Atmosphärisch konkret beginnt auch Carlo Feltrinellis Buch. Er erinnert sich an einen Waldspaziergang mit den Eltern auf dem Familiengut in Österreich, Weihnachten 1967. Da war er fünf Jahre alt. "Mein Vater steckte sich eine filterlose Virginia an", schreibt er. Es scheint, als könnte man sich dem ebenso kurzen wie legendenumwobenen Leben des revolutionären Millionärs am besten mit Hilfe eines exklusiven Accessoires nähern:
Ich wollte keinen Titel haben, der von Vater oder Sohn sprach, das war mir etwas peinlich. Secret Service - ein Lapsus -, Senior Service hat mir musikalisch gefallen, und das waren die Zigaretten meines Vaters, die er immer geraucht hat. Musikalisch hat das zu tun mit Secret Service und dem Service an dem Senior. Das hat für mich gepasst. Und ich mag den Titel eigentlich sehr.
Waren diese Lieblingszigaretten auch eine der wenigen konkreten Erinnerungen an Ihren Vater?
Nein, ich habe wichtige private Erinnerungen, die sehr stark sind. Aber die Zigaretten waren immer ein Leitmotiv, auch der Citroën und die Mischung zwischen dem Geruch der Zigaretten und dem des Citroën, ich habe sehr oft gekotzt, wenn ich mit ihm zusammen war. Ich habe viele schöne Erinnerungen, und die Zigaretten sind da eine kleine Sache.
Sie beschreiben am Anfang die Geschichte Ihrer Familie. Sie ist immer eine der ersten Familien des Landes gewesen, eine Industriellendynastie. Ich hatte den Eindruck, dass Ihre Familiengeschichte die Wechselfälle der turbulenten italienischen Geschichte widerspiegelt - auch der Kontakt Ihrer Großmutter zum Duce und zum letzten König. Da gibt es eine sehr bewegende Szene, wo der letzte König Vittorio Emanuele sich von ihr verabschiedet, bevor er ins Exil geht.
Ja, meine Familie war in den zwanziger Jahren eine sehr wichtige Industriellenfamilie, die auch sehr international war. Mein Großvater, der ein liberaler Mensch war, hatte Schwierigkeiten mit Mussolini, mit dem Faschismus damals. Meine Großmutter war Monarchistin und hatte eine innige Beziehung mit dem letzten König Italiens. Nach dem Referendum zwischen Republik und Monarchie, wo die Republik gewonnen hat, und der König im Exil war, in Portugal, ist sie sehr oft nach Portugal gegangen, um den König zu treffen. Mein Vater war damals schon Antifaschist, und man kann sich denken, was für eine Beziehung da hervorkam zwischen meinem Vater und meiner Großmutter.
Carlo, Giangiacomo Feltrinellis einziger Sohn, ist heute 39. Gemeinsam mit seiner Mutter Inge Schoenthal-Feltrinelli leitet er den Verlag Giangiacomo Feltrinelli Editore. Neben Mondadori und Einaudi, die fusioniert haben, gehört er zu den größten und bedeutendsten Italiens. Ein unabhängiger, linker Verlag, 1954 hervorgegangen aus einer Taschenbuchkooperative der kommunistischen Partei Italiens. Nach den Jahren des Faschismus ging es darum, den Anschluss an die Moderne wiederzufinden. Literarische Klassiker und Bücher zur Arbeiterbewegung sollten schnell und preiswert möglichst viele Leser erreichen. Feltrinelli bewies sein Talent für die Distribution. Noch heute existieren 76 verlagseigene Buchhandlungen.
Parallel zu den Parteiaktivitäten reiste der Jungverleger im Citroën durch ganz Europa, um Archivalien für seine Bibliothek der Arbeiterbewegung zu sammeln. Sie wurde bald so bedeutend, dass sich sogar die KPdSU für sie interessierte. Als Istituto Feltrinelli ist sie öffentlich zugänglich.
Carlo Feltrinelli erzählt stilistisch brillant und in Montageform eine zutiefst italienische Geschichte, eine storia italiana. Als sein Buch vor zwei Jahren in Italien erschien, erregte es großes Aufsehen. Denn der Mythos Feltrinelli ist seit 1972 im Bewusstsein des Landes virulent. Mit "Senior Service" gelingt über das Charakterbild seines Vaters hinaus, das Carlo mit Distanz und doch voller Sympathie und gelegentlicher Wehmut zeichnet, eine atemberaubende Darstellung der italienischen Nachkriegsgeschichte.
Fast zehn Jahre hatte er recherchiert, Archive in Washington, Moskau, Berlin und Athen besucht. Sein Vater befand sich ständig im Visier des CIA. Der amerikanische Geheimdienst mischte in der italienischen Politik mit, indem er eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten jahrzehntelang verhinderte. Italien war lange Zeit eine bloc kierte Demokratie. Das mag einen gewissen nationalen Hang zum Anarchismus erklären.
Mitglied des internationalen Jet Set, Fotomodell für die Männer"Vogue", zugleich der erste, der 1967 Jassir Arafat interviewte und bei Fidel Castro ein- und ausging: Der 1926 geborene Giangiacomo verband all diese Widersprüche in seiner Person. Schon als junger Mann gehörte der Industriellenerbe zu den wichtigsten Geldgebern der kommunistischen Partei PCI. Mit 19 war er ihr beigetreten. Woher kam diese frühe Liebe Feltrinellis zur Literatur?
Er war wie gesagt ein sehr, sehr reicher Mann, und er war ein linker Mann. Und er hat gesagt: Ich tue etwas mit meinem Geld, das auch für andere wichtig ist. Man muss bedenken, dass damals Italien ein sehr provinzielles Land war. Und einen Verlag zu machen, war kein philanthropisches Projekt, aber ein gesellschaftliches. Er war ein Entrepreneur, aber ein linker Entrepreneur. Und diese Kontradiktion zwischen Kommunist zu sein und ein reicher Mann zu sein, kann man in Deutschland wahrscheinlich nur sehr schwer verstehen. In diesem Sinn ist es eine sehr italienische Geschichte. Diese Kontradiktion, die sicher da war, war eine kreative Kontradiktion.
Es war eine Idee der kommunistischen Partei, einen Verlag zu gründen mit niedrigen Preisen und Klassiker herauszubringen. Als dieser Verlag zu Ende kam, hat meinen Vater seinen eigenen Verlag gegründet: "Giangiacomo Feltrinelli Editore".
Mit sehr unorthodoxen Titeln, sehr vielseitigen und internationalen. Ich glaube, das war das Erfolgsrezept.
Ja, dieser Verlag kam gerade in eine große Entwicklung von Italien, auch ökonomisch, auch politisch, man muss denken, es war zwischen 1955 und 1956 gerade mit der ungarischen Krise. Und mein Vater als linker Mann war sofort sehr kritisch. Er wollte keine Division bringen, aber er wollte die neuen Ideen der sozialistischen Länder holen und interpretieren und Antworten geben. Und er war in diesem Sinn nicht ein Parteiverleger. Und dann kam eben "Doktor Schiwago", das war ein großer Bruch, ein großer Erfolg. Der erste Bestseller unserer Zeit. Das brachte einen großen Konflikt mit der Partei.
Die Vorgeschichte der Veröffentlichung von "Doktor Schiwago" nimmt einen sehr großen Teil des Buches ein. Können Sie kurz sagen, wie Sie auf die Dokumente gestoßen sind und was dieses Buch für Ihren Vater persönlich bedeutete?
Es gibt viele Briefe zwischen Pasternak und meinem Vater. Die beiden haben sich nie persönlich gekannt. Diese Briefe hatten wir zuhause, es war immer ein Geheimnis. Es sind zum Teil phantastische Briefe, die Korrespondenz zwischen einem Poeten und einem jungen Verleger. Und die ganze Geschichte der Publikation von "Doktor Schiwago" ist eben ein Roman in einem Roman, eine große avventura. Und für meinen Vater hat es gezeigt, dass dieses Buch herauszubringen gegen die kommunistische Partei Italiens, gegen die sowjetische Partei, die nach Italien kam, um Pression zu machen, [...] hat gezeigt, dass man mit einem Buch die Welt ändern kann. Man muss bedenken, mein Vater hatte dann die Weltrechte von "Doktor Schiwago". Er hat es dann an den größten Verleger verkauft. Doch er hat es nie mit einem antisowjetischen Impuls gemacht. Und es war auch richtig: Es war kein antisowjetisches Buch, es war nur ein sehr gutes Buch mit irgendwelchen Motiven, die die Russen nicht mochten. Dieser "Doktor Schiwago" war eben der Schlüssel, um zu verstehen, was mein Vater war als Verleger: Mit einem Buch, mit einem Autor an die ganze Welt zu sprechen.
Also wirklich ein Verleger mit Herzblut?
Genau, genau. Man muss bedenken, er startete seinen Verlag in 1955. Und praktisch nach zwei Jahren hat er einen Welterfolg mit "Doktor Schiwago" und ein Jahr später mit dem "Leoparden" von Tomasi di Lampedusa. Alles das für einen jungen Verleger, der 30 Jahre alt ist und der in zwei Jahren so einen Erfolg hat: Das ist ein richtiger Coup.
Zweimal sei Feltrinelli im Wald verschwunden, schreibt sein Sohn: 1943 aus der Isolation der elterlichen Villa, um sich den Partisanen anzuschließen. Das zweite Mal im Dezember 1969, als sich das Genie der Kommunikation schon längst für den politischen Kampf entschieden hatte. Haben diese einsamen Entschlüsse auch etwas mit seiner kontaktarmen Kindheit zu tun?
Ich glaube nicht. Ich glaube nicht so an diese psychologischen Analysen. Mein Vater war 1943/44 ein sehr junger Mann, es war gerade das Ende vom Krieg und der Beginn der Resistenza, mit den Partisanen. Er war sehr fasziniert davon und hat auch mitgemacht als Volontär im letzen Moment der Befreiung von Italien. Er war wie Tausende anderer junger Leute fasziniert vom [...] Ende des Krieges, Ende des Faschismus und davon, endlich etwas zu tun in diesem Land damals. Man muss denken, er hat den Vater sehr früh verloren und hatte dieses Leben mit der Mutter, die sehr streng war, eine sehr schöne Frau, eine sehr komplizierte Frau, eine zum Teil auch sehr brutale Frau. Und er war nie in der Schule, war nie mit anderen Kindern. Er war sehr einsam, ja. Durch das Gespräch mit dem Sohn eines Gärtners bekam er zu verstehen, was los war, wer die Partisanen waren. Aber er hat eine sehr einsame Jugend gehabt.
Unverständlich bleibt, dass der so erfolgreiche Verleger von Pasternak, Henry Miller, Günter Grass, Uwe Johnson und Max Frisch Ende der sechziger Jahre alles nach und nach aufgab. Wollte er nicht einsehen, dass er als Verleger viel mehr erreichen konnte als Anarchist oder Attentäter?
Erstmal: Mein Vater war kein Anarchist in diesem Sinne. Ja, das war ein Fehler. Als Verleger hat er an die ganze Welt gesprochen. Und auf politische Weise war Büchermachen das Beste für ihn. Aber man muss bedenken, was Ende der sechziger Jahre bedeutet hat für viele Millionen Leute. Es war der letzte Kampf für eine Revolution im alten Sinne. Und Italien war ein sehr schwieriges Land.
Die Angst vor einem Militärputsch wie in Griechenland oder Chile ging um. Am 12. Dezember 1969 eskalierte der italienische "heiße Herbst". Eine faschistische Terrororganisation zündete auf der Piazza Fontana in Mailand eine Bombe, direkt vor der Agrarbank. Es war am späten Nachmittag, als die Bauern gerade ihren Wochenverdienst einzahlen wollten. 16 Menschen starben. Die Polizei suchte die Täter in der linken Szene, eine Hexenjagd entbrannte. Feltrinelli zählte zu den Hauptverdächtigen. Das veranlasste ihn, in den Untergrund zu gehen oder in die "Unauffindbarkeit", wie er sagte.
"Auf der Suche nach einem Vater, der von den Träumen getötet wurde", schrieb das Magazin "L'Espresso" über "Senior Service". Seinem Autor ging es nicht zuletzt darum, mit jahrzehntelangen Vorurteilen aufzuräumen. Feltrinelli wurde häufig als Protagonist des Radical Chic verspottet.
Man hat Aspekte von seinem Leben genommen und sehr karikiert, sehr negativ zum Teil. Aber meine Meinung, aber auch die Meinung von vielen Leuten, die mit ihm gearbeitet haben, nicht nur in Italien, ist eine andere Meinung. Er hat ein tolles Leben gehabt. Er hat trotz der Situation als reicher Mann, der isoliert war, hat er gemacht, was er wollte. Auch mit sehr wahnsinnigen Sachen und sehr kreativen Sachen. Und das kennen viele Leute, und viele Leute haben ja auch geholfen, dieses Buch zu schreiben und diese Geschichte zu erzählen. Ich mag diese Geschichte wahnsinnig, auch die Kohärenz der letzten Seiten. [334] Man kann sicherlich sagen, er hat Fehler gemacht. [...] Viele linke Leute von der Bourgeoisie haben damals mitgemacht, aber keiner war so reich und keiner war so powerful, war so bekannt als Verleger und hat alles das abgelehnt, um ein sehr radikal extremes Leben zu machen. Und es gibt eine gewisse Kohärenz, die ich sehr mag.
Nur eines trübt die Lektüre: Der Hanser Verlag hätte gut daran getan, die deutsche Version des Buches mit einem erläuternden Register zu ergänzen. Jetzt gibt es nur eine magere Seite, auf der einige Namen erklärt werden. Dieses Manko erstaunt. Denn aus der Feder Friederike Hausmanns, der hervorragenden Übersetzerin, stammt die "Kleine Geschichte Italiens von 1943 bis heute". Sie ist bei Wagenbach erschienen und taugt als nützliches Begleitbuch zu "Senior Service".
"Es ist einfach die speziellste Geschichte, die ich kenne", sagt Carlo Feltrinelli über das Leben seines Vaters. Hommage, Ehrenrettung und Dokument einer nachgetragenen Liebe: "Senior Service" ist alles in einem.
Ich wollte kein pathetisches Buch machen. Ich weiß nicht, ob es gelungen ist. Ich bin kein Schriftsteller, kein Historiker, ich wollte meine Version dieser Geschichte schreiben. Auch mit gewisser Distanz, mein Vater ist ja schon fast 30 Jahre tot. Ich bin gewohnt, ohne Vater zu sein. Auch der ganze Schmerz ist zum Teil weit weg. Mit Inge haben wir den Verlag weitergemacht, und der Verlag hat eine tolle Geschichte in den letzten 30 Jahren gehabt. Ich wollte eben die Distanz, aber auch zeigen, wie fasziniert ich von dieser Geschichte bin und wie ich die Geschichte mag, auch wenn sie zum Teil traurig ist.