Wohin sich wenden? Ringsum nur Kahlheit, basaltgraue Felsränge, lepragelbe Wüsten, tote Mondtäler, Kreidebäche und Silberströme, in denen verendete Fische abwärts treiben. Oh Ratlosigkeit, gelähmter Flügel der Seele! Da dringt nicht einmal der Ablauf von Tag und Nacht in unser Bewußtsein, obwohl der Tag glanzvoll ist und schattenlos, und die Nacht erleuchtet von kalten Gestirnen.
Das ist der Auftakt zu einem literarischen Vermächtnis besonderer Art.
Die schweizer Schriftstellerin, Fotografin und Journalistin Annemarie Schwarzenbach ist tatsächlich am Ende ihrer physischen und psychischen Kräfte, als sie mit diesen Aufzeichnungen beginnt. In einer Mischung aus Autobiographie, Reisebericht und Erzählung sind sie nun unter dem Titel
Tod in Persien in einer neuen Auflage erschienen. Es ist einer der eindrucksvollsten Texte Annemarie Schwarzenbachs, der – bezeichnenderweise – erst posthum veröffentlicht wird. Ein Schicksal, das im Übrigen dem größten Teil ihrer Arbeiten beschieden ist. Zum Glück, muß man dennoch sagen, andernfalls wäre diese Schriftstellerin der Dreißiger Jahre vermutlich der Vergessenheit anheimgefallen. So aber haben die Schwarzenbach-Texte seit ihrer Wiederentdeckung im Herbst 1987 in dem kleinen, aber feinen Basler Lenos Verlag eine Heimat gefunden, einen Raum liebevoll gepflegter Anerkennung, die der Autorin selbst zeit ihres Lebens versagt blieb. Und die sie doch wie kaum etwas anderes ersehnte.
Wer war diese Schweizer Intellektuelle, deren androgyne Erscheinung Männer wie Frauen gleichermaßen anzog? Deren Romane, Erzählungen und Reportagen von einem großartigen sprachlichen Talent zeugen, über das Klaus Mann, Freund und Seelenverwandter Annemarie Schwarzenbachs, einmal bewundernd geäußert hat: "Ihr Stil hat Leichtigkeit, Duft und Rhythmus."
Was war so faszinierend an dieser Frau, deren viel zu kurzes Leben – sie starb mit 34 Jahren an den Folgen eines Fahrradunfalls – bereits fünf Biografen, männliche wie weibliche, inspirierte? Das jüngste, bislang umfangreichste Werk – eine Romanbiografie – stammt von der jungen Autorin Melania Mazzucco. Die so Geliebte hat die italienische Dramaturgin ihr beeindruckendes, 538 Seiten umfassendes Porträt genannt. Es basiert auf außerordentlich gründlichen Recherchen und füllt die Leerstellen der Schwarzenbach-Biografie mit dichterischer Inspiration. Einfühlsam, lebendig und in einer kraftvollen, streckenweise poetischen Sprache entwirft Melania Mazzucco das Bild einer tragischen Frauengestalt, die den Leser, respektive die Leserin, von der ersten bis zur letzten Seite gefangen nimmt.
Laura ging auf Zehenspitzen über den Korridor und fand Annemarie schlafend in ihrem Bett. (…) Sie beugte sich herab, um sie zu betrachten. Der dünne Scheitel, der die Haare teilte, von denen ein Teil auf ihren Schläfen lag, war eine weiße Linie – endgültig, unversöhnlich. Ihre Hand lag entspannt auf dem Kissen, am kleinen Finger der linken Hand trug sie einen Ring mit einem dunklen Stein. Ihre Lippen schienen mit höchster Geduld entworfen zu sein – man hätte sagen können: mit großer Liebe. (…) Ihre Stirn war schweißnaß, die Hautfarbe ungesund. Sie sah krank aus. Oder vielleicht war sie nur erschöpft, wie nach einer großen Anstrengung, die ihre Kräfte überstieg …
Tatsächlich hatte "der Zwerg", wie ihre Mutter sie manchmal nannte, in ihrem jungen Leben ihre Kräfte frühzeitig verausgabt. Dabei barg der Anfang die glänzendsten Aussichten. Am 23. Mai 1908 wird Annemarie Schwarzenbach in Zürich in die großbürgerliche Welt eines schweizer Seidenfabrikanten hineingeboren. Reich, klug, begabt schreibt sich die knabenhafte junge Frau nach der Matura für das Fach Geschichte ein. Sie studiert kurze Zeit in New York und zwei Semester an der Pariser Sorbonne. Als sie ihr Studium mit einem Doktortitel krönt, ist sie gerade dreiundzwanzig Jahre alt. Im Herbst 1930 trifft sie das erste Mal auf Klaus und Erika Mann. Sie ist fasziniert von den beiden intellektuellen Bohemiens und folgt ihnen alsbald nach Berlin – glücklich, dem Zugriff der dominanten Mutter und dem preußischen Drill des heimischen Herdes zu entkommen. Und da sie auch das geistig anspruchslose Leben einer Millionenerbin nicht wirklich ausfüllt, stürzt sich Annemarie kopfüber in die vibrierende Berliner Künstlerwelt.
Es ist der Beginn zahlloser, nicht standesgemäßer Abstürze: Alkohol und Frauenliebschaften, Suchtprobleme und Selbstmordversuche. Gefolgt von Stationen in Entzugskliniken und Nervenheilanstalten. In den Atempausen dazwischen schreibt Annemarie, und – sie unterstützt ihre neuen Freunde bei deren vielfältigen kulturpolitischen Engagements: Klaus Mann bei der Gründung der Exilzeitschrift Die Sammlung; die Schwester Erika mit ihrem antifaschistischen Kabarett Die Pfeffermühle. Die höhere Tochter aus dem Hause Schwarzenbach-Wille schickt sich an, den familiär vorgezeichneten Pfad zu verlassen – auf Abwegen und als einsames schwarzes Schaf!
Denn Erika Mann, Nachfolgerin auf dem Thron der angebeteten Mutter, erwidert die Liebe, die Annemarie ihr zeitlebens entgegenbringt, nicht.
In der Vorbemerkung zu Tod in Persien heißt es:
Um Irrwege handelt es sich in diesem Buch, und sein Thema ist die Hoffnungslosigkeit. (…) Wir können auf Mitleid und Verständnis nur hoffen, wenn unsere Mißerfolge erklärlich, unsere Niederlagen mutig erkämpft und unser Leiden die unvermeidliche Folge solch vernünftiger Ursachen sind. Wenn wir schon zuweilen grundlos glücklich sind, so dürfen wir doch keinesfalls auf die gleiche Weise unglücklich sein.
Damit thematisiert die Autorin ihren Grundkonflikt zwischen der Loyalität gegenüber der Familie einerseits und der Sehnsucht nach einem freien, selbstbestimmten Leben auf der anderen Seite. Lösen wird sie ihn in ihrem kurzen bewegten Leben nicht. Sie kann ihn nur mildern, sich immer wieder Trost verschaffen durch das Schreiben, für sie der einzig verlässliche Ort eines vorübergehenden inneren Friedens.
Gleichwohl ist Annemarie Schwarzenbach eine für ihre Zeit außerordentlich moderne Frau, die sich den Zwängen einer eng umrissenen weiblichen Identität auf mutige Weise entzieht. Sie hält sich nicht an die ungeschriebenen Gesetze der Familiendynastie, was zum Beispiel die Wahl der Freunde betrifft. Sie ignoriert die politisch-ökonomischen Seilschaften ihres Elternhauses, die Hitler und Nazideutschland protegieren. Doch sie zahlt einen hohen Preis für ihre Eigenheiten. Des Elternhauses verwiesen, lebenswund und getrieben von einer grenzenlosen inneren Unruhe sucht Annemarie Schwarzenbach immer wieder Zuflucht auf Reisen. Asien, Amerika, Afrika – je ferner der Kontinent, desto größer ihre Hoffnung, dem Leiden am eigenen Leben entrinnen zu können. Vor allem Persien mit seinen archaischen Landschaften wird für Annemarie Schwarzenbach zu einem schicksalhaften Ort.
Man kniet, halb ausgestreckt, im Wind. Es wird immer so weitergehen, denkt man, immer. Mutter, denkt man (…) ich habe irgend etwas, ganz am Anfang falsch gemacht. Aber nicht ich war es, sondern das Leben. Alle Wege, welche ich auch ging, welchen ich auch entging, endeten hier, in diesem "glücklichen Tal", von dem es keinen Ausweg mehr gibt, und welches deshalb schon dem Ort des Todes ähnlich sein muß. Abendschatten füllen es, sanft gleiten sie von den letzten Bergen herab und bedecken die Abhänge und die schlafenden Herden, die wie Flaum daran haften…
Aber noch gibt das Leben, wenngleich schon beschädigt, den Ton an. Kaum genesen von ihrem letzten Morphiumentzug, macht sich Annemarie Schwarzenbach zusammen mit der Weltenbummlerin Ella Maillart auf eine Reise nach Afghanistan. Im Juni 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, verlassen die beiden Frauen das krisengeschüttelte Europa und fahren ...
… nach Osten! Anderen Himmeln entgegen! (…) Auf der Suche nach dem Wesentlichen, für das es keinen Namen gibt.
Alle Wege sind offen hat der Lenos Verlag die wunderbare Sammlung von Reportagen und Feuilletons betitelt, die aus den Eindrücken jener Reise entstanden sind. Sie liegt nun auch als Taschenbuch vor und belegt einmal mehr Annemarie Schwarzenbachs unvergleichliche Sprachkunst, die sich weniger dem konkretem Erleben denn dem märchenhaft Visuellen verschrieben hat.
Eines Nachts, erinnere ich mich, blieb ich mit zwei geplatzten Reifen zwischen den glutgesättigten und gespensterhaft stillen Gartenmauern eines Dorfes liegen, das sich in Ruinen und sonderbaren Lehmklippen zu verlieren schien wie im Labyrinth eines dantesken Hölleneingangs. Der Ort hieß Taschkurghan, und einige Stunden später ließ der alarmierte Polizeichef meinen Wagen bis zum Tor eines Märchenpalastes eskortieren, der am Ende eines schier endlosen, sanft ansteigenden Gartens weiß im Mondlicht lag. Hinter der hohen Gartenmauer sah ich eine blaue, wunderbare, gleichsam dem Nachthimmel und nicht dieser Welt angehörende Gebirgskette. Dort, dachte ich, konnte es weder Fels noch Gras geben, keine Schluchten und Täler, keine Bäume, Weiden, Hirtenfeuer, keine Gletscher, keine Stürme. Alles war ebenmäßige, samtige Materie, von zartem Dunst umkleidet, von Mondlicht durchtränkt und durchschienen, bis hinauf zum phantasievoll gezackten Kamm, der sich, wollte man ihn berühren, sicher auflösen und den milchigen Wolken vermählen würde.
Im Zuge ihrer Recherchen gelang es Melania Mazzucco, einen Dokumentarfilm aufzuspüren, den die Reisebegleiterin Ella Maillart in Afghanistan drehte. Er zeigt für wenige Momente die Schwarzenbach selbst. Was die Biografin im letzten Absatz ihres Porträts über ihre "Begegnung" mit der So Geliebten zu erzählen hat, dokumentiert die ungebrochene Faszination, die die Schweizer Schriftstellerin selbst 61 Jahre nach ihrem tragischen Unfalltod noch immer ausübt.
Ich spule den Film erneut zurück, und wieder flicht Annemarie die Ähren, hält die Zigarette zwischen den Fingern, und der Rauchfaden steigt in einen Himmel, von dem ich weiß, daß er blau ist. Und noch einmal – die Zigarette verglimmt nicht, die Sonne geht nicht unter, die Zeit vergeht nicht, sie kehrt nicht nach Europa zurück, sie fährt nicht nach Amerika und dringt nicht in den dunklen Kongo ein, sie fällt nicht vom Fahrrad, sie verliert sich nicht im Schweigen – wenn man nur ihr Leben zurückspulen könnte, den Rhythmus verlangsamen und diesen Augenblick festhalten, noch bevor er zu Ende ist: Laß die Ähren nicht fallen, streif die Asche nicht ab, schließ die Augen nicht, geh nicht fort, bleib – so.
Melania G. Mazzucco
Die so Geliebte
Piper, 543 S., EUR 23,90
Annemarie Schwarzenbach
Alle Wege sind offen
Lenos, 172 S., EUR 9,95
Annemarie Schwarzenbach
Tod in Persien
Lenos, 151 S., EUR 9,95
Das ist der Auftakt zu einem literarischen Vermächtnis besonderer Art.
Die schweizer Schriftstellerin, Fotografin und Journalistin Annemarie Schwarzenbach ist tatsächlich am Ende ihrer physischen und psychischen Kräfte, als sie mit diesen Aufzeichnungen beginnt. In einer Mischung aus Autobiographie, Reisebericht und Erzählung sind sie nun unter dem Titel
Tod in Persien in einer neuen Auflage erschienen. Es ist einer der eindrucksvollsten Texte Annemarie Schwarzenbachs, der – bezeichnenderweise – erst posthum veröffentlicht wird. Ein Schicksal, das im Übrigen dem größten Teil ihrer Arbeiten beschieden ist. Zum Glück, muß man dennoch sagen, andernfalls wäre diese Schriftstellerin der Dreißiger Jahre vermutlich der Vergessenheit anheimgefallen. So aber haben die Schwarzenbach-Texte seit ihrer Wiederentdeckung im Herbst 1987 in dem kleinen, aber feinen Basler Lenos Verlag eine Heimat gefunden, einen Raum liebevoll gepflegter Anerkennung, die der Autorin selbst zeit ihres Lebens versagt blieb. Und die sie doch wie kaum etwas anderes ersehnte.
Wer war diese Schweizer Intellektuelle, deren androgyne Erscheinung Männer wie Frauen gleichermaßen anzog? Deren Romane, Erzählungen und Reportagen von einem großartigen sprachlichen Talent zeugen, über das Klaus Mann, Freund und Seelenverwandter Annemarie Schwarzenbachs, einmal bewundernd geäußert hat: "Ihr Stil hat Leichtigkeit, Duft und Rhythmus."
Was war so faszinierend an dieser Frau, deren viel zu kurzes Leben – sie starb mit 34 Jahren an den Folgen eines Fahrradunfalls – bereits fünf Biografen, männliche wie weibliche, inspirierte? Das jüngste, bislang umfangreichste Werk – eine Romanbiografie – stammt von der jungen Autorin Melania Mazzucco. Die so Geliebte hat die italienische Dramaturgin ihr beeindruckendes, 538 Seiten umfassendes Porträt genannt. Es basiert auf außerordentlich gründlichen Recherchen und füllt die Leerstellen der Schwarzenbach-Biografie mit dichterischer Inspiration. Einfühlsam, lebendig und in einer kraftvollen, streckenweise poetischen Sprache entwirft Melania Mazzucco das Bild einer tragischen Frauengestalt, die den Leser, respektive die Leserin, von der ersten bis zur letzten Seite gefangen nimmt.
Laura ging auf Zehenspitzen über den Korridor und fand Annemarie schlafend in ihrem Bett. (…) Sie beugte sich herab, um sie zu betrachten. Der dünne Scheitel, der die Haare teilte, von denen ein Teil auf ihren Schläfen lag, war eine weiße Linie – endgültig, unversöhnlich. Ihre Hand lag entspannt auf dem Kissen, am kleinen Finger der linken Hand trug sie einen Ring mit einem dunklen Stein. Ihre Lippen schienen mit höchster Geduld entworfen zu sein – man hätte sagen können: mit großer Liebe. (…) Ihre Stirn war schweißnaß, die Hautfarbe ungesund. Sie sah krank aus. Oder vielleicht war sie nur erschöpft, wie nach einer großen Anstrengung, die ihre Kräfte überstieg …
Tatsächlich hatte "der Zwerg", wie ihre Mutter sie manchmal nannte, in ihrem jungen Leben ihre Kräfte frühzeitig verausgabt. Dabei barg der Anfang die glänzendsten Aussichten. Am 23. Mai 1908 wird Annemarie Schwarzenbach in Zürich in die großbürgerliche Welt eines schweizer Seidenfabrikanten hineingeboren. Reich, klug, begabt schreibt sich die knabenhafte junge Frau nach der Matura für das Fach Geschichte ein. Sie studiert kurze Zeit in New York und zwei Semester an der Pariser Sorbonne. Als sie ihr Studium mit einem Doktortitel krönt, ist sie gerade dreiundzwanzig Jahre alt. Im Herbst 1930 trifft sie das erste Mal auf Klaus und Erika Mann. Sie ist fasziniert von den beiden intellektuellen Bohemiens und folgt ihnen alsbald nach Berlin – glücklich, dem Zugriff der dominanten Mutter und dem preußischen Drill des heimischen Herdes zu entkommen. Und da sie auch das geistig anspruchslose Leben einer Millionenerbin nicht wirklich ausfüllt, stürzt sich Annemarie kopfüber in die vibrierende Berliner Künstlerwelt.
Es ist der Beginn zahlloser, nicht standesgemäßer Abstürze: Alkohol und Frauenliebschaften, Suchtprobleme und Selbstmordversuche. Gefolgt von Stationen in Entzugskliniken und Nervenheilanstalten. In den Atempausen dazwischen schreibt Annemarie, und – sie unterstützt ihre neuen Freunde bei deren vielfältigen kulturpolitischen Engagements: Klaus Mann bei der Gründung der Exilzeitschrift Die Sammlung; die Schwester Erika mit ihrem antifaschistischen Kabarett Die Pfeffermühle. Die höhere Tochter aus dem Hause Schwarzenbach-Wille schickt sich an, den familiär vorgezeichneten Pfad zu verlassen – auf Abwegen und als einsames schwarzes Schaf!
Denn Erika Mann, Nachfolgerin auf dem Thron der angebeteten Mutter, erwidert die Liebe, die Annemarie ihr zeitlebens entgegenbringt, nicht.
In der Vorbemerkung zu Tod in Persien heißt es:
Um Irrwege handelt es sich in diesem Buch, und sein Thema ist die Hoffnungslosigkeit. (…) Wir können auf Mitleid und Verständnis nur hoffen, wenn unsere Mißerfolge erklärlich, unsere Niederlagen mutig erkämpft und unser Leiden die unvermeidliche Folge solch vernünftiger Ursachen sind. Wenn wir schon zuweilen grundlos glücklich sind, so dürfen wir doch keinesfalls auf die gleiche Weise unglücklich sein.
Damit thematisiert die Autorin ihren Grundkonflikt zwischen der Loyalität gegenüber der Familie einerseits und der Sehnsucht nach einem freien, selbstbestimmten Leben auf der anderen Seite. Lösen wird sie ihn in ihrem kurzen bewegten Leben nicht. Sie kann ihn nur mildern, sich immer wieder Trost verschaffen durch das Schreiben, für sie der einzig verlässliche Ort eines vorübergehenden inneren Friedens.
Gleichwohl ist Annemarie Schwarzenbach eine für ihre Zeit außerordentlich moderne Frau, die sich den Zwängen einer eng umrissenen weiblichen Identität auf mutige Weise entzieht. Sie hält sich nicht an die ungeschriebenen Gesetze der Familiendynastie, was zum Beispiel die Wahl der Freunde betrifft. Sie ignoriert die politisch-ökonomischen Seilschaften ihres Elternhauses, die Hitler und Nazideutschland protegieren. Doch sie zahlt einen hohen Preis für ihre Eigenheiten. Des Elternhauses verwiesen, lebenswund und getrieben von einer grenzenlosen inneren Unruhe sucht Annemarie Schwarzenbach immer wieder Zuflucht auf Reisen. Asien, Amerika, Afrika – je ferner der Kontinent, desto größer ihre Hoffnung, dem Leiden am eigenen Leben entrinnen zu können. Vor allem Persien mit seinen archaischen Landschaften wird für Annemarie Schwarzenbach zu einem schicksalhaften Ort.
Man kniet, halb ausgestreckt, im Wind. Es wird immer so weitergehen, denkt man, immer. Mutter, denkt man (…) ich habe irgend etwas, ganz am Anfang falsch gemacht. Aber nicht ich war es, sondern das Leben. Alle Wege, welche ich auch ging, welchen ich auch entging, endeten hier, in diesem "glücklichen Tal", von dem es keinen Ausweg mehr gibt, und welches deshalb schon dem Ort des Todes ähnlich sein muß. Abendschatten füllen es, sanft gleiten sie von den letzten Bergen herab und bedecken die Abhänge und die schlafenden Herden, die wie Flaum daran haften…
Aber noch gibt das Leben, wenngleich schon beschädigt, den Ton an. Kaum genesen von ihrem letzten Morphiumentzug, macht sich Annemarie Schwarzenbach zusammen mit der Weltenbummlerin Ella Maillart auf eine Reise nach Afghanistan. Im Juni 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, verlassen die beiden Frauen das krisengeschüttelte Europa und fahren ...
… nach Osten! Anderen Himmeln entgegen! (…) Auf der Suche nach dem Wesentlichen, für das es keinen Namen gibt.
Alle Wege sind offen hat der Lenos Verlag die wunderbare Sammlung von Reportagen und Feuilletons betitelt, die aus den Eindrücken jener Reise entstanden sind. Sie liegt nun auch als Taschenbuch vor und belegt einmal mehr Annemarie Schwarzenbachs unvergleichliche Sprachkunst, die sich weniger dem konkretem Erleben denn dem märchenhaft Visuellen verschrieben hat.
Eines Nachts, erinnere ich mich, blieb ich mit zwei geplatzten Reifen zwischen den glutgesättigten und gespensterhaft stillen Gartenmauern eines Dorfes liegen, das sich in Ruinen und sonderbaren Lehmklippen zu verlieren schien wie im Labyrinth eines dantesken Hölleneingangs. Der Ort hieß Taschkurghan, und einige Stunden später ließ der alarmierte Polizeichef meinen Wagen bis zum Tor eines Märchenpalastes eskortieren, der am Ende eines schier endlosen, sanft ansteigenden Gartens weiß im Mondlicht lag. Hinter der hohen Gartenmauer sah ich eine blaue, wunderbare, gleichsam dem Nachthimmel und nicht dieser Welt angehörende Gebirgskette. Dort, dachte ich, konnte es weder Fels noch Gras geben, keine Schluchten und Täler, keine Bäume, Weiden, Hirtenfeuer, keine Gletscher, keine Stürme. Alles war ebenmäßige, samtige Materie, von zartem Dunst umkleidet, von Mondlicht durchtränkt und durchschienen, bis hinauf zum phantasievoll gezackten Kamm, der sich, wollte man ihn berühren, sicher auflösen und den milchigen Wolken vermählen würde.
Im Zuge ihrer Recherchen gelang es Melania Mazzucco, einen Dokumentarfilm aufzuspüren, den die Reisebegleiterin Ella Maillart in Afghanistan drehte. Er zeigt für wenige Momente die Schwarzenbach selbst. Was die Biografin im letzten Absatz ihres Porträts über ihre "Begegnung" mit der So Geliebten zu erzählen hat, dokumentiert die ungebrochene Faszination, die die Schweizer Schriftstellerin selbst 61 Jahre nach ihrem tragischen Unfalltod noch immer ausübt.
Ich spule den Film erneut zurück, und wieder flicht Annemarie die Ähren, hält die Zigarette zwischen den Fingern, und der Rauchfaden steigt in einen Himmel, von dem ich weiß, daß er blau ist. Und noch einmal – die Zigarette verglimmt nicht, die Sonne geht nicht unter, die Zeit vergeht nicht, sie kehrt nicht nach Europa zurück, sie fährt nicht nach Amerika und dringt nicht in den dunklen Kongo ein, sie fällt nicht vom Fahrrad, sie verliert sich nicht im Schweigen – wenn man nur ihr Leben zurückspulen könnte, den Rhythmus verlangsamen und diesen Augenblick festhalten, noch bevor er zu Ende ist: Laß die Ähren nicht fallen, streif die Asche nicht ab, schließ die Augen nicht, geh nicht fort, bleib – so.
Melania G. Mazzucco
Die so Geliebte
Piper, 543 S., EUR 23,90
Annemarie Schwarzenbach
Alle Wege sind offen
Lenos, 172 S., EUR 9,95
Annemarie Schwarzenbach
Tod in Persien
Lenos, 151 S., EUR 9,95