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Serhij Zhadans: "Internat"
Drehbuch aus dem Krieg

Wie kann man von einem Krieg erzählen, der nie erklärt wurde, aber seit 2014 für die Menschen im Donbass bittere Realität ist? Der Autor Serhij Zhadan ist mit seinem Roman "Internat" dieses Wagnis eingegangen. Er schickt einen jungen Lehrer auf eine Höllenwanderung durch das Konfliktgebiet.

Von Katrin Hillgruber | 29.04.2018
    Buchcover: Serhij Zhadan: "Internat"
    Buchcover: Serhij Zhadan: "Internat" (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Foto: dpa / picture-alliance / Irina Gerashchenko)
    In sowjetischen Kinderbüchern kommt der Gestalt des Lehrers eine besondere Bedeutung zu. "Bukwar" heißt die Fibel, mit der Erstklässler auch heute noch das kyrillische Alphabet kennenlernen. In einem reich illustrierten Exemplar, das 1961 von der Akademie der Wissenschaften in Moskau herausgeben wurde, üben die Schüler zunächst, gerade und schräge Linien zu zeichnen. Aufmerksam sitzen die Kinder in ihren Bänken, die Mädchen mit bunten Schleifen im Haar, die Jungen strenggescheitelt. Ihr Blick ist auf ihre Lehrerin im grauen Kostüm gerichtet, die ernst und dennoch freundlich mit dem Zeigestock auf die Linien an der Tafel weist. Vor ihr auf dem Pult steht ein Blumenstrauß, das traditionelle Geschenk der Erstklässler zum Schulbeginn am 1. September.
    Ähnliche Erinnerungen an seine Schulzeit in der Sowjetunion, an eine strenge und doch scheinbar heile ideologische Welt, muss auch der ukrainische Schriftsteller, Dichter und Rockmusiker Serhij Zhadan haben. Er wurde 1974 in Starobilsk im Gebiet Luhansk geboren, ganz im Osten der Ukraine. Somit war Zhadan siebzehn Jahre alt, als sich die Sowjetunion auflöste und ihre ukrainische Teilrepublik entließ beziehungsweise entlassen musste. Für seinen neuen Roman "Internat" hat sich der Autor einen Lehrer als Hauptfigur gewählt: den russischsprachigen Pascha. Er unterrichtet Ukrainisch, was in der russisch geprägten Donezk-Region nach wie vor einem Akt des Widerstands gleichkommt. Einmal wird ihm vorgeworfen, eine so schwer verständliche Sprache wie Latein zu lehren.
    Stubenhocker als Hauptfigur
    Der Mittdreißiger Pascha ist stark kurzsichtig, außerdem kann er seine rechte Hand nur eingeschränkt bewegen - das sind denkbar ungünstige Voraussetzungen für einen Zivilisten, der sich in einem plötzlich ausbrechenden Krieg bewähren muss. Pascha erscheint als träger Stubenhocker, der sich am wohlsten fühlt, wenn er mit niemandem sprechen muss. Nach dem Studium in einer ungenannten Großstadt ist er froh, wieder nach Hause zurückkehren zu können, in die Bahnarbeitersiedlung eines ostukrainischen Eisenbahnknotenpunktes. Seine Freundin Marina hat ihn nach Beginn der Kampfhandlungen 2014 verlassen, da er sich politisch nicht positionieren wollte.
    "Im letzten Winter wurde es dann ganz schlimm. Etwas lag in der Luft, sie hatte sich wie mit Spannung aufgeladen, alle waren wie verrückt: sprachen nur über Politik, schauten Nachrichten, tauschten sich darüber aus. Pascha schaute nicht fern, redete aber mit. Nur nicht überzeugend. Deswegen wurde Marina wütend und tobte. Etwas in der Sprache ging kaputt, knackte wie das Eis auf dem Stausee im März und würde jeden Moment in unzählige schwere, scharfe Stücke brechen."
    Seit der Trennung lebt der genügsame Pascha wieder bei seinem Vater, die Mutter ist früh verstorben.
    "Ihr ganzes Leben haben sie das Haus mit einem Bahnarbeiter geteilt. Die eine Hälfte gehörte ihm, die andere Paschas schrecklich netter Familie: Vater, Mutter und seiner Schwester. Vor ungefähr fünfzehn Jahren, als sie alle noch zusammenwohnten, brannte die Bahnarbeiterhälfte ab. Das Feuer konnte gelöscht werden. Aber wiederaufbauen wollte der Bahnarbeiter nicht - er ging zum Stationsbahnhof, bestieg einen Zug in östliche Richtung und verschwand für immer aus ihrem Leben. Sie rissen die abgebrannte Hälfte des Hauses einfach ein, tünchten die Mauern weiß und lebten weiter. Von außen sieht das Haus aus wie ein halbes Brot auf dem Regal im Laden."
    Auch Paschas Zwillingsschwester ist nach dem Scheitern ihrer Ehe wieder beim Vater eingezogen. Ihren 13-jährigen Sohn Sascha hat sie ins Internat am anderen Ende der Stadt gegeben. Während solche Institute in Westeuropa eher Reichen und Sportlern vorbehalten sind, verhält es sich in der ehemaligen Sowjetunion umgekehrt: Hier fangen Internate Kinder aus sozial schwachen Familien auf.
    "Obendrein lernte der Junge schlecht, und sein Benehmen war noch schlechter, das Ganze steuerte unweigerlich auf eine kriminelle Karriere zu: der Vater auf der Flucht, die Mutter Nachtzugschaffnerin, sodass er sie kaum sieht, die Welt voller Versuchungen und Herausforderungen, wie sollte er sich da beherrschen? […] Irgendwann gab ihn seine Schwester dann einfach ab, ohne Pascha oder dem Opa vorher Bescheid zu sagen. Der Alte hörte dann überhaupt auf, mit ihr zu reden. […] Pascha war auch gegen das Internat gewesen, stritt mit seiner Schwester, ging zur Direktorin, sprach mit dem Jungen. Dann aber hielt er den Druck nicht aufrecht, lenkte ein, wich zurück. Der Junge hat das gemerkt. Vielleicht trägt er ihm das nach: Du Weichei, hast mich hier nicht rausgeholt, mich nicht geschützt."
    Der träge Homo sovieticus
    Ausgerechnet einen passiven ehemaligen Homo sovieticus also hat sich der politisch so dezidiert für die ukrainische Sache kämpfende Serhij Zhadan als Romanhelden ausgesucht - das ist motivisch und dramaturgisch bemerkenswert. Seit im Winter 2013/14 Gegner und Befürworter des Maidan in seiner Heimatstadt Charkiw aneinandergerieten, engagiert sich Serhij Zhadan für eine prowestliche Ukraine und gegen die Separatisten und deren selbsterklärte Volksrepubliken im Donbass. Er begleitet Hilfskonvois in das umkämpfte Industriegebiet von der Größe des Saarlandes, veranstaltet Literaturfestivals und gibt Benefizkonzerte mit seiner Band "Sobaky w Kosmosi", Hunde im Kosmos".
    In vielfältiger Form hat sich der Germanist, der über den 1937 unter Stalin ermordeten Futuristen Michajl Semenko promovierte, mit dem Ukrainekonflikt auseinandergesetzt. Dabei beweist er immer wieder eindrucksvoll politischen Instinkt und Hellsichtigkeit. In seiner Heimatstadt Charkiw, der er mit dem letzten Roman "Mesopotamien" seine Hommage erwies, ist Serhij Zhadan seit langem eine Institution, ein gefeierter Local Hero. In Büchern wie "Die Erfindung des Jazz im Donbass" oder "Warum ich nicht im Netz bin" gesellen sich Tagebucheinträge und lyrische Momentaufnahmen. All diese Texte stellen Versuche dar, den Einbruch des Krieges und die Anwesenheit des Todes zu begreifen. Im Vorwort zu "Warum ich nicht im Netz bin" schreibt Serhij Zhadan:
    "Der Krieg ist wie eine Krankheit, die unerwartet ausbricht. Und deswegen weißt du auch nicht gleich, wie du dich verhalten und welche Wörter du verwenden musst."
    Bei einer Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing über den Begriff des Heldentums im heutigen Osteuropa sprach Serhij Zhadan vom langen Abschied der Ukraine von der Sowjetunion. Er glaubt, dass es für sein Land erst dann eine richtige Entwicklung geben werde, wenn die Sowjetunion und alles, was mit ihr verbunden ist, endgültig in die Geschichte eingegangen sein wird. Seine Lehrerfigur Pascha hat der Autor aus vielen realen Pädagogen aus dem Donbass zusammengesetzt, mit dessen Bildungssystem er nach eigenen Angaben gut vertraut ist.
    Der Lehrer als gesellschaftliches Vorbild
    Mehrfach wird Pascha auf der Straße mit "Lehrer!" gerufen. Vom Lehrer werden Hilfe und Überblick erwartet, gilt er doch auch nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung als gesellschaftliches Vorbild und Bewahrer der Geschichte. In einer anrührenden Szene übergibt ihm ein Separatist nach der Plünderung eines Museums ein prähistorisches Farnfossil: Pascha soll es aufbewahren.
    Wie aber verändert sich die Stellung des Lehrers in einem plötzlichen, nicht erklärten Krieg, in einem hybriden Krieg, den die unsichtbare Gegenseite nicht nur mit Waffen, sondern auch durch Desinformation führt? All diese Fragen und Erfahrungen seit dem Beginn des Ukrainekonflikts im Jahr 2014 lässt Serhij Zhadan nun in seinem Roman "Internat" kulminieren. Die Odyssee des Lehrers Pascha zum Internat seines Neffen, um diesen abzuholen und nach Hause zu bringen, dauert drei Tage, und diese drei Tage gliedern auch das Buch. Es handelt sich um eine tragisch getönte Winterreise:
    "In diesem Winter sind die Bäume irgendwie besonders: Wachsam wie Tiere erzittern sie bei jeder Explosion, behalten ihre Wärme bei sich, kühlen nicht aus, beheizen schwarze kreisförmige Vertiefungen um sich herum, in denen das alte Gras grün dunkelt. Die Rinde ist feucht und schutzlos - du berührst sie und befleckst dich mit ihrem dunklen Schmerzenssaft wie mit Farbe, wie mit Blut aus Schnittwunden."
    Neben dem Krieg und der allgegenwärtigen Gefahr bestimmen Nebel und Schnee als große weiße Mächte diesen ausgesprochen stimmungsvollen, ja impressionistisch getönten Januar-Roman. Allerdings tritt der Text vor lauter Eindrücken zuweilen auf der Stelle:
    "Irgendwas stimmt nicht, denkt er, irgendwas stimmt nicht. Keine Menschenseele, kein Laut. Nicht einmal Lokomotiven sind zu hören. Keine Händler. Aus dem dunkelblauen Schnee sickert das Wasser, es hat um die null Grad, aber der Himmel hängt voller Wolken, und die Feuchtigkeit in der Luft verwandelt sich ab und zu in kaum spürbaren Regen, Nebel steht über den Gleisen, und in diesem Nebel sind weder Stimmen noch Schritte zu hören. […] Vielleicht hätte ich doch Nachrichten schauen sollen, denkt Pascha nervös. Vor allem diese Stille, nach all den Tagen, an denen der Himmel im Süden, über der Stadt, einer im Feuer erhitzten Eisenstange glich. Still und leer, als hätten alle den Nachtzug bestiegen und sich davongemacht. […] Pascha blickt wachsam in die Feuchte ringsum und versucht zu verstehen, was er verpasst hat, was der blutüberströmte Typ im Fernsehen ihm wohl mitteilen wollte."
    Das Fernsehen hat als Informationsquelle ausgedient, es verbreitet nur noch Propaganda. Der Hinweis auf die Invasion aus dem Süden und auf den Eisenbahnknotenpunkt, an dem Paschas Familie lebt, lässt an die Stadt Debalzewe ganz im Südosten der Ukraine denken, um die im Januar 2015 ein heftiger Krieg ausbrach. Der Ort ist von strategischer Bedeutung, da er genau in der Mitte der selbstproklamierten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk liegt. Nachdem die ukrainische Armee Debalzewe zurückerobert hatte, drangen im Februar 2015 unter Missachtung des Waffenstillstands von Minsk prorussische Separatisten in den Ort ein und halten ihn seitdem besetzt.
    Ein Kurzsichtiger im Nebel
    Pascha versucht zunächst, mit dem Bus und einem Taxi zum Bahnhof vorzudringen. Dort erwartet ihn eine seltsame Szenerie: Unter dem Hallendach drängen sich Hunderte verängstigter Tauben, die ihn anstarren, während auf dem Boden mindestens ebenso viele Frauen und Kinder Schutz suchen.
    "Und als er sich gerade besonders leidtut, senkt Pascha den Blick und sieht die Fenster. Und hinter den Fenstern sieht er dutzende Augen, die ihn genauso anstarren wie die Vögel, durchdringend und gebannt, die jede seiner, Paschas, Bewegungen, jeden seiner Schritte beobachten. Da kapiert Pascha, dass der Bahnhof in Wirklichkeit voller Menschen ist, dass sie da drinnen sitzen wie in der Kirche einer belagerten Stadt, weil sie glauben, dass man dort nicht an sie herankommt, sie spähen aus den Fenstern in die Welt, die ständig schrumpft."
    Als einziger Mann und dazu noch als Lehrer sieht sich Pascha zum ersten Mal gezwungen, Verantwortung zu übernehmen. Doch als er einer hysterisch schreienden Frau und deren Tochter helfen will, wird er auf einmal als Dieb verdächtigt. Der Autor schickt seine Hauptfigur in einen "Krieg ohne Schlacht", wie der Dramatiker Heiner Müller seine Autobiographie taufte. Dabei gelingt Serhij Zhadan das Kunststück, dass der Leser Paschas Odyssee gebannt verfolgt, ohne dass dieser zur Identifikation einladen würde: Es ist die Odyssee eines Kurzsichtigen im Nebel, der zum Jagen getragen werden muss. Das denkt sich auch die Kellnerin Anna, in deren Wohnung Pascha zufällig gerät, als er Zuflucht vor dem Beschuss sucht.
    "Sie weiß zwar nicht, was das für einer ist, sieht aber, dass sie sich nicht zu fürchten braucht: kurzsichtiger Blick hinter der Brille, Bart, Blut am Jackenärmel, Stiefel voller Lehm. Pascha sieht mitgenommen und irgendwie fehl am Platz aus."
    Auf dem Weg zu seinem Neffen lernt Pascha Peter kennen, einen Auslandskorrespondenten aus Westeuropa. Dieser bemüht sich selbst im Kugelhagel um ironische Distanz und erteilt dem Ukrainer überheblich Ratschläge. Als plötzlich vier Soldaten in die Gaststätte stürmen, ist Peter wie vom Erdboden verschluckt. Pascha hingegen muss eine stundenlange Befragung über sich ergehen lassen. Mit dieser Szene wirft Zhadan ein Schlaglicht auf das oberflächliche Interesse des Westens an seinem Heimatland. Die Ukraine selbst erscheint als ein Internat, dessen Insassen aufgegeben wurden. Das wird besonders deutlich, als Pascha das Lehrinstitut seines Neffen endlich erreicht und diesen zwar hungrig, doch wohlbehalten vorfindet. Im Keller des Internats hat Pascha eine Begegnung mit drei etwa zwölfjährigen Mädchen, die sich gegenseitig geschminkt haben und ihn nun aus grotesk dunklen Augen anschauen:
    "Was für eine Komödie hier im Kellerkorridor: Pascha mit seinen tauben Fingern, der Junge, der sich vor der ganzen Welt in einem Bunker verbarrikadiert hat, und diese Mädchen mit der unnatürlichen, clownesken Schminke, die dastehen und jetzt anfangen zu wimmern. Wie junge Clowns, die sich beim alten Clown über die Last des Berufs beklagen. […] Wir leben hier doch alle, wenn man es recht überlegt, wie im Erziehungsheim, im Internat. Von allen verlassen, aber geschminkt."
    Die Trauer der Hunde
    Serhij Zhadan hat seinen Roman im Stil eines Drehbuchs geschrieben. Es ist ein Skript, in dem der Tod allgegenwärtig ist, in dem die Toten aber nicht auf naturalistische Weise gezeigt werden. Stattdessen setzt der Autor auf tierische Sendboten, vor allem auf Hunde, die brutal dahingemetzelt werden, weil ihr Bellen die Invasoren verraten könnte. Die Hunde symbolisieren die allmächtige Melancholie. Sie legt sich wie der ständige Nebel über das unentwirrbare Geschehen wie über ein antikes Schlachtengemälde. Albrecht Dürer stellte auf einem berühmten Stich die "Melencolia" als sinnierende geflügelte Frau unter einem Regenbogen dar. Zu ihren Füßen kauert ein ausgemergelter Hund, der in der Astrologie wiederum mit dem Saturn in Verbindung gebracht wird, dem Gestirn der Melancholiker.
    Ein grotesk verzerrter Kuhkadaver erinnert Pascha auf dem Rückweg mit seinem Neffen an Anna Karenina, ein schwarz verkohlter Wasserkessel an den ausgebrannten Reichstag, ein emblematisches Bild für jeden Sowjetbürger. Zhadans bewährte Übersetzer Juri Durkot und Sabine Stöhr haben diese starken Metaphern und melodischen Satzperioden, die den Lyriker verraten, in ein adäquates Deutsch überführt. Es leuchtet in den ausgefallensten Farben:
    "Dann fährt ein alter brauner Krankenwagen an der Schule vor, von der Farbe aufgeweichter Haushaltsseife, und man beginnt, Verwundete auszuladen. Man trägt sie auf dem Rücken wie Säcke, Bahren gibt es offenbar keine, schwer steigen sie die Treppen hinauf und stapfen durch den leeren, hallenden Korridor. Biegen rechts ab, stoßen mit ihren lehmverkrusteten Stiefeln die erste Tür auf. Die Tür zum Fachsaal Ukrainisch. Also Paschas Saal."
    Serhij Zhadan schreibt, obwohl in einem russischsprachigen Umfeld aufgewachsen, auf Ukrainisch. Dass die offizielle Staatssprache keine Orientierung mehr bietet, erfährt der Lehrer Pascha bei mehr als einer Konfrontation mit der neuen undurchsichtigen Macht.
    "'Wird’s bald?', schreit der Soldat und kommt ganz nah. Vor allem aber hat Pascha keinen Schimmer, in welcher Sprache der andere redet. Denn die Worte entfahren ihm so harsch und abgehackt, dass sie weder Akzent noch Intonation enthalten, er schreit einfach etwas heraus, als huste er eine Erkältung ab. Er müsste eigentlich die Staatsprache sprechen, denkt Pascha panisch, die Staatssprache, vor einem Monat stand hier doch eine Einheit aus Shytomyr, die haben sich noch lustig gemacht wie er von einer Sprache in die andere stolperte. Sind das noch dieselben oder nicht? überlegt Pascha fieberhaft, während er in die aufgerissenen Augen schaut, in denen sich seine ganze Furcht spiegelt."
    Roadmovie und Bildungsroman
    "Strach" heißt Angst auf Russisch wie auf Ukrainisch, was härter klingt als das deutsche Wort. Pascha hat unentwegt Angst, aber es ist die unbestimmte Furcht des Kurzsichtigen, dem man die Brille weggenommen hat. Die Leser müssen sich auf Paschas Fehlsichtigkeit, auf sein Zögern und seine Passivität einstellen, wollen sie an dieser Höllenwanderung durch den schmutzigen Schnee des Donbass teilnehmen. So ist "Internat" zugleich ein Roadmovie wie ein Bildungsroman. Dessen Held wächst an Friedrich Schillers Sentenz, wonach Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit bedeutet. Pazifismus ist keine Lösung, lernt Pascha durch seinen Neffen, der sich vom kränklichen Sorgenkind zum gleichberechtigten Weggefährten entwickelt - eine Botschaft, die westliche Leser ohne entsprechende Kriegserfahrungen zunächst befremden mag.
    Als am Schluss Onkel, Neffe und ein geretteter Hundewelpe das seltsame Haus erreichen, das wie ein halber Brotlaib aussieht, entsteht inmitten der grellen Schreckensbilder so etwas Vages wie Hoffnung. Hoffnung hat auch Serhij Zhadan trotz alledem, wenn er auf sein schwieriges und zerrissenes Heimatland, die Ukraine, blickt. Mit seinem expressiven Winterroman "Internat" hat er dafür den überzeugenden literarischen Ausdruck gefunden.
    Serhij Zhadan: "Internat"
    Roman. Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 301 Seiten, 22 Euro.