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Sex Sells
Wie weibliche Unlust zur Krankheit wurde

Wenn Frauen keine sexuelle Lust auf ihren Partner verspüren, können sie neuerdings eine Pille namens Addyi schlucken - zumindest in den USA. Sie riskieren damit, dass ihnen übel und schwindlig wird, vielleicht auch, dass sie kurz in Ohnmacht fallen.

Von Eva Schindele | 17.01.2016
    Ein Foto von einer Viagra-Pille neben einem Foto der Addyi-Pille
    Hellblau und Rosa: Viagra und Addyi (dpa/Sprout Pharmaceuticals/Pfizer)
    Zweimal floppte die Zulassung des Medikaments wegen der schlechten Nutzen-Risiko-Bilanz. Den Durchbruch schaffte dann eine PR-Kampagne der Pharmafirma, in der Frauenverbände und Betroffene die amerikanische Zulassungsbehörde FDA des Sexismus bezichtigten. Ein Feature über die Marketingstrategien von Pharmafirmen und Verbraucher als neue Verbündete.

    Das Manuskript zur Sendung:
    Pharmafirmen müssen Medikamente vermarkten, das ist ihr Geschäft. Schon oft konnte man beobachten, wie dafür Ärzte und Zulassungsbehörden ins Boot geholt wurden. Nun gehen die Marketing-Strategen einen Schritt weiter. Gesundheitswissenschaftler Jörg Schaaber:
    "Man sucht sich Verbündete und die glaubwürdigsten Verbündeten sind natürlich Patientengruppen. Weil die unverdächtig sind und wenn man schafft, die zu überzeugen und zu Werbeträgern zu machen - dann ist das aus Sicht des Herstellers eine prima Sache."
    "Sexuelle Lust ist für Frauen wichtig und es ist Teil ihrer ganz normalen reproduktiven Gesundheitsvorsorge..."
    Terry O'Neill, Juristin und Präsidentin des einflussreichen Frauenverbandes "National Organisation for Women". Sie unterstützte die Kampagne der Pharmafirma Sprout:
    "Die Tatsache, dass mehr als 20 Medikamente für männliche Sexualstörungen von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA zugelassen wurden aber keine für Frauen, lässt uns die Rote Karte zeigen."

    Investoren hatten 2011 "Sprout Pharmaceuticals" gegründet – Ihr einziges Ziel: Addyi, die Pille für die weibliche Lust auf den Markt zu bringen. "Sprout" heuerte eine PR-Firma an, die eine clevere öffentliche Kampagne mit dem Namen "Even the Score" erfand. Darin wurde die amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde FDA des Sexismus beschuldigt, weil sie zwar etliche Medikamente für männliche Sexualstörungen zugelassen hat aber keine für weibliche. "
    An der George Town University in Washington DC lehrt die Pharmakologin Adriane Fugh-Berman. Sie gibt die unabhängige Arzneimittelinformation "Pharmed out" für Ärzte und Apotheker heraus. Zwei Mal war die sogenannte "Lust"-Pille mit dem Wirkstoff Flibanserin wegen schlechter Nutzen-Risiko-Bilanz bereits von der FDA zurückgewiesen worden. Nun sollte eine Frauenlobby ihr zum Durchbruch verhelfen.
    "Selbstverständlich ist die FDA nicht sexistisch. Diese Kampagne "Even the Score" versuchte Feministinnen und Frauengruppen zu überzeugen, dass die Pille nicht zugelassen wurde, weil die FDA Frauen nicht ernst nimmt.... Die Frauengruppen, die dem zugestimmt haben, kennen sich überhaupt nicht aus mit der Zulassung von Arzneimitteln und kaum mit Gesundheitsfragen."
    - "Hey Leute habt ihr gehört, dass die FDA das erste Medikament für die weibliche Lust zugelassen hat. Dann hat sich ja meine vierstündige Erektion gelohnt ..."
    - "Ich weiß schon was ich damit machen soll... Danke FDA".
    Ein Paar liegt am Strand. Er mit karierter Boxer-Badehose und behaarter Brust, sie mit pinkfarbenen Badeanzug und ziemlich sexy. Sie setzt sich auf, stößt ihn scherzhaft zurück bevor sie beide "wilde Tiere" spielen.
    "Danke FDA".
    Dieser Video-Clip ploppte wenige Tage nach der Zulassung von Flibanserin auf der Website von "Even the Score" auf. Wer bedankt sich da bei der Zulassungsbehörde: Frauen, die zukünftig eine fragwürdige Pille schlucken dürfen? Oder die Investoren der Pharmafirma "Sprout", die ihre Firma einen Tag nach der Marktzulassung für eine Milliarde Dollar an den kanadischen Pharmakonzern "Valeant" verkauft haben?
    "Großer Placebo-Effekt"
    "Der Nutzen – im statistischen Sinne - ist sehr bescheiden. Frauen berichteten im Durchschnitt über ein halbes befriedigendes sexuelles Erlebnis mehr im Monat.
    Der Internist Caleb Alexander ist Co-Direktor des Zentrums für Arzneimittelsicherheit an der Johns Hopkins Universität in Baltimore.
    Insgesamt profitierten nur 10 Prozent der Studienteilnehmerinnen überhaupt von der Lustpille. Der Placeboeffekt ist groß. Das heißt, auch die Frauen der Vergleichsgruppe, die nur eine Zuckerpille schluckten, berichteten über mehr sexuelle Lust.
    "Besorgniserregend sind Nebenwirkungen wie plötzlicher Blutdruckabfall und damit verbunden Übelkeit, Schwindelgefühle oder, wenn auch nur selten, kurze Ohnmachtsanfälle. Man kann sich vorstellen, welche katastrophalen Auswirkungen das beim Autofahren oder Bedienen einer Maschine haben kann. Und Alkohol steigert diese potenziellen Risiken."

    Und nicht nur das: Auch Antidepressiva, Pilzmittel und die Anti-Baby-Pille verschlimmern die unerwünschten Nebenwirkungen.
    "Wir haben uns in Europa einigermaßen gewundert über die Zulassung dieser Substanz", sagt der Bremer Pharmakologe Bernd Mühlbauer, Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.
    "Ich würde sagen, dass die Zulassungsbehörde ausschließlich für den Verbraucher- also den Menschenschutz da sein sollte. Die FDA ist eine öffentliche Einrichtung und folgt nun bestimmten Druck-und Pressure-Momenten einer Interessensgruppe aus der Bevölkerung.... Also es ist durch nichts anderes erklärbar, weil auch im dritten Anlauf keine besseren Daten als in den ersten Anläufen vorgelegt wurden - sondern eine andere Stimmungslage, die also durch die Interessenvertretungen aufrecht erhalten wurde."
    "Viagra hilft den Männern, wenn sie keine Erektion haben. Die Werbung ist überall. Es nervt, nicht den Fernseher aufdrehen zu können, ohne Werbung für Viagra zu sehen. Ist dies nicht ärgerlich, immer diese Produkte zu sehen, die für Männer gemacht sind und auch noch von der Krankenversicherung bezahlt werden?"
    Die Zuschauer des Yahoo Werbefilms sehen eine kleine blaue Pille, einen grauhaarigen Mann, der sie schluckt. Auch der Filmschauspieler schwört auf sie und wenn sie aus Versehen im Benzintank landet, gibt sie dem Auto so richtig Power.
    Vom Antidepressivum zur Lustpille
    Die kleine rosa Pille wird "Pink Viagra" getauft, in Anspielung auf Viagra, ein Blockbuster, der dem US-amerikanischen Pharmariesen Pfizer mehr als eine Milliarde Dollar Umsatz im Jahr beschert. Mit Viagra wurde die männliche Impotenz in den 90er Jahren aus der Tabuzone herausgeholt. Heute ist die "Erektile Dysfunktion" kurz ED keine Schande mehr.
    "Der Ausdruck Potenzmittel ist falsch, weil es ist kein Mittel das die Lust fördert, sondern es ist ein Mittel, das Männern hilft, wenn sie sexuell erregt sind, und - das ist die wichtige Voraussetzung - dass ihr Penis steif wird oder bleibt. Es verhindert einfach den Rückfluss des Bluts aus dem Penis und so wird er steif."
    Deshalb hinke der Vergleich zwischen Addyi und Viagra, so der Bielefelder Gesundheitswissenschaftler Jörg Schaaber. Viagra fördert die Durchblutung des Penis. Addyi setzt dagegen im Gehirn an und verändert den Dopamin-Stoffwechsel. Ursprünglich wurde der Wirkstoff Flibanserin vom deutschen Pharmakonzern Boehringer Ingelheim als Antidepressivum entwickelt. Doch dafür taugte er nicht. Allerdings fiel den Forschern ein Nebeneffekt auf. Die Frauen verspürten mehr sexuelle Lust. Das war vielversprechend. Schließlich suchten Pharmahersteller schon seit den 1990er Jahren nach dem pharmakologischen Schlüssel für weibliches Begehren. Aber welche sexuelle Störung sollte der Wirkstoff bei Frauen behandeln?
    "Nach der Geburt meines ersten Kindes habe ich es gleich gemerkt, dass sich mein Körper verändert hat und ich keine Lust spürte. Ich sagte mir: gib deinem Körper Zeit. Und ich wartete – bis mein Mann sagte, du musst es jetzt richten lassen."
    In dem von Yahoo produzierten Werbefilm wird eine junge, attraktive Frau vorgestellt – eine Countrysängerin auf dem Weg zum Erfolg. Inzwischen ist sie Hausfrau mit zwei kleinen Kindern und hat keine Lust auf Sex. Ihr Mann schickt sie zum Arzt. Der diagnostiziert bei ihr HSDD, die Hypo-Sexual-Desire-Disease, zu deutsch: fehlende sexuelle Lust.
    "HSDD ist von der Pharmaindustrie erfunden worden – ursprünglich nicht um Addyi zu verkaufen, sondern ein Testosteronpflaster zur Steigerung der weiblichen Lust. Aber die FDA hat dieses nicht zugelassen. Andere Firmen, die auch Medikamente für die Behandlung geringer Libido entwickelten, haben dann HSDD übernommen."
    Von der Erfindung einer Krankheit
    In den USA wie übrigens auch in der EU ist es verboten, Arzneimittel zu bewerben, bevor sie für den Markt zugelassen sind. Also versuchen die Hersteller den Boden anders zu bereiten.
    "Wenn eine Firma versucht, eine bestimmte Störung, manchmal auch eine erfundene Störung, mit einem bestimmten Medikamentennamen zu verknüpfen, dann sprechen wir von "condition branding".
    Zum Beispiel: erektile Dysfunktion mit dem Namen des Medikaments Viagra
    "So versuchte Boehringer Ingelheim und später Sprout, die Aufmerksamkeit für die erfundene Krankheit HSDD zu steigern."
    "Schritt 1 der Marketingstrategie:"
    Die Meinungsführer eines medizinischen Faches, in dem Fall Psychiater und Sexualtherapeuten müssen auf diese Störung aufmerksam gemacht werden. Wissenschaftliche Studien zur weiblichen Lustlosigkeit werden finanziert und veröffentlicht und etablieren das Thema in der Fachwelt.
    "Schritt 2 der Marketingstrategie:"
    Die Diagnose HSDD findet 2004 erstmals Eingang in den Diagnosekatalog der amerikanischen Psychiater, kurz DSM. Der Katalog definiert, welche Zustände als krank oder zumindest behandlungsbedürftig anzusehen sind. Nach diesen Diagnosekriterien richten sich weltweit die Experten. Auch in Deutschland. Der Gesundheitswissenschaftler Jörg Schaaber ist Herausgeber des unabhängigen Pharmabriefes und Präsident des ISDB, eines Zusammenschlusses industrieunabhängiger Arzneimittel-Zeitschriften aus 41 Ländern.
    "Der DSM hat eine unselige Tradition im Krankheiten erfinden und das hängt damit zusammen, dass ein großer Teil der Experten, die diesen DSM 5 schreiben, schwere Interessenskonflikte haben, dass sie sich gleichzeitig von Herstellern bezahlen lassen und so ist Flibanserin nicht das erste Beispiel, wo erst ein Wirkstoff da ist, und dann hat man dazu eine Krankheit konstruiert."
    So wurden Lebensphasen wie die Wechseljahre der Frau zur Östrogenmangelkrankheit, und Männer mittleren Alters sollen ihre schwindenden Kräfte mit Testosteron aufmöbeln. Jetzt also die Hypo-Sexual-Desire-Disease, HSDD, die mit Addyi therapiert werden sollte:
    "Dieses Medikament soll ja das nachlassende Begehren behandeln. Ich frag' mich, wer von uns allen kennt das nicht, eine nachlassende Lust..."
    Die Kölner Gynäkologin Annegret Gutzmann arbeitet als Psycho- und Sexualtherapeutin.
    "Insofern hat mich das sehr gewundert, dass dieser Zustand letztendlich in Form eines Krankheitsbildes HSDD, Hypo-Sexual-Desire-Disease widerspiegelt und in dem neuen Erkrankungskatalog, im DSM-5 wiederfindet und damit überhaupt die Weihen bekommen hat als eine von den gesetzlichen Krankenkassen anerkannte Erkrankung dazustehen.
    Wie viel Sex ist normal? Einmal im Monat? Einmal die Woche? Jeden Tag? Und schürt die "Lustpille" nun sogar die Erwartungen an Frauen? Und der Frauen an sich selbst?
    "Vor Jahrzehnten war es so, dass Frauen die Lust auf Sexualität abgesprochen wurde. Heute ist es so, dass es fast eine Verpflichtung zur Sexualität gibt - egal welches Alter eine Frau hat. Daran sehen Sie schon, wie abhängig ist das von gesellschaftlichen Konditionen, von einem Zeitgeist und von einer Norm kann man gar nicht sprechen."
    Wie oft die Frau Sex hat, sagt nichts über die Intensität des Empfindens aus. Aber ein Lustgefälle in der Partnerschaft kann Stress aufbauen. Das betrifft im Übrigen sowohl Männer als auch Frauen. Gleichzeitig ist es normal, dass die Lust im Laufe des Lebens schwankt, sei es nach der Geburt von Kindern, im stressigen Alltag, in den Wechseljahren oder in langjährigen Partnerschaften.

    16 Millionen Amerikanerinnen litten unter ihrer Lustlosigkeit, jede 10. Frau sei von HSDD betroffen – so sieht es dagegen die Pharmafirma.
    "Schritt 3 der Marketingstrategie:"
    Die niedergelassenen Ärzte, Ärztinnen oder Therapeutinnen werden ins Boot geholt. Schließlich stellen sie die Diagnose und verschreiben auch das Medikament. Die Pharmafirma erstellt Fortbildungsmaterial, das offiziell zertifiziert wird, sowie einen Fragebogen mit 20 Fragen, der das Diagnostizieren von HSDD vereinfachen soll.
    "Wir haben 14 offiziell zertifizierte Module untersucht, die Boehringer Ingelheim entwickelt hat und wir konnten Marketing Botschaften finden wie diese: HSDD sei ein häufiges, aber zu selten diagnostiziertes Problem, das bei Frauen viel Leiden verursache und es sei problematisch, dass es dafür keine Behandlung gebe". So wird ein Markt für das Medikament vorbereitet."
    Das indirekte Sponsoring von Fortbildungsmaterial durch Arzneimittelhersteller hat Pharmakologin Fugh- Berman auch für andere Medikamente nachgewiesen. Ein Riesenproblem, auch in Deutschland.
    "Schritt 4 der Marketingstrategie:"
    Patientinnen müssen öffentlich über ihr Leiden berichten. Selbsthilfegruppen werden unter Mitwirkung des Pharmaherstellers gegründet und finanziell unterstützt, eine Kampagne in den sozialen Netzwerken gestartet und die Medien für das Thema interessiert.
    "Wir haben noch nie eine so breite und weitreichende Kampagne gehabt, die darüber hinaus die sozialen Medien so intensiv genutzt hat. Das war eine intensive Lobbyarbeit und Politisierung dieses Medikaments."
    Die Juraprofessorin und Anwältin Terry O'Neill macht sich seit Jahrzehnten für Frauenrechte in den USA stark. Sie ist Mitte fünfzig, Wahlkampf-Unterstützerin von Hillary Clinton und seit 2009 Präsidentin der "National Organisation for Women". Dass die FDA der weiblichen Lustpille auch im zweiten Anlauf die Zulassung verweigert, sieht sie als Diskriminierung – und engagiert sich:
    "Auf der einen Seite wollen wir Zulassungsbehörden, die die Pharmahersteller überwachen. Auf der anderen Seite müssen beide Pharmafirmen, aber auch die Zulassungsbehörde die Fähigkeit von Frauen respektieren, selbst Entscheidungen zu treffen: Wenn eine Frau sagt, ich bin unzufrieden, weil ich keine sexuelle Lust empfinde und ich brauche deshalb ein Medikament, dann muss man ihr zuhören und sie respektieren. Dass man bei der Medikamentenzulassung zur Behandlung von HSDD nicht vorankommt, ist ein schlechtes Signal für alle Frauen. Es zeigt, dass unsere Sexualität nicht so wichtig genommen wird."
    Damit ist die Zulassung von Addyi nicht mehr der Wunsch einiger lustloser Frauen, die sich von der neuen Pille Heilung versprechen, sondern wird zur nationalen Angelegenheit. Selbst einige Kongressabgeordnete machten sich für Addyi bei der FDA stark, die ja eigentlich unabhängig und nur nach wissenschaftlichen Evidenzen entscheiden soll.
    "The FDA is under a huge amount of pressure from legislators and from drug companies."
    Das Interesse der Pharmafirmen sei es, die Anforderungen für die Zulassung eines Medikaments zu senken und damit die Verfahren zu beschleunigen und zu verbilligen. Soweit bekannt. Doch der Druck auf die FDA nehme zu, sagt die Pharmakologin Adriane Fugh-Berman.
    "Die FDA hat 96 Prozent der Anträge in diesem Jahr gebilligt."
    Noch vor zehn Jahren waren es 40 Prozent. Sind vielleicht die Studien, die die Pharmafirmen einreichen, besser geworden? Selbst das US-amerikanische Wirtschaftsmagazin "Forbes" will daran nicht so recht glauben. Es warnte kürzlich die Arzneimittelhersteller, den Bogen nicht zu überspannen. Dabei war die FDA lange Zeit Vorbild im Verbraucherschutz auch für europäische Zulassungsbehörden.
    "Sie schützen nicht mehr die Allgemeinheit und ich hoffe, dass dies die Europäische Arzneimittelbehörde EMA besser macht."
    Doch auch die Europäische Zulassungsbehörde EMA strebt neuerdings kürzere Zulassungsverfahren an, damit – so die Begründung - Kranke schneller von einem Medikament profitieren können. Das findet Bernd Mühlbauer von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft fatal.
    "Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft oder das IQWiG beziehen zur Zeit sehr eindeutig Stellung gegen die beschleunigten Zulassungsverfahren - adaptive licensing ist das schöne Wort - da sollen Medikamente zugelassen werden mit noch weniger Daten als wir sie heute haben und dann mit dem frommen Wunsch, dass der Pharmaunternehmer dann nach und nach, also in den ersten 2,3,4 Jahren nach der Markteinführung weitere Daten zur Wirksamkeit vorlegt. Da muss man aber ganz klar sagen, die bisherigen Erfahrungen mit beschleunigten Zulassungsverfahren, die es jetzt schon gibt - aber in Ausnahmefällen -, haben genau das Gegenteil angedeutet: Wenn eine Substanz erst einmal auf dem Markt ist, ist es sehr schwer, wieder aus dem Markt herauszukriegen, und pharmazeutische Unternehmer kümmern sich erstaunlich wenig um die Auflagen, die mit der Zulassung verbunden waren."
    Die EMA begründet ihre Bestrebungen mit den "Patientenwünschen". Auf die Patienten würden dann aber auch die Risiken abgewälzt, schreibt das pharmakritische "Arzneitelegramm".
    "Die beschleunigte Zulassung... bedeutet für Patienten beträchtliche Unsicherheit in Bezug auf Nutzen und Verträglichkeit... Da erscheint es zynisch, wenn gleichzeitig vorgeschlagen wird, die Produkthaftungsklagen während der frühen Vermarktungsphase auszuschließen."
    Nun ist nicht neu, dass lebensbedrohlich Erkrankte die Arzneimittelbehörden unter Druck setzen, weil sie hoffen, dass das neue Medikament ihr Leben rettet. Beispiele sind die Aktionen von Aidskranken in den frühen 90er Jahren, aber auch Menschen, die an Krebs oder schweren seltenen Krankheiten leiden. Doch dass eine Frauenlobby nun Druck macht für eine Störung, deren Krankheitswert höchst umstritten ist, unterhöhlt auch die Glaubwürdigkeit von Patientenvertretern.
    Die werden auch in Deutschland mehr und mehr beratend in die Gesundheitsversorgung mit einbezogen – zum Beispiel beim Gemeinsamen Bundesausschuss, GBA, der über die Bezahlung von Medikamenten und Therapien entscheidet.
    Der Einfluss der Patienten
    "Zuerst wurden wir als Störfaktor wahrgenommen und man ist auf unsere Interventionen nur sehr unwillig eingegangen. Das hat sich dann relativ schnell geändert. Plötzlich saß jemand Drittes am Tisch - nicht nur die Ärzte und Krankenkassen, sondern auch die PatientenvertreterInnen - und die stellen dumme Fragen und da muss man rechtfertigen, was man tut. Das hebt die Qualität der Debatte.
    ...sagt Jörg Schaaber, der seit 10 Jahren für die "Arbeitsgemeinschaft der Patienten und Patientinnenstellen" im GBA sitzt. Aber es gibt auch eine Schattenseite:
    "Patientengruppen müssen sich sehr bewusst sein: Je mehr Einfluss sie bekommen auf Entscheidungsprozesse, umso attraktiver werden sie als Ziel auch für die Pharmaindustrie.
    Zum Glück wächst bei vielen Patientenorganisationen langsam das Bewusstsein, dass das ein Problem ist. Viele Organisationen versuchen, sich dagegen zur Wehr zu setzen."
    So hat der Dachverband der Selbsthilfegruppen Leitsätze zur Zusammenarbeit mit Sponsoren formuliert. Eine Förderung durch Unternehmen, die 40 % des Etats übersteigen, wird als bedenklich eingestuft. Ein Monitoring-Ausschuss überprüft "verdächtige" Selbsthilfe- und Patientengruppen. Auch führende Pharmaunternehmen unterwerfen sich der "Freiwilligen Selbstkontrolle", dem sogenannten FSA-Kodex, und veröffentlichen ihre Zuwendungen an Patientenverbände.
    "...Auf der anderen Seite, Transparenz alleine macht den Konflikt ja nicht weg, sondern macht ihn sichtbar. In meinen Augen jedenfalls kommt es darauf an, solche Interessenskonflikte soweit wie möglich zu vermeiden."
    Schönen Nachmittag wünscht die Mitarbeiterin des FDA. Sie leitete das zweitägige Symposium, in dem Fachleute und Betroffene sich vor der Entscheidung über HSDD, der weiblichen "Lustlosigkeit" austauschen. Eingeladen war auch Vicky, deren Reisekosten von Sprout bezahlt wurden. Vicky, 39, nach dem 4. Kind merkt sie, dass ihre sexuelle Lust schwindet.
    "Mein Körper war wie eine leere Hülle. Ich wollte keinen Sex und hatte absolut keine Lust. Das war ganz furchtbar für uns beide. Sex ist für mich jetzt nur noch eine Verpflichtung, um meinen Mann zufriedenzustellen. Ich weiß, er fühlt sich zurückgewiesen... Deshalb fühle ich mich schuldig, weil ich ihn ja liebe. Was bedeutet das für mich und meine Ehe? ... Frauen wie ich haben es verdient, dass uns geholfen wird, um unsere Lust wiederzuerlangen."
    Die Inszenierung war perfekt. Manche Experten und Expertinnen fühlten sich dadurch unter Druck gesetzt. Der Internist Caleb Alexander gehörte dem 24 köpfigen Beratungsgremium an, das den FDA bei der Zulassung unterstützen sollte.
    "Es gab viele Frauen, die vor dem Beratungsgremium ihre Geschichte bekundeten: Wie wichtig es für ihr Leben sei, dass die Pille zugelassen werde, da sie ihnen zu mehr Lust verhelfe und überhaupt zu besserer sexueller Gesundheit."
    Zulassung unter Auflagen
    Das Votum der Experten: Sechs stimmten gegen eine Zulassung des Wirkstoffs Flibanserin, 18 waren dafür – aber unter harten Auflagen: Addyi darf nur von vorher geschultem medizinischem Personal verschrieben werden, das über die Risiken aufklärt. Es muss täglich geschluckt werden, und zwar nur abends unmittelbar vor dem Schlafengehen.
    "Ich stimmte gegen die Zulassung von Flibanserin, weil alles in allem die Nutzen-Schaden-Bilanz ungünstig ist."
    Nur 24 Wochen dauerte die Wirksamkeitsstudie. Niemand weiß, was danach passiert. Wird die Frau irgendwann von ihrer Unlust geheilt oder profitiert sie nur, wenn sie die Pille dauerhaft schluckt? Gibt es Langzeitrisiken?
    "Es gibt viele unbeantwortete Fragen zu dem Produkt und das hängt damit zusammen, wie es im wirklichen Leben dann genutzt wird."
    Addyi darf nicht verschrieben werden, wenn körperliche, psychische oder Partnerschaftsprobleme vorliegen und es darf auch nicht eingenommen werden, um die sexuelle Performance zu verbessern. Außerdem ist es nur für Frauen vor den Wechseljahren zugelassen. Sonst ist es ein sogenannter Off-Label-Gebrauch und der macht auch der Pharmakologin Fugh-Berman Sorgen.
    "Die FDA und andere Arzneimittelbehörden regulieren nicht die medizinische Praxis. Sie regulieren ein Medikament. Sobald ein Arzneimittel auf dem Markt ist, kann es aus jedem Grund außerhalb der Zulassung, also Offlabel verschrieben werden. Nicht jede Off-Label-Verschreibung ist unvernünftig, aber etwa zwei Drittel werden ohne Wirksamkeitsnachweis gemacht. Ich befürchte, dass das auch auf Addyi zutrifft und sie Frauen in und nach den Wechseljahren, mit anderen Krankheiten oder zusätzlich zu anderen Medikamenten verschrieben wird, was die Risiken für unerwünschte Nebenwirkungen noch steigert."
    Ende 2015, Addyi ist gerade einen Monat auf dem Markt. – und verkauft sich schlecht, sehr schlecht, meldet der auf Wirtschaft spezialisierte Sender Bloomberg. Nur 227 Rezepte wurden in den ersten 3 Wochen ausgestellt. Im Vergleich: Viagra verkaufte sich bereits im ersten Monat nach der Markteinführung eine halbe Million Mal. Die Kosten: 780 Dollar monatlich. Die Krankenversicherungen übernehmen einen Großteil davon und der Hersteller winkt mit Rabatten, sodass Frauen die ersten drei Monate nur etwa 20 Dollar bezahlen müssen. Für Europa ist die Marktzulassung vorerst nicht beantragt.
    Barbara und ihr Mann Craig strahlen. Sie erzählen der Reporterin, dass die Lustpille bereits nach einem Monat geholfen hat und Barbara sogar wieder Sex initiiert.
    "Das macht meinen Ehemann sehr glücklich."
    Ob Addyi für die kanadische Pharmafirma "Valeant" nun ein großes Minus-Geschäft wird, bleibt abzuwarten. Den dicken Reibach haben dagegen schon jetzt die Investoren von "Sprout Pharmaceuticals" gemacht, die mithilfe einer Frauenlobby die Marktzulassung erreicht und die Pille dann – für eine Milliarde US-Dollar - an Valeant verkauft haben.Dabei verloren hat die Glaubwürdigkeit der Zulassungsbehörde, und auch den Frauen und Paaren wurde kein Liebesdienst erwiesen.
    "Krankheiten zu verkaufen ist eine Marketingmethode, die leider in allen Ländern funktioniert. Ich denke wirklich, dass Ärzte die Medizin wieder übernehmen müssen und nicht von den Pharmafirmen die Krankheiten definieren lassen sollen. Wenn eine Krankheit die medizinische Welt betritt, dann verlässt sie sie nie mehr. Es ist schlecht für das Gesundheitswesen, manipuliert die medizinische Praxis und das, was Verbraucher einnehmen. Dessen sollten wir uns wirklich bewusst sein und dagegen kämpfen."