Heute hören Sie diese Sonntagmorgen-Sendung ausnahmsweise auch einmal am Samstag - der Feiertag der Deutschen Einheit machts möglich. Am Mikrofon ist Ludwig Rink, und ich möchte Ihnen einen Komponisten mit einer Ost-West-Biografie vorstellen, keiner deutsch-deutschen, sondern einer russisch-amerikanischen; auch sie weist gleich mehrfach das auf, was man gerne unter dem Motto "Ironie der Geschichte" verbucht. Die Rede ist von Sergej Rachmaninow, Jahrgang 1873, einem musikalisch eher konservativen Tonschöpfer mit einer noch stark von der Romantik geprägten Musiksprache. Er verehrte Tschaikowsky und konnte sich die Erfolge des jungen Strawinsky nicht erklären. Politisch zeigte Rachmaninow sich zu Beginn der Umwälzungen in Russland zunächst aufgeschlossen; einmal spendete er sogar sein Honorar für die Ziele der Revolution. Doch als die Bolschewiken an die Macht kamen, kehrte er Rußland für immer den Rücken. Seine Musik wurde dort weiterhin gespielt, zumindest bis 1931. Denn da prangerte er von Amerika aus die Sowjetunion an und beschrieb die Machthaber als "die kommunistischen Totengräber Rußlands" und als "eine Gruppe professioneller Mörder". Von nun an verboten die Behörden die Aufführung seiner Werke, aber seine Rehabilitation drei Jahre später ging zum großen Teil ausgerechnet auf eine Intervention Stalins zurück: Der nämlich fand die beim Publikum durchaus erfolgreiche Musik Schostakowitschs zu modern und empfahl den Komponisten, sich Rachmaninow zum Vorbild zu nehmen...Und nach der Aufhebung des Aufführungsverbotes hatten in Moskau zwei Werke besonderen Erfolg, die vorher in Amerika von der Kritik nicht sonderlich gefeiert und vom Publikum kaum beachtet worden waren: die sogenannten Corelli-Variationen für Soloklavier und das 4. Klavierkonzert. Beide Stücke bilden zusammen mit der 2. Sonate in b-moll und dem berühmten cis-moll-Präludium eine neue Rachmaninow-CD der Firma Decca, die von Jean-Yves Thibaudet als Solisten und dem Cleveland-Orchestra unter der Leitung von Vladimir Ashkenazy eingespielt wurde. * Musikbeispiel: Sergej Rachmaninow: aus: Klavierkonzert Nr. 4 Sergej Rachmaninows kompositorisches Schaffen wird häufig in drei Perioden unterteilt, die sich nicht durch große stilistische Unterschiede voneinander abheben, sondern sich dadurch ergeben, daß Rachmaninow zweimal das Komponieren über Jahre hinweg gelassen hat. Dies war 1897 für drei Jahre der Fall, als er nach der insgesamt maßlos schlechten Kritik an seiner 1. Sinfonie derart tief getroffen war, daß erst eine hypnotisch-psychiatrische Behandlung ihm wieder den Mut zum Komponieren zurückgab; und auch die Ereignisse nach der russischen Oktoberrevolution 1917 hatten für ihn eine längere Schaffenskrise zur Folge. Bedeutendes leistete er, ähnlich wie beispielsweise Franz Liszt, als gefeierter Klaviervirtuose: Die Musikfreunde Nordamerikas, wohin er 1918 übergesiedelt war und wo er 1943 auch in Beverly Hills starb, lagen ihm zu Füßen. Das gilt auch bereits für Jean-Yves Thibaudet, den aus dem französischen Lyon stammenden, heute mit Wohnsitzen in Paris und New York jetsettenden "Global Player" in Sachen Klavier. Seine Trefferquote an der schwarz-weißen Tastatur ist bereits beim Life-Erlebnis im Konzertsaal enorm; auf dieser unter Studiobedingungen entstandenen CD brilliert er sowohl mit als auch ohne Orchester. Mit stupender Technik überaus kraftvoll und virtuos in den schnellen Sätzen ist er im langsamen Tempo aber durchaus auch zu tiefem musikalischen Gefühl und bewegenden Emotionen fähig. Hören Sie ihn nun solo mit einem Auszug aus Rachmaninows Variationen über ein Corelli-Thema. Das ist, wenn man so will, das Vorläufer-Stück zu den heute viel bekannteren Paganini-Variationen. Das Ursprungsthema zu Beginn stammt übrigens nicht von Corelli, sondern ist sozusagen archetypisches musikalisches Allgemeingut, genannt "La Follia", und vermutlich portugiesischer Provenienz. * Musikbeispiel: Sergej Rachmaninow: aus: Variationen über ein Thema von Corelli Rachmaninow nahm sich Kritikermeinung und Publikumsäußerungen sehr zu Herzen. In einem Brief zu den eben gehörten Corelli-Variationen berichtet er darüber, daß Hörerreaktionen sogar die musikalische Form zum Zeitpunkt der Aufführung mitbestimmten - Komponisten der jüngeren Vergangenheit, der aleatorischen und emanzipatorischen Jahre hätten ihre helle Freude an diesem Verfahren gehabt:
"Ich habe diese Variationen etwa 15 mal gespielt", schreibt er, "aber...ich habe sie nicht einmal ganz gespielt. Ich ließ mich durch das Husten des Publikums leiten. Immer wenn das Husten zunahm, ging ich zur nächsten Variation über. Wenn niemand hustete, spielte ich sie in der richtigen Reihenfolge. Bei einem Konzert...husteten die Leute so stark, daß ich von 20 Variationen nur 10 spielte. In New York stellte ich meinen Rekord auf, denn dort schaffte ich es immerhin auf 18."
Auf der neuen Decca-CD spielt Jean-Yves Thibaudet alle Variationen und das in richtiger Reihenfolge...Im Beiheft zu dieser CD erfährt man überdies, daß der Dirigent und Pianist Vladimir Ashkenazy "seit über 300 Jahren exclusiv für Decca" aufnimmt. Das ist zwar maßlos übertrieben und wahrscheinlich ein Druckfehler, aber auch 30 Jahre sind in diesem Metier und auf diesem hohen künstlerischen Standard schon eine ganz schön lange Zeit. Hören Sie zum Schluß noch einmal das Cleveland Orchestra unter Leitung von Vladimir Ashkenazy mit dem letzten Satz aus Sergej Rachmaninows 4. Klavierkonzert. Der Solist ist wieder Jean-Yves Thibaudet. * Musikbeispiel: Sergej Rachmaninow: aus: Klavierkonzert Nr. 4 g-moll, letzter Satz Die Neue Platte - heute mit Musik von Sergej Rachmaninow. Jean-Yves Thibaudet und das Cleveland Orchestra unter der Leitung von Vladimir Ashkenazy spielten zuletzt den Schlußsatz des 4. Klavierkonzerts von Sergej Rachmaninow.
Einen schönen Feiertag wünscht Ihnen nun noch Ludwig Rink.