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Sendereihe "Amok"
Teil 2: Überleben

Menschen, die den Amoklauf eines anderen überlebt haben, entwickeln oftmals eine posttraumatische Belastungsstörung. Immer wieder durchleben sie die quälenden Erlebnisse. Da scheint intensive psychologische Behandlung fast ein Muss. Aber: Manchmal kann Therapie hier auch schaden.

Von Marieke Degen | 21.04.2014
Eine verzweifelte junge Frau hockt auf einem Bett. Im Vordergrund: Tabletten.
Seelen-Medizin oder eher schädlich? Der Nutzen von Psychotherapie bei posttraumatischer Belastungsstörung ist umstritten. (picture-alliance/ dpa - Maxppp Bertrand Bechard)
Die Zeitungsausschnitte. Die vielen Briefe, die Karten. Marie-Luise Braun hat alles in einen rosa Schuhkarton gepackt, damals, kurz nach dem Amoklauf. Heute öffnet sie die Kiste zum ersten Mal.
"Liebe Frau Braun, wir danken Ihnen für Ihren Einsatz und Mut, wir danken, dass Sie für uns da waren. Wir brauchen Sie. Ihre Klasse 9c."
"Und dann war's halt doch leider die Realität"
Am 11. März 2009 stürmt ein 17-Jähriger die Albertville-Realschule in Winnenden. Er erschießt acht Schülerinnen, einen Schüler und drei Lehrerinnen. Auf der Flucht vor der Polizei tötet er einen Passanten und zwei Männer in einem Autohaus. Dann tötet er sich selbst.
"Also oft denke ich noch, das war nur ein Film. Ich denke oft, das kann nicht passiert sein. Das war wie ein Film. Ich sehe das wie einen Film vor mir. Und dann war's halt doch leider die Realität."
Die letzte Schlacht.
Amok, Teil 2: Überleben.
Von Marieke Degen.
Der 11. März 2009 ist ein Mittwoch. In der dritten Stunde unterrichtet Marie-Luise Braun Deutsch, in der Klasse 9c. Die Schüler sollten zu Hause einen Text von Manfred Spitzer zusammenfassen, dem bekannten Hirnforscher. Es geht um die Frage, ob Computerspiele aggressiv machen.
"Und wir waren gerade dabei, darüber zu diskutieren. Machen Computerspiele – exzessive Computerspiele, Killerspiele - Jugendliche aggressiv? Und da gab es durchaus verschiedene Meinungen in der Klasse, die Diskussion lief hin und her und in diesem Moment öffnet sich die Tür und der Täter kommt rein, und schießt."
"Ich dachte im ersten Moment, das ist jemand, der möchte sich einen Spaß erlauben, und wollte vorgehen und ihn zur Rede stellen, und dann habe ich gemerkt, dass das keine Platzpatronen sind, sondern richtige Patronen, ich wurde am Arm getroffen und die Kugeln schlugen in die Tafel rund um mich ein."
Marie-Luise Braun kennt den Täter nicht. Ihre Schüler schon. Sie sind mit ihm zusammen in die Grundschule gegangen. Als er die Waffe auf sie richtet, sagt er kein Wort.
"Ein eiskalter Gesichtsausdruck, unbewegt, den ich auch nie vergessen werde. Ich hab erst immer gedacht, das kann nicht wahr sein. Und dann habe ich ja gesehen, was passiert war, und ich hab mir immer wieder gesagt, du musst jetzt die Ruhe bewahren, du musst die Ruhe bewahren."
Die Schüler verschanzen sich unter den Tischen. Als der Täter kurz den Raum verlässt, gelingt es der Lehrerin, die Tür zuzuschließen. Der Täter kommt zurück, schießt durch die Tür. Dann ist er weg.
"Und dann bin ich halt als erstes zu den verletzen Schülern, also – zu den Schülern, die Chantal war sofort tot. Das habe ich dann gesehen. Die lag regungslos auf dem Tisch. Und die zwei anderen Mädchen haben noch geatmet. Die lagen unterm Tisch. Und die Jana Schober, die lag in einer riesigen Blutlache. Und ich weiß nicht, ob ich das Bild hier beschreiben soll, das war das allerschlimmste Bild, und das geht einem nie mehr aus dem Kopf. Da kam die ganze Gehirnmasse aus dem Kopf. Sie lag auf dem Boden und aus ihrem Kopf quoll diese – wie man so Bilder vom Gehirn, wie man die sieht, dass die ganze Masse rauskam. Und sie atmete noch dazu. Und ich hab immer gedacht: Kann ich das jetzt wieder reindrücken? Kann ich das in ihren Kopf reindrücken?"
Drei Mädchen aus der 9c sterben. Sechs weitere Schüler aus der Klasse sind schwer verletzt. Marie-Luise Braun hat einen Streifschuss am Arm.
"Wir mussten ja dann, als der Notarzt kam, aus dem Zimmer, und dann mussten wir aus dem Klassenzimmer gehen und im Flur lagen ja die Leichen von den zwei Lehrerinnen, da mussten wir dran vorbei. Und da habe ich immer noch nicht geglaubt, dass die tot waren. Das habe ich gar nicht geglaubt, das habe ich nicht realisiert."
Ein Amoklauf. Es kann überall passieren, am Arbeitsplatz, auf dem Sommercamp, in einer Schule. Viele Menschen sind tot. Für die anderen beginnt der lange Kampf zurück ins Leben. Für die Hinterbliebenen und für die, die gerade so davongekommen sind. Für ihre Eltern, Kinder, Geschwister und Freunde.
"Wir konnten schon sehr klar inzwischen nachweisen, dass die von Menschenhand verursachten Gewalttaten die höchsten Störungsraten nach sich ziehen."
Georg Pieper ist Traumatherapeut, er leitet das Institut für Traumabewältigung im hessischen Friebertshausen. Fachleute wie er teilen Traumata in drei Kategorien ein: da gibt es einmal die Naturkatastrophen, zum Beispiel Erdbeben und Tsunamis; dann technische Unglücke wie etwa der ICE-Unfall von Eschede. Und es gibt Gewalt durch andere Menschen: sexueller Missbrauch, Überfälle, Amokläufe. Ein Amoklauf ist keine schicksalhafte Naturgewalt. Es gibt jemanden, der all das gewollt hat. Oft kennen die Opfer den Täter. Für sie bricht eine Welt zusammen.
"Bei von Menschenhand verursachten Gewalttaten, da hadern wir natürlich sehr stark, und wir können das einfach nicht fassen und nicht glauben und wollen keinen Frieden damit schließen, dass ein Mensch so viel Unglück über die Familie, über die Schule, über die Stadt gebracht hat."

Trauernde stehen am Tag nach der Tat vor der Albertville-Realschule in Winnenden.
Trauernde stehen am Tag nach der Tat vor der Albertville-Realschule in Winnenden. (AP)
Georg Pieper behandelt bis heute die Opfer zweier Amoktaten: Aus Meißen, wo 1999 ein Neuntklässler seine Lehrerin vor den Augen der Mitschüler erstochen hat. Und aus Erfurt, wo im Jahr 2002 ein ehemaliger Schüler zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Sekretärin und einen Polizisten erschoss.
"Ich habe viele Menschen erlebt, die, man muss es wirklich sagen, die den Anschluss an ihr normales Leben vollkommen verloren hatten durch dieses eine Ereignis."
Die gesamte Albertville-Realschule versammelt sich im angrenzenden Freibad. Es herrscht Ausnahmezustand: Überall Polizei. Eltern, die verzweifelt ihre Kinder suchen. Ein Schüler aus der 9c bemerkt jetzt erst den Bauchdurchschuss.
"Wir wurden dann mit einem Bus nach Birkmannsweiler in eine Turnhalle gefahren, also meine Klasse, und Eltern waren da auch dabei, und aus welchen Gründen auch immer sollten wir da in der Sporthalle in einen Extraraum. Warum weiß ich bis heute nicht, und dann kam dann auch vom Roten Kreuz eine Betreuerin oder Nothelferin und die war dann mit uns in dem Raum. Und alle saßen da ganz stumm und haben versucht, vielleicht mit ihrem Handy mit ihren Eltern zu telefonieren, falls die Eltern noch nicht da waren. Und die Eltern von einer Schülerin, von der ich wusste, dass sie tot war, saßen da auch und haben die ganze Zeit gesagt, 'sie meldet sich nicht, sie meldet sich nicht auf dem Handy' – ich wusste, dass das nicht geht. Dass sie tot ist. Ich hatte das kurz vorher von der Polizei erfahren. Ich ging dann raus, ich konnte das nicht mehr ertragen."
Krisenpsychologe Pieper: Keine Therapie kurz nach der Tat!
Die ersten Stunden nach der Katastrophe. Georg Pieper kennt sie gut, er hat sie selber immer wieder erlebt: nach dem Amoklauf von Erfurt, nach Unglücken bei der Bahn, nach Unfällen in Firmen. Sein Team bietet psychische Erste Hilfe an. Die Bedürfnisse der Betroffenen sind immer dieselben.
"Sie brauchen am allermeisten einen schützenden Raum und die Versicherung, dass das Schlimme, was jetzt gerade passiert ist, dass das vorbei ist. Sie brauchen zu trinken, sie brauchen möglicherweise auch ein bisschen was zu essen, sie brauchen eine Decke gegen das Zittern. Sie brauchen Informationen über das, was gelaufen ist, und sie brauchen Kontakt zu ihren Angehörigen."
Was in der ersten Zeit nicht gemacht werden sollte, sagt er, ist jegliche Form von Therapie.
"Also es bietet sich zum Beispiel nicht an, nachzufragen, konkret, was haben Sie genau gesehen, gehört, gerochen, also alle Dinge, die viel, viel später in Therapien eine Rolle spielen, die können den Menschen hier eher schaden, die nerven sie, und ich habe also … gerade von Erfurt zum Beispiel habe ich viele Rückmeldungen von Schülern und auch von Lehrern bekommen, die sagten, also was ich da erlebt habe am Anfang, wie die Psychos, so sagen die dann natürlich, wie die Psychos da mich gelöchert haben, das hat mich sowas von genervt, ich geh nie wieder zu einem Psychologen."
Die Kollegen hätten es gut gemeint, sagt Georg Pieper. Man habe damals, vor zehn, 15 Jahren, noch nicht so viel Ahnung gehabt von psychologischer Notfallhilfe. Damals war es auch weltweit üblich, in den ersten Tagen nach der Katastrophe ein sogenanntes Debriefing abzuhalten. Das ist eine mehrstündige Gruppensitzung, in der die Betroffenen ihre Erlebnisse schildern - alle Fakten, alle Empfindungen, alle Emotionen. Das Verfahren sollte die Teilnehmer davor bewahren, später an einer posttraumatischen Belastungsstörung, kurz PTBS zu erkranken.
"Ich habe das selber erlebt, in Meißen noch, da kam ein Trupp der Bundeswehr angeflogen und hat ein Debriefing durchgeführt, relativ kurz nach dem Ereignis, und ist danach wieder mit dem Hubschrauber weggeflogen und hat damit auch eine in meinen Augen fatale Botschaft abgegeben. Nämlich die Botschaft: So, ihr seid jetzt versorgt, und jetzt muss auch Ruhe sein, und wer also jetzt noch Symptome hat, bei dem kann was nicht stimmen."
Erst in den 2000er-Jahren begannen die Experten umzudenken. Studien – unter anderem mit Opfern des Terroranschlags vom 11. September 2001 - zeigten, dass Debriefings zu so einem frühen Zeitpunkt nicht viel bringen. Selbst wenn die Teilnehmer das Debriefing gut fanden: Symptome wie Schreckhaftigkeit und Albträume sind davon nicht verschwunden. Das Risiko für eine PTBS blieb unverändert.
"Die Debriefings, ich würde sie nicht generell ablehnen, aber sie müssen differenziert eingesetzt werden. Und wir wissen heute, dass diejenigen Betroffenen, die am Anfang eine sehr starke Symptomatik zeigen, die also wirklich sehr stark leiden, dass für die ein Debriefing unter Umständen eine Überforderung darstellt. Die können dann von ihren eigenen Gefühlen so überflutet werden, wenn sie dann auch die Gefühle von allen anderen noch mit dazu hören, dass sie wirklich dekompensieren, sagen wir, dass sie so zusammenbrechen, psychisch zusammenbrechen, dass es noch schlimmer ist als vorher. Und das ist nun wirklich nicht der Sinn der Sache."
In den ersten Stunden nach der Katastrophe, für die psychische Erste Hilfe brauche man nicht unbedingt Psychologen, sagt Georg Pieper. Mit der entsprechenden Fortbildung kann das jeder: Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Lehrer. Sie gehen auf die Betroffenen zu und bieten ihre Hilfe an. Sie hören zu, geben Informationen.
"Das hört sich sehr wenig an vielleicht. Aber ich weiß es aus den Rückmeldungen vieler Menschen, dass die sagen, das tut einfach gut, also jemand zu haben in diesem ganzen Chaos, der weiß, wo es langgeht."
Marie-Luise Braun ist mit ihren Schülern in der Turnhalle. Zu Hause wartet ihre Tochter, krank vor Angst. Ihr Mann irrt durch Winnenden; es dauert Stunden, bis er sie findet. Als sie nach Hause kommen, liegen Blumen vor der Haustür. Am nächsten Tag treffen sich alle in der Stadthalle.
"Schüler, Eltern, Betroffene - wer das Bedürfnis hatte, dorthin zu kommen, konnte kommen. Und es waren jede Menge Seelsorger, Psychologen, Rote Kreuz Leute, Ärzte vor Ort. Und das, fand ich, war eine sehr gute Sache, ich glaube, das hat sehr vielen Leuten geholfen."
"Die Schüler wollten nicht mit dem Rücken zur Tür sitzen"
Marie-Luise Braun kann nicht mehr schlafen. Sie hat Magendarmprobleme. Ihr Kopf dreht sich, ihr Herz rast, und ihre Muskeln verkrampfen so stark, dass sie kaum laufen kann vor Schmerzen. Trotzdem geht sie jeden Tag in die Schule.
"Die Schüler wollten nicht mit dem Rücken zur Tür sitzen, ich musste oft abschließen, was man eigentlich nicht darf, aber das hab ich dann doch gemacht. Sobald im Nachbarzimmer ein Tisch umfiel oder verschoben wurde, konnte regelrechte Panik ausbrechen. Oder wenn es an der Tür klopfte. Oder wenn irgendein lautes Geräusch zu hören war. Manche Schüler standen da schon halb im Fenster und wollten rausspringen."
Nach einem traumatischen Ereignis stehen alle unter Schock. Alle schlafen schlecht und sehen die Tat immer wieder vor sich. Doch viele Menschen schaffen es von sich aus, diesen Zustand zu überwinden. Die schmerzhaften Erinnerungen bleiben zwar – doch nach ein paar Monaten finden sie zurück ins Leben.
Und dann gibt es diejenigen, für die der Schrecken nicht aufhört. Die durch verschiedene Reize – das können Geräusche sein oder Gerüche – immer wieder von dem Ereignis eingeholt werden. Die eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln.
"Das muss man sich so vorstellen, dass die Leute so kurze Flashbacks haben an die Momente des Traumas, die sind meistens visuell, die sind entweder wie ein kurzer Film oder auch manchmal wie Fotografien. Das heißt, sie sehen Sachen, die sie im Trauma gesehen haben, die spüren auch das gleiche, die können die gleichen Körperempfindungen spüren, die riechen das gleiche, die spüren auch die gleichen Schmerzen, und vor allem, ganz wichtig ist, die gleichen Emotionen kommen wieder."
Tanja Michael, Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des Saarlandes. Opfer von Gewalttaten sind besonders gefährdet.
"Wenn sie im Trauma gedacht haben, ich sterb' gleich, ich werd' gleich umgebracht, ich werd' erschossen, das überleb' ich nicht, dann kommt das immer in diesen Intrusionen auch wieder mit. Und die sind eben unkontrollierbar, diese Intrusionen, die Leute haben da keine Kontrolle drüber, die tauchen auf, je nach Schwere der Störung einmal am Tag, oder manchmal auch 20 mal am Tag."
Eine Katastrophe löst extreme Stressreaktionen im Körper aus. Das Erlebte wird praktisch ins Gedächtnis gebrannt. Ein uralter Mechanismus: Die Menschen sollen sich gut daran erinnern, um ähnliche Gefahren in Zukunft zu vermeiden. Normalerweise werden die Erinnerungen später geordnet, im autobiografischen Gedächtnis als Vergangenheit markiert. Doch bei Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, vermuten Traumaforscher, hat diese Einordnung nicht stattgefunden. Ihr Leben bleibt im Trauma gefangen.
"Diese Erinnerungsfähigkeit geht verloren, die Fähigkeit, den Schrecken in einer Zeit und Ort zu lokalisieren."
Ein Leben in permanenter Alarmbereitschaft
Thomas Elbert, Professor für klinische Psychologie und Neuropsychologie an der Universität Konstanz.
"Der Kontext fehlt mir, und plötzlich zieht dieser Schrecken in die Gegenwart ein."
Aus Angst, von den eigenen Gefühlen überflutet zu werden, versuchen die Betroffenen alles zu vermeiden, was sie an das Trauma erinnert. Sie sprechen nicht darüber, sie schotten sich ab, lassen keine Gefühle mehr zu. Ihr Körper befindet sich dabei in permanenter Alarmbereitschaft. Es gibt nur einen Weg, den Teufelskreis zu durchbrechen: Das traumatische Ereignis muss richtig ins autobiografische Gedächtnis eingeordnet werden. Und dafür müssen sich die Patienten ihrem Trauma noch einmal stellen.
Nach dem Amoklauf kommen Psychologen aus ganz Deutschland nach Winnenden. Marie-Luise Braun findet schnell Hilfe bei einer Traumatherapeutin.
"Ich musste dann – was mir jetzt einfällt, gleich am ersten oder zweiten Tag danach einen Sitzplan schreiben, genauen Sitzplan schreiben, wie die Schüler in dem Klassenzimmer an dem Tag gesessen haben. Und mir ist das sehr schwer gefallen, aber ich hab's hinbekommen, und ich musste dann auch sagen, welche Schüler welche Verletzungen hatten und was ich dabei empfinde, wenn ich das aufzähle. Und da kamen dann natürlich diese körperlichen Symptome wieder hoch, als ich das sagen musste. Etwa so: 'Was empfinden Sie, wenn Sie beschreiben, wie Sie die Jana Schober da liegen sahen?' Und dann hatte ich sofort Verkrampfungen. Ich konnte kaum sprechen. Herzrasen. Und so wurde es dann durchgearbeitet. Und sie gab mir dann aber Tipps, was ich tun kann, wenn ich die Bilder vor mir sehe. Also das wurde mit der Zeit besser, aber es geht nie weg. Wenn ich zum Beispiel das Wort Gehirn höre oder lese, habe ich sofort dieses Bild vor mir mit der Jana. Wie sie am Boden liegt. Und das krieg ich nicht weg."
Auch wenn es schwer traumatisierte Menschen immer schon gegeben hat: Die offizielle Diagnose 'posttraumatische Belastungsstörung' steht erst seit den 80er-Jahren. Inzwischen geht man davon aus: Es gibt für Betroffene nur eine wirklich wirksame Therapie, die sogenannte traumafokussierte Behandlung. Der Therapeut muss die traumatische Situation mit seinem Patienten bis ins kleinste Detail durcharbeiten.
"Das ist ja praktisch ein Gedächtnis, das hier korrigiert werden muss. Und dann gibt es praktisch nur eine Möglichkeit, das Gedächtnis neu zu organisieren, das heißt, ich muss wieder wachrufen, in Erinnerung rufen, was da im Einzelnen passiert ist. Wo welcher Schrecken hingehört."
Es gibt dafür ganz unterschiedliche therapeutische Techniken. Thomas Elbert hat zusammen mit Kollegen von der Universität Konstanz die Narrative Expositions-Therapie entwickelt, in der Menschen lernen, ihre gesamte Lebensgeschichte zu erzählen – mit allen schönen und schrecklichen Ereignissen.
"Um zu wissen, wann mit mir was passiert ist, muss ich's in Worte fassen. Ich muss mir das vom impliziten ins explizite Gedächtnis holen, also von der Form, dass es abgespeichert ist in Bildern und in Geräuschen und Gerüchen und Gedanken und Gefühlen, die ich damals hatte, in dieses sprachlich zugängliche autobiografische Gedächtnis. Ich muss praktisch wie ein Tagebuch schreiben: Mir ist das dann und dann dort passiert."
Thomas Elbert und sein Team betreuen Menschen in Kriegsgebieten, unter anderem im Norden Ugandas und im Kongo, und sie behandeln Flüchtlinge in Deutschland. Ihre Patienten haben gleich mehrere Traumata erlebt: Sie haben ihre Angehörigen verloren, wurden vergewaltigt und gefoltert. In der Narrativen Expositions-Therapie besprechen Patient und Therapeut alle Traumata entlang der Biografie. Der Ansatz ist sehr erfolgreich: Studien haben gezeigt, dass sich die Menschen schon nach wenigen Wochen deutlich besser fühlen.
"Es ist einfach so: Wenn sie in diesen Krisen- und ressourcenarmen Regionen arbeiten, dann haben Sie nicht die Möglichkeit zu sagen, Sie erholen sich mal ein bisschen und dann gehen wir das sozusagen durch. Nein, Sie haben nur fünf Sitzungen vielleicht und nicht mehr, und in der Zeit kann ich das anbieten. Ich kann nicht durch alle deine schrecklichen Erlebnisse gehen, aber ich kann durch die wesentlichsten mit dir zusammengehen. Und wir haben nicht erwartet, dass das so effektiv ist."
In Deutschland, klagt der Psychologe, herrsche nach wie vor die Sichtweise, dass die Patienten erst stabilisiert werden müssen vor der Konfrontation. Therapeuten bringen ihnen dann zum Beispiel bei, die schrecklichen Erinnerungen mental in einen Tresor zu sperren. Kurzfristig kann das den Patienten helfen, aber:
"Das Problem bei dieser Stabilisierung, die da vorgeschaltet wird, ist, dass häufig, und fast in der Regel würde ich sagen, diese Stabilisierungsphasen bis über Jahre hinweg durchgezogen werden und Personen dann über Jahre hinweg leiden müssen und es dann praktisch nie zur Traumafokusbehandlung kommt."
Offenbar sind einige Therapeuten selbst nicht bereit dazu.
"Das eigentliche Ziel soll doch auf jeden Fall sein die Auseinandersetzung mit dem, was passiert ist. Und es gibt leider sehr viel Therapien oder Therapeuten, die das vermeiden. Die also selbst diese Vermeidungstendenzen haben, und damit wird dem Patienten nicht geholfen, mit Sicherheit nicht."
Eine Traumatherapie verlangt Menschen mit einer PTBS viel ab. Viele haben große Angst, sich den Ereignissen zu stellen. Und in den ersten Wochen der Therapie geht es ihnen meistens schlechter als vorher. Wissenschaftler suchen deshalb schon seit Jahren nach Medikamenten, die die Betroffenen in der Therapie unterstützen könnten. In Saarbrücken erforscht Tanja Michael einen der Wirkstoffkandidaten: das Cortisol.
"Bekannt ist es eigentlich als das sogenannte Stresshormon. Das heißt, Cortisol wird ausgeschüttet unter Stress und ist dann an den ganzen Körperreaktionen beteiligt, die der Körper braucht, um adäquat auf Stress zu reagieren."
In einer traumatischen Situation wird der Körper regelrecht mit Cortisol geflutet. Es wirkt dabei gleich zweifach auf das Gedächtnis. Erstens: Es verbessert die Lernfähigkeit. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum sich traumatische Erinnerungen regelrecht ins Gedächtnis einbrennen. Zweitens: Cortisol erschwert den Abruf von älteren Gedächtnisinhalten – schließlich spielte es in dem Moment keine Rolle, was es gestern zu essen gab oder wie mein erster Wellensittich hieß. Tanja Michael und ihr Team wollen sich diese zweifache Wirkung zunutze machen: Erstens könnte es, zu Beginn der Therapie, dabei helfen, schreckliche Erinnerungen abzuschwächen.
"Die Idee ist dann, wenn dann halt die Patienten in der Woche Cortisol bekommen, dass sie dann wenigstens schon so eine Symptomerleichterung haben, so eine kleine, und dass es ihnen ein bisschen einfacher gemacht werden kann, dadurch."
Zweitens könnte Cortisol während der Therapie eingesetzt werden. Und zwar dann, wenn die Patienten ihre Schuld- und Angstgefühle überwinden, wenn ihnen etwa bewusst wird, dass sie nicht anders hätten reagieren können. Dann könnte Cortisol dabei helfen, diese neue Version im Gedächtnis zu verfestigen. Doch der Ansatz birgt auch Risiken.
"Wenn man Cortisol in der Therapie gibt, dann soll es das neue Gedächtnis verbessern. Wenn Ihre Therapie gut läuft, ist das super. Wenn Ihre Therapie aber schlecht läuft und es zu keiner Verbesserung des Trauma-Ereignisses gekommen ist, in der therapeutischen Sitzung, und Sie dann noch vorher Cortisol gegeben haben, dann wird dieses neue traumatische Ereignis noch mal besser gespeichert ins Gedächtnis. Das heißt, dann tun Sie dem Patienten was Schlechtes."
Es finden zwar schon erste klinische Studien statt, in denen PTBS-Patienten mit Cortisol behandelt werden. Doch Tanja Michael will vorerst lieber die grundlegenden Wirkmechanismen weiter erforschen – an psychisch gesunden Probanden.
"Zu diesem Zeitpunkt kann man für Cortisol sicher keine Behandlungsempfehlung abgeben. Dazu ist das Gebiet zu jung, dazu weiß man noch nicht, wann es genau gegeben werden sollte, in welchen Dosen es genau gegeben werden sollte, ob es für alle Patienten gegeben werden sollte."
Bislang hat es noch kein einziger Wirkstoff in den klinischen Alltag geschafft.
"Die perfekte Antitrauma-Pille gibt es nicht und die wird es auch nie geben",
sagt Tanja Michael.
"Das ist mein Verständnis von PTBS, dass das die Störung ist oder durch das Trauma bedingt, dass da Menschen einfach in ihren Grundfesten erschüttert worden sind. Da ist alles häufig für die zusammengebrochen, an das, was sie mal geglaubt haben. Das ist alles auf einmal zusammengekracht wie so ein Kartenhaus. Und da muss man einen Umgang mit finden, und das kann kein Medikament für einen machen."
"Wir können das nicht wirklich so heilen, sodass man sagt, das ist jetzt weg. Das geht mit Sicherheit nicht",
sagt Georg Pieper.
"In erster Linie müssen die Menschen lernen, damit zu leben, mit der Erinnerung zu leben, sie müssen es lernen, das zu akzeptieren, dass ihnen das passiert ist und sie müssen in der Lage sein, es sich wirklich anzuschauen, nicht zu vermeiden, sondern es sich anzuschauen und zu sagen, jawohl, das alles ist in meinem Leben passiert und ich kann mir das jetzt anschauen, ohne davon emotional überflutet zu werden."
Akzeptieren, was passiert ist. Gerade das fällt Opfern von Amokläufen besonders schwer.
"So habe ich diese Menschen erlebt, dass sie innerlich sehr dagegen gekämpft haben, dass sie verzweifelt waren, dass sie voller Wut waren, voller Enttäuschung, voller Verzweiflung."
"Das hätte nicht sein dürfen. Warum bin ich an diesem Tag in die Schule gegangen, warum habe ich da gesessen? Wenn die Menschen so hadern damit, dann werden sie niemals erlöst werden. Dann werden sie immer weiter leiden."
Manche, sagt Georg Pieper, kommen erst Jahre nach der Tat. Wie der Schüler aus Erfurt, der zusammenbrach, als er bei der Bundeswehr plötzlich eine Waffe in der Hand hielt. Nicht jeder findet zurück.
"Ich kenne auch einige, die daran so festgehalten haben, dass sie wirklich in ihrem Leben total gescheitert sind oder krank geworden sind oder sogar gestorben sind."
Marie-Luise Braun spricht heute kaum noch über den Amoklauf. Das Ganze ist jetzt fünf Jahre her. Die meisten wollen nichts mehr davon wissen.
"Also ich habe jetzt erst wieder von Bekannten diese Woche gehört, dass jemand sagt, nach fünf Jahren muss das abgehakt sein. Und solche Aussagen, die kann ich halt nicht nachvollziehen. Ich denke, wer das erlebt hat, der kann das auch nicht nach fünf Jahren abhaken."
Im Moment geht es ihr nicht gut. Es ist März, der fünfte Jahrestag steht bevor. Die Schlafstörungen, die Albträume. Das Herzrasen, der Schwindel. Die Muskelverkrampfungen, die Bauchschmerzen – alles wieder da. Wie damals, kurz nach dem Amoklauf. Sie hat damals keinen Tag in der Schule gefehlt.
"Ich glaube, dass mir das geholfen hat. Und ich glaube, dass ich da für sie vielleicht auch ein bisschen ein Vorbild war. Wenn's schwierig wurde im Unterricht, und sie konnten sich nicht richtig konzentrieren, oder hatten keine Lust, oder haben gefehlt, und ich hab dann zu ihnen gesagt, schaut, ich bin auch da, ich arbeite auch, wir müssen jetzt das tun, dass es wieder vorwärts geht, und dann ging's wieder."
Marie-Luise Braun war fast 40 Jahre lang Lehrerin für Deutsch und Englisch an der Albertville-Realschule in Winnenden. Nach dem Amoklauf hat sie die Klasse 9c noch knapp anderthalb Jahre begleitet, bis zur mittleren Reife. Dann ging sie in den Ruhestand. Beim Abschied sagte die Klassensprecherin: Wir verdanken Ihnen alles.
Die letzte Schlacht. Amok, Teil 2: Überleben.
Von Marieke Degen.
Produktion: Axel Scheibchen
Redaktion: Christiane Knoll