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Sender mit Kultstatus

Die Unabhängigkeit der Presse ist in der Türkei ein heißes Thema. Nicht nur der Staat, auch große Konzerne üben einen enormen Druck auf einzelne Medien aus. Der Istanbuler Radiosender "Acik Radyo" - übersetzt: "Freies Radio" - versucht der Entwicklung etwas entgegen zu setzen.

Von Claudia Hennen | 13.11.2010
    Montagmorgen, kurz nach acht Uhr. Istanbul ist noch im Halbschlaf. Die Moderatoren Ömer Madra und Avi Haligua wälzen hinterm Mikrofon einen dicken Stapel Zeitungen und berichten über die neuesten Entwicklungen im Fall Ergenekon.

    Ergenekon bezeichnet ein angebliches Geheimnetzwerk, eine Art "Staat im Staat". Seit zwei Jahren hält der Prozess gegen vermeintliche Landesverräter die Türkei in Atem. Die Verhaftung zahlreicher Verdächtiger ist höchst umstritten. Für den 65-jährigen Menschenrechtsexperten und Umweltaktivisten Ömer Madra ein Top-Thema:

    "Wir berichten über fundamentale Menschenrechte. Das schließt die Rechte der Natur und unseres Planeten mit ein. Wir behaupten nicht, dass wir objektiv sind - wir sind immer auf der Seite der Schwachen."

    Die tägliche Morgensendung "Acik Gazete", zu deutsch: "Freie Zeitung", ist das Aushängeschild des Istanbuler Radiosenders. Die Moderatoren hinterfragen die türkische Presse kritisch, spiegeln sie mit internationalen und mit Augenzeugen-Berichten. Avi Haligua:

    "Wir haben ein Recht auf unterschiedlichste Meinungen, und das ist nicht selbstverständlich in der Türkei. Wir versuchen zu erfassen, was hinter den Meldungen großer Medienkonzerne steht. Wenn Sie eine englische und eine französische Zeitung nehmen und mit der innertürkischen Presse spiegeln, dann sieht die Geschichte meist ganz anders aus."
    Der 32-jährige Journalist arbeitet ehrenamtlich beim "Acik Radyo", genauso wie die 200 anderen Programmmacher. Nur die Verwaltung und die Sendetechnik beziehen ein Gehalt, insgesamt gibt es 28 Angestellte. Seit sechs Jahren kommt Avi Haligua morgens um halb sieben Uhr in die Redaktion und geht wenige Stunden später zu seinem Broterwerbsjob bei einer Umweltorganisation. 14-Stunden-Tage sind für ihn die Regel.

    "Jemand muss das tun. Dieses Radio ist der einzige wirklich unabhängige Sender in der ganzen Türkei. Wir können mittlerweile wirklich etwas bewirken und diesen Einfluss können wir nicht einfach aufgeben."

    Vor 15 Jahren, am 13. November 1995, ging "Acik Radyo" on Air. Die gemeinnützige Gesellschaft wurde als Kollektiv gegründet, bis heute halten 92 Personen die gleichen Anteile daran. Mittlerweile hören etwa 60.000 Stamm- und bis zu 200.000 Gelegenheitshörer am Tag das Vollzeitprogramm. Ömer Madra ist einer der Gründer und Chefredakteur:

    "Dieses Radio basiert seit sieben Jahren wesentlich auf privatem Sponsoring unserer Hörer, diese stellen 45 Prozent unseres Budgets – neben den Einnahmen aus der Werbung. Diesen Hörern ist es wichtig, dass dieser Sender vom Staat und von großen Medienkonzernen unabhängig bleibt."

    "Offen sein für alle Stimmen, alle Farben und alle Erschütterungen des Universums" – so lautet das Motto. Als 1999 die Erde 100 Kilometer östlich von Istanbul bebte, und mindestens 17.000 Menschen starben, wurde der Istanbuler Radiosender kurzerhand zu einer Art "Katastrophenzentrum" umfunktioniert ...

    Prominente Gäste wie der amerikanische Globalisierungskritiker Noam Chomsky oder der israelische Friedensaktivist Uri Avnery kamen hier genauso zu Wort wie Taxifahrer oder Transvestiten. Auf der Istanbuler Frequenz 94,9 mischen sich Soul und Funk, Pop und Volksmusik. Doch immer wieder bangt "Acik Radyo" um seine Finanzierung. Erol Önderoğlu, Korrespondent von "Reporter ohne Grenzen" und Journalist beim EU-finanzierten türkischen Onlinemagazin bianet.org merkt an:

    "Es ist bewundernswert, dass AR bereits so lange aus eigener Kraft existiert. Zum anderen aber zeigt es auch, dass es privaten Organisationen in der Türkei an Unterstützung mangelt für solche alternativen Medien."

    Im September 2000 wurde der Sender durch die türkische Medienaufsichtsbehörde für zwei Wochen geschlossen, nachdem er eine Kurzgeschichte von Charles Bukowski gesendet und damit angeblich gegen die Sitten verstoßen hatte. Fünfzehn Tage später eröffnete das Programm wieder, bei dem Gedanken daran muss Ömer Madra schmunzeln:
    "Wir spielten wunderbarer Protestsong der Roma, über einen Limonadenverkäufer, der singt: Niemand kann mir was! Und meine ersten Worte waren: Wo waren wir stehen geblieben? Wissen Sie, so etwas hält einem am Leben ... "