der Spruch: Naja, so die Geschichte, die wir über euch gelesen haben, das ist ja ungefähr so, wie wir jetzt gerade unterwegs sind. Also, es ist auch tatsächlich so: Die sind Mitte 20 und haben eigentlich anderes im Kopf und hatten einfach Zeit und Langeweile ...alles, was man so braucht, um so eine verrückte Nummer abzuziehen.

    Lauer: Sie und ihr Kollege Henry Ernst stammen aus Ostdeutschland. Ist man da, auch mal abgesehen vom Räumlichen, näher dran an solchen Geschichten?

    Neumann: In den ersten Jahren vielleicht und sicher sind wir jetzt natürlich einige Schritte voraus, weil wir einfach viel Erfahrung auch professioneller Art gesammelt haben, die die Jungs natürlich nicht haben. Aber jetzt einfach zu sagen, weil wir aus Ostdeutschland sind und da sozialisiert wurden, hätten wir da irgendwelche Erfahrungen auf unserer Seite, die die nicht haben, das glaube ich eigentlich auch nicht. Gut, es gibt sprachliche Vorteile, russisch, dann sprechen wir zumindest radebrechend Romanes, also man kann irgendwie auch mal mit einem Künstler direkt kommunizieren, wenn es jetzt nicht über das Serbokroatische geht, aber, ach, naja, das werden die sicher irgendwie auch gut gemeistert haben mit Übersetzung dann.

    Lauer: Und waren sie von der Auswahl, 19 Stücke immerhin, sofort überzeugt?

    Neumann: Mir fehlte ursprünglich so ein bisschen die abgefahrene Instrumentalnummer. Das sind halt wirklich alles Gesangstitel, und ich habe dann halt zurückgeschrieben, warum habt ihr nicht eine Instrumentalnummer a la soundso drauf, und da kamen aber ziemlich klare Statements zurück. Wo sie erstens gesagt haben, ein Instrumental haben wir ganz bewusst weggelassen, weil wir wollten quasi die Popmusik aus diesem Zeitfenster beleuchten. Sie haben halt wirklich die Sachen rausgesucht, die Mainstreamkultur waren. Das haben halt alle gehört, das war tatsächlich angesagt, hat ja auch starke westliche Einflüsse gehabt, also war ja gar nicht so diese traditionelle Nische, sondern das ging richtig rum. Und diese Auswahl haben sie ganz bewusst getroffen.

    Lauer: Mit dem, was wir im Westen unter Balkan-Mainstream verstehen, hat die Auswahl aber nicht viel zu tun. Die üblichen Blaskapellen-Geschichten mit den ungeraden Metren, 11/8-Takt und so, sind ja eher nicht dabei. Warum?

    Neumann: Naja, das ist eigentlich der große Unterschied von Jugoslawien und anderen Ostblockländern. In Rumänien, Bulgarien wäre das unvorstellbar gewesen und da hast du auch solche Musik aus dieser Zeit nicht. Dass du einen Soul-Einfluss hast, dass du denkst, du hörst James Brown; Saban Bajramovic, der das ja auch richtig zelebriert hat, also so auf die Bühne gegangen ist und tatsächlich auch diesen Stil aufgegriffen hat. Oder eben, was man an anderen Stellen raushört, so diese Italo-Western-Filmmusikgeschichte, das sind ja ganz klare Geschichten, die aus dem Westen kamen, und die dort einfach eingeflossen sind.

    Lauer: Teilweise glaubt man, Winnetou durch die Prärie reiten zu hören.

    Neumann: Winnetou, genau, ist ja viel in Jugoslawien gedreht worden. Also am Ende hat das auch irgendwas damit zu tun.

    Lauer: Der Albumtitel "Stand up, people" erinnert eher an ein Protestlied von Bob Marley als an Gypsy-Pop, wie es im Untertitel heißt. Ist es denn ein politisches Album?

    Neumann: Nee, ist es letztendlich gar nicht. Es geht in den Texten tatsächlich nicht um Politik, wie das bei den Roma eigentlich in den seltensten Fällen der Fall ist. Also es geht um Alltagsgeschichten, um die Armut, um die Liebe, um die Familie, um die Mutter und so weiter und so fort. Die Namenswahl ist natürlich schon so ein bisschen auch politisch angehaucht, ganz bewusst auch von diesen Oxforder Compilern, die sich das auf ihre Fahnen geschrieben haben und gesagt haben: Hier, steht dazu, das ist eure Kultur und das ist auch gut so und das finden wir auch gut.

    Lauer: Heutzutage hätten Roma in Europa reichlich Gründe, Protestlieder zu schreiben. Wie erging es ihnen denn in Titos Jugoslawien?

    Neumann: Sie sagen: Es war besser. Das ist natürlich jetzt ganz platt, reduziert, kennt man auch aus der DDR, dass die Leute sagen, ach, früher war alles besser. Aber Fakt ist, dass es in den Ostblockländern halt so war, dass Zigeuner, Roma, nicht ausgegrenzt wurden, sondern dass es hieß, wir sind alle ein Volk, es gibt keine Unterschiede. Ob das Kroaten, oder Serben oder Makedonen oder Albaner waren oder eben Roma – es waren Jugoslawen. Und das hat Tito irgendwie geschafft, da auch die Roma zu integrieren. Ein Rom vom Balkan sagt, uns ging's gut damals. Wir hatten unseren Stand, wir waren integriert, wir waren gleichberechtigt, wir hatten Arbeit, also diese ganzen Argumente.

    Lauer: Sie haben erwähnt, dass außerhalb Jugoslawiens die Verbindung von traditioneller mit westlicher Musik regelrecht verboten war. Nun sind sie selber mit einer Roma verheiratet. Die hat das Album ja vermutlich auch gehört. Was sagt sie denn dazu?

    Neumann: Sie hat sich die Platte angehört, richtig. Sie fühlt sich zum Teil an vor 20 Jahre erinnert. Sie kommt aus Rumänien, aber Anfang der 90er, wo das in Rumänien auch rüberkam, so diese orientalisch-westlich-gemischte Gypsy-Pop-Geschichte – in Rumänien halt hieß es Manele. Aber dann gab es eben so diese Töne auch zu hören, die es vorher in Jugoslawien gab, in Rumänien nicht. Sie findet es gut und staunt natürlich, dass... also, völlig ungläubig: Wie jetzt, zwei englische Oxfordstudenten kommen damit an? Wie denn das? Und wie kommen die denn dazu? Und Aha! Aber natürlich findet sie es total klasse, dass so was veröffentlicht wird.