Dienstag, 30. April 2024

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Serie: Das Judentum und Jesus von Nazareth
Wo Juden und Christen einander nicht mehr verstehen

Für die neuere Forschung ist die Wirkung von Jesus von Nazareth nur im Horizont des antiken Judentums zu verstehen. Dazu gehören sowohl die religiösen wie auch die kulturellen und politischen Umstände dieser Zeit. Das Judentum in der hellenistisch-römischen Epoche war ein sehr vielfältiges Phänomen.

Günther Bernd Ginzel im Gespräch mit Rüdiger Achenbach | 01.04.2015
    Blick auf das christliche Viertel in der Altstadt von Jerusalem
    Blick auf das christliche Viertel in der Altstadt von Jerusalem (picture alliance / dpa / Reinhard Kaufhold )
    Rüdiger Achenbach: Wir wissen, dass er nach dem Tode für einen Teil der Menschen zum erwarteten Messias geworden ist. Das sind die Zeugnisse, die wir haben. Ein Teil dieser Menschen, einige Gruppen im Judentum, haben ihn dafür gehalten. Andere haben ihn abgelehnt. Die Hoffnung auf den Messias hat sich weiterhin gehalten. Etwas hundert Jahre nach Jesus von Nazareth tritt dann bar Kochba, der Sternensohn, auf, der ja auch für führende Gelehrte in seiner Zeit, zum Beispiel für den Rabbi Akiba, Messias war. Ein Mann, der sozusagen als Freiheitskämpfer den politischen Widerstand gegen die Römer ausgerufen hat und damit wieder einmal die enge Verbindung von politischem Widerstand gegen die Römer mit der religiösen Messias-Erwartung verbindet.
    Günther Ginzel: Ja. Die Folgen des Bar-Kochba-Aufstandes waren natürlich für das Judentum verheerend. Das, was in der christlichen, anti-jüdischen Polemik oftmals mit dem Tod Jesu verbunden wird, nämlich die Juden werden aus dem Lande vertrieben, das passierte ja nach dem Tod Jesu nicht, sondern das passierte eben zwei, drei Generationen später, wenigsten für einen beträchtlichen Teil nach dem gescheiterten Bar-Kochba-Aufstand.
    Achenbach: Juden durften nun Jerusalem nicht mehr betreten.
    Ginzel: Die Römer nannten es um in Aelia Capitolina. Israel haben Sie umbenannt in Palästina. Aber etwas wichtiges: Mit der Zerstörung nun mehr des Tempels beginnt das pharisäische Judentum sich zum rabbinischen Judentum zu wandeln und wir bekommen ein ganz neues Judentum. Vieles über die Sadduzäer, vieles über die Priesteraristokratie wissen wir gar nicht mehr, es sei denn durch die Polemik der Pharisäer. Sie sind im Grunde genommen spurlos untergegangen. Aber das Handwerker-Judentum, das Judentum des breiten Volkes, das Judentum des Lernens und der Gelehrsamkeit, das hat nun überlebt, wird nun zum eigentlichen bestimmenden Faktor. Und das ist auch die Voraussetzung dafür, dass das Judentum überleben konnte, obwohl das Zentrum zerstört wurde. Man konnte also jetzt Jerusalem, sowohl das irdische wie das himmlische Jerusalem verinnerlichen, in Lehre und Gebet mit einbeziehen. Man musste aber nicht mehr in Jerusalem leben oder nach Jerusalem pilgern. Das ist die große, große Leistung der Pharisäer.
    Lehre Jesu wird marginal
    Achenbach: Kann man sagen, dass jetzt die Thora eigentlich zum Ort der Religion wurde?
    Ginzel: Die Thora ist jetzt das eigentliche Haus Israels, das Vaterland, das Mutterland.
    Achenbach: Das Judentum der Diaspora verbindend.
    Ginzel: So ist es. Wo die Thora ist, sind Juden. Wo Juden sind, ist die Thora. Das Vaterland wurde sozusagen transportabel. Jetzt aber beginnt sich auch die Kirche zu etablieren, zu schärfen und dramatisch vom Judentum abzusetzen, was ja jetzt auf einmal eine nicht mehr angesehene Gemeinschaft, eine besiegte Gemeinschaft war. Eine Gemeinschaft, der anzugehören, gefährlich sein konnte. Man setzt sich ab. Man setzt voll auf das Heiden-Christentum. Man versucht, das Juden-Christentum, man versucht, die eigentliche Tradition Jerusalems, die eigentliche jesuanische Tradition machtvoll auszuscheiden, und konzentriert sich voll auf das neu entstehende Heiden-Christentum mit vollkommen anderen Akzenten. Das Evangelium der Armut wird ganz schnell aufgegeben. Das Evangelium der Liebe wird übersetzt, in dem man sich konzentriert auf die Liebe an den Auferstandenen. Die Lehre Jesu wird marginal, wird unwichtig. Die Angriffe auf das Judentum, um sich von diesem Judentum abzusetzen, um zu sagen, wir sind nicht einfach nur eine jüdische Sekte. Wir werden ganz stark. In dieser Zeit beeinflussen sich rabbinisches Judentum und werdende Kirche, in deren Tradition ja überhaupt jetzt erst einmal christliche Traditionen sich ausprägen.
    Achenbach: Er geht natürlich um die Frage der Identität auf beiden Seiten – das muss man sehen. Das Christentum als eine Religion, die ursprünglich aus einer religiösen Gruppe des Judentums entstanden ist, muss sich natürlich für seine Identitätssicherung abgrenzen können gegen das Judentum, dem es in der Diaspora begegnet. Man greift dabei natürlich auf die Gedankenwelt des Hellenismus zurück.
    Ginzel: Das unendlich Schwierige ist ja, das ist alles neu. Die Juden haben das nicht begriffen. Die sagen ja nicht, es ist alles neu, sondern wir sind ja im Grunde genommen die Fortsetzung es eigentlichen Weges von Gott, von Abraham, von Moses über Jesus bis heute. Wir repräsentieren die Tradition. Die Juden haben nichts begriffen. Jetzt schauen sie in die Evangelien, in die Traditionen, in ihrer eigenen Überlieferung. Und was entdecken sie? Keine einzigen Christen, kein einziger der dort Handelnden ist im christlichen Sinne getauft. Es sind alles fromme Juden. Und nunmehr wird aus dieser rein innerjüdischen Diskussion plötzlich etwas für Menschen, die nicht mehr in dieser jüdischen Tradition groß geworden sind, sondern aus der griechischen, aus der heidnischen Tradition kommen. Die lesen das völlig anders. Und jetzt auf einmal beginnt jene Auslegung, wir Christen, die Juden, hier Jesus und hier die Jesusanhänger, dort die Juden. Wir die Guten – die, die Schlechten. Wir, die Neuen, die Zukunft – die, die das Abgestorbene, ja das Verräterische, ja, bis dann später...
    Achenbach: ... zum Christusmörder.
    Ginzel: Zum Gottesmörder, ja.
    Achenbach: An dieser Stelle muss man natürlich auch deutlich erkennen, dass die junge Kirche, die man heute natürlich die alte Kirche nennt, in dieser Zeit auch das Glaubensbekenntnis formuliert. Und in diesem Glaubensbekenntnis ist nun dieser Jesus von Nazareth eine Figur, die geboren wird, die etwas erleidet, die sterben muss und auferstanden ist. Das ist das Entscheidende.
    Ginzel: Der trinitarische Jesus.
    Plötzlich gibt es Gott 1 und Gott 2
    Achenbach: Was der je gesagt, was er gelehrt hat oder was er getan hat, wird nicht mehr angesprochen.
    Ginzel: Das war auch schwierig mit den Juden über den Jesus, den Lehrer, den Rabbi zu streiten, machte keinen Sinn, weil die natürlich einfach sagten, was wollt ihr eigentlich, haben wir doch auch. Guckt mal da nach, lest hier, lest dort. Das ist nichts, weshalb wir uns aufregen müssen. Selbst wenn wir anderer Meinung sind, die wurde unter Juden schon immer vertreten, sondern das Entscheidende war eben jetzt, die Lehre Jesu wurde negiert, weil – ich bin felsenfest davon überzeugt – man sich nicht nur von den Juden absetzen musste, in dem man mit der Lehre Jesu auch das Jüdische aus den Evangelien, aus der Kirche heraus katapultierte, sondern weil es natürlich auch eigene sich etablierende Strukturen gab nunmehr auch als Staatskirche, die einen bedrohten und damit auch abschaffen konnte.
    Achenbach: Staatsreligion, das darf man nicht vergessen.
    Ginzel: Plötzlich hatte man Macht. Der Jesus, der Zimmermann, seine Nachfolger sind plötzlich cäsaristische Machtinhaber. Etwas, wo gegen das Judentum, gerade das pharisäische Judentum ja die ganze Zeit anpolemisiert.
    Achenbach: Er wird als Pantokrator dargestellt, als der Weltenherrscher. Das heißt also, derjenige, der diese ganze Welt beherrscht, eben an Gottes statt. Und ist das nicht eigentlich der größte Bruch mit dem Judentum, dass man sagen kann, in dem Moment, wo das kirchliche Dogma Jesus von Nazareth zum leiblichen Sohn Gottes macht, da kann eigentlich an der Stelle mit Judentum überhaupt keine Diskussion mehr stattfinden.
    Ginzel: Das ist der eigentliche Bruch. Vorher konnte man polemisieren, konnte man sich streiten. Aber man verließ nicht den jüdischen Boden. Nun wird etwas Neues für tausend Jahre in der Kirche bestimmen – nämlich erstens: Jesus ist Sohn Gottes. Das ist für Juden Blasphemie. Dagegen haben sie ja, seit es sie gab, seit Abrahams Zeiten angekämpft. Gegen die Vorstellung, dass Gott sich mit Sterblichen oder überhaupt mit irgendwem einlässt und ein Kind zeugt - ob jetzt nun im konkret leiblichen oder im geistig übertragenen. Im Endeffekt gibt es plötzlich Gott 1 und Gott 2.
    Trinitarische Vorstellung können sie Juden, wie auch Muslime nicht vermitteln. Daran müssen sie glauben, das ist eine christliche Glaubenswahrheit, die wir als Juden zu akzeptieren haben. Ich werde hier einen Teufel tun, dagegen zu polemisieren. Das ist überhaupt nicht meine Aufgabe. Ich will nur deutlich machen, dass der Anspruch, die sehr späte Interpretation, ohne sich auf klare Aussagen Jesu berufen zu können. Das heißt, die Kirche verhält sich so wie die Schriftgelehrten in ihrer anti-jüdischen Polemik. Sie durchforsten ununterbrochen die Schrift, um sie dahingehend zu biegen. Wenn Jesus sagt, ich bin der Menschensohn, heißt es direkt, du sagst es. Plötzlich wird alles Mögliche herangezogen – da ist es, da hat er es doch gesagt. Aber warum sagt er es nicht klar und deutlich? Jetzt wird es zum Glaubensdogma, zum Trennungsdogma. Zwischen Juden und Christen, zwischen Rechtgläubigen und Ungläubigen aus der Sicht der Kirche. Glaubst du, dass Jesus der leibliche Sohn Gottes, wahrer Mensch und wahrer Gott ist?
    Das Messianische ist dabei unwichtig. Und dann gewinnt die Passion natürlich eine ganz andere Dynamik, denn hier leidet jetzt auf einmal nicht einer von tausenden und tausenden jüdischer Märtyrer. Der Kreuzestod, der unendlich viele Juden in dieser Zeit ereilt hat – man sagt, dass die Wälder um Jerusalem abgeholzt waren, weil die Römer so viele Kreuze brauchten. Jetzt auf einmal ist es nicht das Leiden eines frommen jüdischen Rabbis, eines, der vielleicht sich als Messias verstand oder von bestimmten Leuten als Messias verehrt wurde. Und viele der Messiasse hatten auch ein Martyriums-Schicksal. Jetzt auf einmal ist es Gott, der getötet wird. Und das Groteske ist, dass man für den Tod jetzt Menschen verantwortlich macht. Das ist etwas, was sie keinem Juden erklären können. Gott, der Allmächtige, der beschließt – ich interpretiere Christentum – so werde ich und will ich sterben, warum auch immer. Gleichzeitig sind es aber Menschen, denen er sagt: und ihr seid schuld und hättet ihr euch anders verhalten, hätte der arme Gott nicht leiden müssen. Das ist der totale Bruch, wo Juden und Christen einander auch nicht mehr verstehen.