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Sentinel
Soundtrack für die vernetzte Welt

Hat die zunehmende Vernetzung durch das Internet Einfluss auf die Musikästhetik? Für den US-amerikanischen Produzenten Alex Deranian alias Sentinel schon. Auf seinem Debüt-Album "Hybrid" geht es darum, das Internet als Werkzeug zu nutzen und viele Perioden sowie Kulturen für die Musik zu plündern.

Von Raphael Smarzoch |
    Zahlreiche Netzwerkkabel stecken in einem Serverraum in Berlin in einem Netzwerkverteiler.
    Für Sentinel bedeutet das Internet, einen großen Fundus an Sounds durchstöbern zu können. (picture alliance / dpa / Matthias Balk)
    "Es ist meine Aufgabe als Künstler, die Zeit zu reflektieren, in der ich lebe. Ich möchte, dass meine Musik mein Leben abbildet. Die Sounds, die ich benutze, sind sehr aktuell. Alles klingt sehr klar und digital, denn das ist die Welt, in der wir zu Hause sind."
    Smartphones, Tablets und soziale Netzwerke bestimmen den Alltag des amerikanischen Produzenten Alex Deranian. Das Offline-Sein ist für ihn zu einem Konzept von gestern geworden. Dieses Denken beeinflusst die Musik des 26-Jährigen, die er ausschließlich im Internet veröffentlicht - CDs und Schallplatten sind für ihn als Medium obsolet. Ein digitaler Schimmer überzieht die futuristisch-mechanischen Rhythmen und Melodien, die Assoziationen an Science-Fiction Szenarios wecken.
    "Ich schaue mir sehr gerne Blockbuster-Filme wie 'Transformers 3' an. Früher sampelte man Schallplatten. Heute sampelt man Sounds aus HD-Hollywood-Blockbustern von einer Blue-ray mit der höchstmöglichen Qualität."
    Welt der bewegten Bilder als Inspiration
    Alex Deranians Musik klingt wie die hochauflösenden Bilder des Kinos. Es ist ein HD-Sound, eine Hochglanz-Musik. Dass der Produzent die Welt der bewegten Bilder als Inspiration für seinen Sound angibt, verwundert nicht. Digitale Bildbearbeitungen in Film und Werbung konfrontieren die Zuschauer mit neuen visuellen Plausibilitäten. Dinge, die gar nicht existieren können, werden durch den Einsatz von Algorithmen so dargestellt, dass sie als plausibel wahrgenommen werden. Schauspieler sind heutzutage von virtuellen Charakteren kaum noch zu unterscheiden. Diese neuen bildlichen Möglichkeiten weisen in die Zukunft. Sie zeigen bereits den Entwurf einer Welt, in der es keinen Unterschied mehr gibt zwischen digitalen und materiellen Lebewesen und Objekten.
    In dem Track "City" verwebt Deranian einen Ausschnitt aus Wolfgang Amadeus Mozarts "Requiem" mit pulsierenden Bassdrums, wie sie auch in zeitgenössischen Hip-Hop- und R&B-Produktionen zu hören sind. Ein musikalischer Anachronismus, der auch als Kommentar zur Retromanie-Debatte zu verstehen ist. Angeblich entwickelt sich Musik heutzutage nicht mehr weiter, sie recycelt die Vergangenheit. Schuld daran sind offenbar die digitalen Archive des Internets, die alles Vergangene mit wenigen Clicks wieder verfügbar machen. Eine einleuchtende Analyse, die allerdings ein lineares, zielgerichtetes Verständnis von Musikgeschichte voraussetzt.
    "Die EP heißt 'Hybrid', weil sie aus so vielen unterschiedlichen Dingen besteht. Es geht darum, das Internet als Werkzeug zu nutzen und damit alle erdenklichen zeitlichen Perioden und Kulturen zu plündern. Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt."
    Musik in Zeiten des Internets
    Eine Haltung, die besonders bei jungen Generationen zu beobachten ist, die sich eine Welt ohne Internet nicht vorstellen können. Für sie ist es nicht mehr wichtig, ob ein Song aus den 60er-Jahren stammt oder von heute ist. Sie bewegen sich durchs Netz und filtern das heraus was ihnen gefällt. Dieses Denken hat auch ästhetische Konsequenzen: Musik ist mittlerweile zu einer Netzwerkmusik geworden. Das gilt für die sepiagetränkten Stücke von Lana del Rey wie auch für Alex Deranians Sentinel Projekt - es ist ein Sound, der kein Vorher oder Nachher mehr kennt, sondern nur den Informationsfluss des Internets.
    Deranian komponiert den Soundtrack für eine Welt, in der alles miteinander vernetzt ist und technologische Gadgets schon längst mit dem menschlichen Körper verschmolzen sind. Eine Vorstellung, die selbst dieser so nach vorne denkende Produzent als fremdartig empfindet. Auf seinem Blog stößt man auf Bilder, die fiktive technische Objekte in natürlichen Umgebungen zeigen. Inmitten von Wäldern und Wiesen stehen futuristische Kampfroboter oder seltsame Computer. In diesen Darstellungen spiegelt sich womöglich die Sehnsucht nach einem temporären Refugium, einem Leben fern von Datenströmen und Echtzeitkommunikationen. Es ist aber auch ein Appell, dem technologischen Fortschritt stets kritisch zu begegnen.
    "Obwohl wir uns sehr für die Ästhetik von Technologie interessieren, von ihr umgeben sind, sollten wir unsere biologischen Wurzeln nicht vergessen. Wir sind natürliche Wesen. So sehr wir diesen Zustand hinter uns lassen wollen, wir werden immer aus biologischer Materie bestehen."