Karin Fischer: Sollen Frauen an türkischen Universitäten künftig Kopftücher tragen dürfen? "Ja", wenn es nach dem Willen der türkischen Regierung geht. Die Gegner von Ministerpräsident Erdogan warnen demgegenüber vor einer drohenden "Islamisierung" des Landes. Diese Gegner sind Teil einer kemalistischen Elite, die für sich in Anspruch nimmt, das Erbe von Staatsgründer Kemal Atatürk zu bewahren. Doch gerade die Ultra-Kemalisten haben sich in den vergangenen Jahren gegen den Ausbau von Meinungsfreiheit, gegen mehr Rechte für Kurden und gegen andere demokratische Reformen gestemmt. Die Aufhebung des totalen Kopftuchverbotes ist selbst nach Ansicht der EU eine Maßnahme zur Liberalisierung der Zivilgesellschaft in der Türkei. Das ist auch deshalb interessant, weil diese Argumentation der üblichen westlichen so gänzlich entgegen läuft.
Zafer Senocak: Ganz richtig, ja, die Türkei ist ja immer ein Beispiel für Widersprüche, auch für Widersprüche in unserem eigenen westlichen Denken, was heißt eigentlich Liberalisierung? Ich würde sagen, es geht um Individualisierung, dass in einer Gesellschaft, die noch sehr stark auf Gruppen konstruiert ist, ob das ethnische Gruppen sind, ob das religiöse Gruppen sind, soziale Gruppen sind, das aus diesen Gruppen heraus sich Individuen herausbilden. Eigentlich war ja auch Kerngedanke des Kemalismus am Anfang eine Individualisierung. Da aber die Gesellschaft nun überhaupt nicht in dieser Richtung fortgeschritten war in den 20er Jahren, gab es erst einmal eine autoritäre, kollektive Modernisierung und aus dieser kollektiven Modernisierung ist die Türkei niemals richtig herausgetreten. Erst in den 80er Jahren begannen Veränderungen, eine Zielgesellschaft entwickelte sich, zivile Gruppen bildeten sich, einzelne Autoren, Intellektuelle meldeten sich zu Wort, die die Gesellschaft kritisch beurteilten, nicht auf Grund einer bestimmten Ideologie, sondern eben als Individuen und das sind neue Entwicklungen für die Türkei. Man kann die Frage stellen, bedeutet das Kopftuch, dass jetzt an den Universitäten zugelassen werden soll, einen Individualisierung oder nicht.
Fischer: Bei uns wird ja das Kopftuch gemeinhin als Symbol für die Unterdrückung der Frau gesehen. Viele türkisch-deutsche Frauen, die für ihre Rechte als Subjekt der Gesellschaft kämpfen, müssen oder mussten, sehen dass auch hier so. In der Türkei ist die Lage komplizierter, wie Sie gerade beschrieben haben, weil es dort inzwischen alle Positionen gibt, also Studentinnen, die nie auf die Idee kämen, ein Kopftuch zu tragen, aber eben auch gläubige Muslima, die das Kopftuchverbot als diskriminierend betrachten, als regelrechten Akt der Gewalt, weil sie sich vor der Uni, sozusagen immer umziehen müssen.
Senocak: Das ist richtig, es ist natürlich ein Unding, dass eine Frau, eine volljährige Frau, die ein bestimmtes Kleidungsstück trägt, nicht studieren kann, nicht in ein bestimmtes öffentliches Gebäude betreten kann. Das ist erst mal ein Unding, das ist ganz klar. Aber, man muss die Ängste schon genau anschauen, die da herrschen. Ich habe von Individualisierung gesprochen, ich kann nicht sagen, dass das Kopftuch in der Türkei, wie sie heute von Frauen getragen wird, unbedingt eine Individualisierung repräsentiert, sondern es ist nach wie vor ein Ergebnis eines Gruppenmechanismus und die Gefahr besteht, dass in vielen Landesteilen, wenn sich das Kopftuch ausbreitet an den Universitäten, später vielleicht sogar in den Schulen, das weiß man ja nicht, dass dann diejenigen Frauen, und junge Frauen, die das Kopftuch nicht tragen, in der Minderheit sind und das diese Minderheit dann bedrängt wird.
Das ist die große Angst und leider hat es die Regierung Erdogan bisher nicht geschafft, diese Ängste auszuräumen. Warum? Und dann schauen wir natürlich in den Zustand der islamischen Region insgesamt, kann der Islam, wie er heute praktiziert wird, in der Mehrheit der muslimischen Gesellschaften, Ängste ausräumen? Ich sage, Nein, auf Grund einer philosophischen Mangelsituation, der Nichtdebattierung der Konflikte, die mit der Moderne herrschen.
Fischer: Hier im Westen kommen ja sofort Ängste vor einer Islamisierung der Türkei hoch. Man würde sich aber von solchen Schablonen auch angesichts der Kopftuchdebatte verabschieden, wenn die Gefahr gebannt wäre.
Senocak: Richtig, die Türkei steht da immer noch für diese Hoffnung, dass eine muslimische Gesellschaft sich modernisiert, weitergeht, auch Richtung Europa, eine liberale Gesellschaft wird, dass das aber durchaus auch mit muslimischen Werten vereinbar ist. Das ist sozusagen ein Anspruch, der muss aber jetzt natürlich erfüllt werden. Es wird ja viel darüber gesprochen, auch die Regierung Erdogan spielt ja mit dem Zivilisationsprozess über die Gegensätze der Zivilisationen, et cetera. Aber letztendlich muss am Beispiel der Türkei diese Exempel einmal statuiert werden, dass es möglich ist, dass unterschiedliche Lebensstile, das ist ja die Behauptung der Regierung, die sagen ja, wir sind ja nicht dagegen, dass die Frauen kein Kopftuch tragen, um Gottes Willen, jeder soll sich so anziehen, jeder soll nach seinen Facon selig sein. Hört sich erst einmal gut an, aber die Realität der Gesellschaft ist natürlich komplexer.
Fischer: Woran, Herr Senocak, würden wir denn erkennen, und würde auch die Türkei erkennen, dass das Kopftuch kein Symbol mehr ist, sondern wirklich nur der Ausdruck von Individualisierung. Was wäre dazu noch von Nöten?
Senocak: Ja, es ist heute schon ein bisschen erkennbar, es gibt zum Beispiel viel mehr Freundschaften zwischen Frauen, die ein Kopftuch tragen und kein Kopftuch tragen. Das ist wichtig, dass da so diese Kluft überbrückt wird, dass das Kleidungsstück nicht eine Grenze, eine Mauerziehung darstellt. Das ist das Entscheidende und ich glaube, in dieser Richtung muss die Gesellschaft wachsen, es gibt Anzeichen dafür. Viele dieser Frauen sind ja auch selbstbewusste Frauen, die ein Kopftuch tragen, aber, es gibt innerhalb der Religion ein noch weitgehend ungeklärtes Weltbild gegenüber den Rechten der Frauen, die Rechte der Frauen werden in der Türkei bisher nicht vom Islam garantiert. Die Rechte der Frauen in der Türkei werden bisher von der säkularen, laizistischen Grundordnung garantiert.
Zafer Senocak: Ganz richtig, ja, die Türkei ist ja immer ein Beispiel für Widersprüche, auch für Widersprüche in unserem eigenen westlichen Denken, was heißt eigentlich Liberalisierung? Ich würde sagen, es geht um Individualisierung, dass in einer Gesellschaft, die noch sehr stark auf Gruppen konstruiert ist, ob das ethnische Gruppen sind, ob das religiöse Gruppen sind, soziale Gruppen sind, das aus diesen Gruppen heraus sich Individuen herausbilden. Eigentlich war ja auch Kerngedanke des Kemalismus am Anfang eine Individualisierung. Da aber die Gesellschaft nun überhaupt nicht in dieser Richtung fortgeschritten war in den 20er Jahren, gab es erst einmal eine autoritäre, kollektive Modernisierung und aus dieser kollektiven Modernisierung ist die Türkei niemals richtig herausgetreten. Erst in den 80er Jahren begannen Veränderungen, eine Zielgesellschaft entwickelte sich, zivile Gruppen bildeten sich, einzelne Autoren, Intellektuelle meldeten sich zu Wort, die die Gesellschaft kritisch beurteilten, nicht auf Grund einer bestimmten Ideologie, sondern eben als Individuen und das sind neue Entwicklungen für die Türkei. Man kann die Frage stellen, bedeutet das Kopftuch, dass jetzt an den Universitäten zugelassen werden soll, einen Individualisierung oder nicht.
Fischer: Bei uns wird ja das Kopftuch gemeinhin als Symbol für die Unterdrückung der Frau gesehen. Viele türkisch-deutsche Frauen, die für ihre Rechte als Subjekt der Gesellschaft kämpfen, müssen oder mussten, sehen dass auch hier so. In der Türkei ist die Lage komplizierter, wie Sie gerade beschrieben haben, weil es dort inzwischen alle Positionen gibt, also Studentinnen, die nie auf die Idee kämen, ein Kopftuch zu tragen, aber eben auch gläubige Muslima, die das Kopftuchverbot als diskriminierend betrachten, als regelrechten Akt der Gewalt, weil sie sich vor der Uni, sozusagen immer umziehen müssen.
Senocak: Das ist richtig, es ist natürlich ein Unding, dass eine Frau, eine volljährige Frau, die ein bestimmtes Kleidungsstück trägt, nicht studieren kann, nicht in ein bestimmtes öffentliches Gebäude betreten kann. Das ist erst mal ein Unding, das ist ganz klar. Aber, man muss die Ängste schon genau anschauen, die da herrschen. Ich habe von Individualisierung gesprochen, ich kann nicht sagen, dass das Kopftuch in der Türkei, wie sie heute von Frauen getragen wird, unbedingt eine Individualisierung repräsentiert, sondern es ist nach wie vor ein Ergebnis eines Gruppenmechanismus und die Gefahr besteht, dass in vielen Landesteilen, wenn sich das Kopftuch ausbreitet an den Universitäten, später vielleicht sogar in den Schulen, das weiß man ja nicht, dass dann diejenigen Frauen, und junge Frauen, die das Kopftuch nicht tragen, in der Minderheit sind und das diese Minderheit dann bedrängt wird.
Das ist die große Angst und leider hat es die Regierung Erdogan bisher nicht geschafft, diese Ängste auszuräumen. Warum? Und dann schauen wir natürlich in den Zustand der islamischen Region insgesamt, kann der Islam, wie er heute praktiziert wird, in der Mehrheit der muslimischen Gesellschaften, Ängste ausräumen? Ich sage, Nein, auf Grund einer philosophischen Mangelsituation, der Nichtdebattierung der Konflikte, die mit der Moderne herrschen.
Fischer: Hier im Westen kommen ja sofort Ängste vor einer Islamisierung der Türkei hoch. Man würde sich aber von solchen Schablonen auch angesichts der Kopftuchdebatte verabschieden, wenn die Gefahr gebannt wäre.
Senocak: Richtig, die Türkei steht da immer noch für diese Hoffnung, dass eine muslimische Gesellschaft sich modernisiert, weitergeht, auch Richtung Europa, eine liberale Gesellschaft wird, dass das aber durchaus auch mit muslimischen Werten vereinbar ist. Das ist sozusagen ein Anspruch, der muss aber jetzt natürlich erfüllt werden. Es wird ja viel darüber gesprochen, auch die Regierung Erdogan spielt ja mit dem Zivilisationsprozess über die Gegensätze der Zivilisationen, et cetera. Aber letztendlich muss am Beispiel der Türkei diese Exempel einmal statuiert werden, dass es möglich ist, dass unterschiedliche Lebensstile, das ist ja die Behauptung der Regierung, die sagen ja, wir sind ja nicht dagegen, dass die Frauen kein Kopftuch tragen, um Gottes Willen, jeder soll sich so anziehen, jeder soll nach seinen Facon selig sein. Hört sich erst einmal gut an, aber die Realität der Gesellschaft ist natürlich komplexer.
Fischer: Woran, Herr Senocak, würden wir denn erkennen, und würde auch die Türkei erkennen, dass das Kopftuch kein Symbol mehr ist, sondern wirklich nur der Ausdruck von Individualisierung. Was wäre dazu noch von Nöten?
Senocak: Ja, es ist heute schon ein bisschen erkennbar, es gibt zum Beispiel viel mehr Freundschaften zwischen Frauen, die ein Kopftuch tragen und kein Kopftuch tragen. Das ist wichtig, dass da so diese Kluft überbrückt wird, dass das Kleidungsstück nicht eine Grenze, eine Mauerziehung darstellt. Das ist das Entscheidende und ich glaube, in dieser Richtung muss die Gesellschaft wachsen, es gibt Anzeichen dafür. Viele dieser Frauen sind ja auch selbstbewusste Frauen, die ein Kopftuch tragen, aber, es gibt innerhalb der Religion ein noch weitgehend ungeklärtes Weltbild gegenüber den Rechten der Frauen, die Rechte der Frauen werden in der Türkei bisher nicht vom Islam garantiert. Die Rechte der Frauen in der Türkei werden bisher von der säkularen, laizistischen Grundordnung garantiert.