Montag, 06. Mai 2024

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Serie: Der Einfluss des antiken Ägyptens
Die hermetische Weltformel und der Schleier von Isis (Teil 2)

Das hermetische Denken geht davon aus, dass der vollkommene Zustand der Welt an ihrem Anfang bestanden hat und im Laufe der Jahrtausende verlorenen gegangen ist. Um zu diesem Zustand zurückkehren zu können, beruft man sich seit der Antike über die europäische Renaissance und darüber hinaus auf die hermetischen Schriften des Hermes Trismegistos, der eine Verkörperung des ägyptischen Gottes Thot ist. Dieser Schriftenkanon galt bis in die Neuzeit als älteste Weisheitslehre der Menschheit.

Erik Hornung im Gespräch mit Rüdiger Achenbach | 18.11.2014
    Abydos, Thot übergibt Pharao Sethos I. die Kronen von Unter- und Oberägypten, Relief im Tempel Sethos I.
    Hermes Trismegistos ist eine Verkörperung des ägyptischen Gottes Thot (l.) (dpa/picture alliance/Friedel Gierth)
    Rüdiger Achenbach: Herr Hornung, noch einmal im Blick auf die Ägyptologie. Geht es da nicht letztlich darum, zu erforschen, inwiefern diese Vorstellung vom esoterischen Ägypten ihre Wurzeln in der alten ägyptischen Tradition, in der alten ägyptischen Kultur haben?
    Erik Hornung: Das kann man mit einen gewissen Recht durchaus versuchen, auch wenn es bisher noch kaum geschehen ist. Ich meine die Galionsfigur des esoterischen Ägypten ist ja die Gestalt des Hermes Trismegistos, des dreimal größten Hermes. Der Hermes ist ja die griechische Wiedergabe des alt-ägyptischen Gottes Thot, der für die alten Ägypter der Gott der Weisheit schlechthin war, vor allem der gesamten Schriftkultur. Er galt noch für Platon als Erfinder der Hieroglyphen. Er hat sich nun in der ptolemäisch-römischen Zeit Ägyptens - also ganz spät.

    Achenbach: Also die Endzeit sozusagen der ägyptischen Geschichte.
    Hornung: Ja, genau. Da hat er sich in die Neuschöpfung des Hermes Trismegistos verwandelt, bei dem sich alt-ägyptisches Gut mit griechisch-hellenistischem Gedankengut verbindet und dann ja ein ungeheures Nachleben bis heute gehabt hat. Er galt interessanterweise auch für die mittelalterlichen Theologen – christlichen Theologen
    Achenbach: Auch schon für die Kirchenväter in der Antike.
    Hornung: Auch für die Kirchenväter schon als eine Autorität, die man durchaus anerkannte. Deswegen hat sich ja sogar Kopernikus für seine astronomische Revolution auf ihn berufen. Noch heute kann man beobachten, dass für manche esoterischen Gruppen der Hermes Trismegistos eine historische Figur – kann man direkt sagen – ist, der irgendwann mal in Alexandria gelebt und dort Corpus Hermeticum geschrieben hat. 1:46
    Achenbach: Obwohl – sie haben jetzt gesagt, der Ursprung liegt eigentlich bei dem ägyptischen Gott Thot, dem Gott der Weisheit. Ist es denn bedeutend, dass er im Laufe oder im Wandel der Jahrtausende der ägyptischen Geschichte irgendwann zu einer menschlichen Gestalt geworden ist? Habe ich das richtig verstanden?
    Hornung: Ja. Er ist von Hause aus – wie gesagt – ein Gott. Aber wir haben das einzigartige Phänomen, dass wir hier in einer einzigen Gestalt einen Gott und zugleich einen Religionsstifter haben, denn schon für die späte Zeit, die wir eben erwähnten, die ptolemäisch-römischen Zeit, galt er als ein menschlicher Weiser, den man gar neben Moses stellte, als einen Zeitgenossen von Moses, der nun diese hermetische Religion – wenn man so sagen will- begründet habe, in deren Mittelpunkt aber Gestalt des Hermes Trismegistos steht.
    Achenbach: Das heißt, im Grunde genommen beruft man sich hier immer auf eine durchgehende Tradition. Die sagt, alles das, was wir hier überliefern – im Zusammenhang mit dem Hermes Trismegistos – alles das geht zurück auf das alte Wissen der alten ägyptischen Kultur.
    Die Vollkommenheit des Anfangs
    Hornung: Ja, genau. Und das ist eigentlich ein wichtiges Kennzeichnen des sogenannten hermetischen Denkens, das man ja ableitet von der Gestalt des Hermes Trismegistos, dass am Anfang das Vollkommene steht. Man möchte wieder zurück zur Vollkommenheit des Anfangs, die durch die Jahrtausend lange Entwicklung gebrochen wurde. Ganz im Gegensatz zu unserem heutigen Denken, das ja bestimmt ist vom Entwicklungsgedanken, dass sich aus primitiven Anfängen ein immer Vollkommeneres langsam entwickelt. Das ist eben der genaue Gegensatz zu diesem hermetischen Denken.
    Achenbach: Das heißt, es geht um die Einheit der Natur, in der alle Dinge sozusagen miteinander irgendwie verbunden sind und in einer Entsprechung zueinander stehen.
    Hornung: Das hermetische Denken ist eigentlich ein Denken in Analogien. Das oben ist, sowie das, was unten ist, das ist im Grunde eigentlich die hermetische Weltformel – wenn man so sagen will.
    Achenbach: Das ist das Weltbild des Mikrokosmos und des Makrokosmos.
    Hornung: Ja richtig.
    Achenbach: Also ein gesamter Kosmos, in dem alles in Entsprechung zueinandersteht oder alles in analog.
    Hornung: Durch Analogien verbunden ist, ja. Und deswegen diese ungeheure Einheitlichkeit.
    Achenbach: Sie haben vorhin gesagt, das ist eigentlich eine religiöse Richtung. Aber bekannt geworden ist das hermetische Denken ja durch die hermetische Philosophie, wie wir sie dann besonders in der Renaissance haben.
    Hornung: Ja, sie ist dann in der Renaissance mächtig aufgeblüht. Vor allem da man unter dem Eindruck stand, man könnte hier auch philosophisch gewissermaßen vor die Griechen zurück, vor Platon. Vor allem Hermes Trismegistos galt als viel älterer Philosoph als Platon. Er war Zeitgenosse des Moses.
    Befreiung von der Autorität der Bibel
    Achenbach: Das heißt, man versuchte damals neben der Bibel auch ältere Offenbarungen zu finden und trifft dann auf Hermes Trismegistos.
    Hornung: Das war ein willkommener Anlass, um sich von der Autorität der Bibel zu befreien. Man suchte damals nach neuen Wegen und neuen Horizonten. Da bot sich die hermetische Philosophie in idealerweise an.
    Achenbach: Die über lange Zeit hin noch gewirkt hat. Vor allem einen besonders großen Einfluss hatte ja die Inschrift, die Plutarch vom Tempel der Isis zu Sais überliefert hat. Dieser berühmte Spruch: "Ich bin alles, was das ist und was das war und was da sein wird und meinen Schleier hat kein Sterblicher je aufgedeckt". Das ist ja ein Spruch gewesen, der sozusagen sehr berühmt geworden ist.
    Hornung: Der antik überliefert wurde und dann aufgegriffen, vor allen dann im späten 18. Jahrhundert. Bei Schiller. Beethoven hatte diesen Spruch auf seinem Schreibtisch stehen.
    Achenbach: Dennoch – diese Tradition, die so über viele Jahrhunderte über dieses hermetische Denken fortlebt, ist irgendwann im 19. Jahrhundert zu ende. Das gibt es – wie man heute sagt – einen Paradigmenwechsel zur klassischen Antike. Die tritt jetzt in den Hintergrund. Heute aber erleben wir – man kann das sehen an sehr vielen Ausstellungen und auch an sehr viel Literatur, die auf dem Buchmarkt kommt – eine Art Renaissance. Würden Sie sagen, dass wir auch eine Renaissance der Ägyptosophie erleben?
    Hornung: Ganz sicher. Sie haben mit Recht gesagt, im frühen 19. Jahrhundert trat das vorübergehend zurück. Man hat dann in Ägypten eigentlich mehr etwas Exotisches gesehen. Es dann auch mit anderen Kulturen wie Indien, China oder den alt-mexikanischen Kulturen zusammengestellt und hat sich ganz auf das damals neu entdeckte klassische Hellas, das klassische Griechenland konzentriert.
    Achenbach: Was natürlich auch mit den Freiheitskämpfen Griechenland gegen die Türkei zu tun hatte.
    Hornung: Natürlich, die haben da sehr viel Solidarität in Europa erweckt und eben auch dazu beigetragen. Aber dann haben gegen Ende des 19. Jahrhunderts haben die Theosophen im Grunde noch einmal eine Ehrenrettung – wenn man das so sagen will – der hermetische Ägypten versucht. Und zwar mit großem Erfolg versucht, denn in ihrer Tradition stehen eine ganze Reihe von modernen Bewegungen. Insofern kann man seitdem wieder von einer gewissen Renaissance dieses hermetisch geprägten Ägypten sprechen. Neben der modernen Wissenschaft – das steht, existiert jetzt beides nebeneinander. Ich glaube, das sollte man wirklich mehr Querverbindungen schaffen und die Berührungsängste überwinden.
    Afrozentrische Bewegung
    Achenbach: Es gibt ja nun seit einigen Jahren auch eine sogenannte afrozentrische Bewegung der Ägyptosophie. Was hat es denn damit auf sich?
    Hornung: Die entstand in den USA bereits im 19. Jahrhundert. Und zwar bei der Suche der schwarzen Amerikaner nach einer neuen Identität. Sie besannen sich wieder auf ihre Ursprünge in Afrika und gingen mit Recht davon aus, dass die älteste Hochkultur auf afrikanischem Boden natürlich die Ägyptische ist. Nur wurde dann sozusagen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, dadurch dass man Ägypten dann zu einer schwarzafrikanischen Kultur machen wollte. Das führte dann zu bizarren Auswüchsen.
    Achenbach: Das heißt also, der Ursprung der menschlichen Kultur im schwarz-afrikanischen Ägypten – kann man das auf diese Formel bringen?
    Hornung: Kurz gesagt, ja.
    Achenbach: Thomas Mann hat in seinem Roman "Joseph und seine Brüder" Ägypten humane Gegenkultur zur modernen Barbarei und als Hoffnung auf eine neue Humanität dargestellt. Können Sie diese Einschätzung teilen?
    Hornung: Das Lustige ist ja Thomas Mann zunächst im Zauberberg das hermetische Ägypten in den Mittelpunkt stellt. Das spielte eine große Rolle. Und erst später – eben bei der Arbeit an seinem großen Josephsroman, da kommt er nun auf das alte Ägypten und hat sich da sehr, sehr gründlich informiert. Man kann sagen, das Ägyptenbild von Thomas Mann ist in mancher Hinsicht überzeugender Ägyptenbilder der Ägyptologie. Er hat sich da mit seiner Intuition auch sehr schön eingefühlt. Er schrieb ja in einer sehr schlimmen Zeit – eben der Nazi-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg – bis zur Vollendung des Romans und hat nun ganz gewusst dieses alte Ägypten, wie er es gesehen hat, das nun kein hermetisches Ägypten mehr war, sondern durchaus das Ägyptenbild der modernen Wissenschaft auch widerspiegelte. Da hat er nun dieses humane Gegenbild aufgebaut, gegen die moderne Barbarei. Da steckt natürlich durchaus etwas sehr Richtiges drin.
    Achenbach: Und das ganzheitliche Bild der alten Ägypten scheint ja auch heute eine enge Berührung zu neueren Naturwissenschaften zu haben, die von der Stärke der Einheit der Natur ausgehen im Zusammenhang mit der Umweltkomponente. Wo sehen Sie denn heute die besonderen Herausforderungen für die wissenschaftliche Arbeit der Ägyptologie – gerade nur im Blick auf die Ägyptosophie?
    Hornung: Ich glaube, die Ägyptologie kann auch modernen esoterischen Interessen dienen, die ja durchaus legitim sind – man sucht nach einer tieferen, verborgenen Weisheit, die einem die normale Wissenschaft nicht bieten kann. Da kann, glaube ich, die Ägyptologie in Gestalt sehr vieler religiöser Texte aus dem alten Ägypten ein sehr interessantes und provozierendes Material zur Verfügung stellen. Ich glaube, da sollte man wirklich mehr Querverbindungen schaffen und die Berührungsängste vor allem überwinden.