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Sexualisierte Gewalt im Sport
"Man ist einfach wehrlos"

Boris Kaminski war als Kind ein erfolgreicher Tennisspieler, liebte den Sport. Er machte aber auch Erfahrungen, über die er jetzt – 30 Jahre danach – öffentlich spricht. Kaminski beschreibt schwere sexuelle Übergriffe durch seinen Trainer. Er will für ein Tabuthema sensibilisieren und andere Kinder schützen.

Von Andrea Schültke | 12.12.2021
Boris Kaminski steht an einem Waldrand
Boris Kaminski erfuhr als junger Sportler sexualisierte Gewalt durch seinen Trainer (Schültke/dlf)
Triggerwarnung:
Text und Audio enthalten Beschreibungen sexualisierter Gewalt, die verstörend und retraumatisierend wirken können.

Hilfe und Beratung für Betroffene gibt es am Hilfetelefon 0800-22 555 30
und online: hilfe-telefon-missbrauch.online
Boris Kaminski ist ein großer, sportlicher Mann, er war Trainer und Basketball-Funktionär. Als Kind hat er erfolgreich Tennis gespielt, seine Eltern vertrauten dem Coach, der sich intensiv um ihn gekümmert hat: „Es war meistens so, dass man fast direkt nach der Schule abgeholt wurde und wir dann letztendlich zum Training gefahren sind. Zwei Stunden Training, essen, duschen noch Hausaufgaben machen im Büro und dann eben wieder zurück. Dass man so früh abends oder abends eigentlich wieder zu Hause war.“
Viele Stunden am Tag war der Junge mit dem Trainer allein. Die Taten hätten sich langsam angebahnt, erinnert sich Boris Kaminski heute - von Küssen auf den Mund über das Duschen mit dem Trainer, wenn alle anderen Kinder schon aus der Halle waren, bis hin zu gemeinsamen Übernachtungen etwa bei Tennisturnieren. Dort habe es nach den Spielen eine Massage gegeben: „Und das dann erst mal immer in Unterhose. Und irgendwann wurde dann die Unterhose runtergezogen und ‚es ist auch nicht schlimm, was jetzt passiert‘…ja.“.

"Immer noch ekelhaft und schwierig"

Ein dreiviertel Jahr, so schätzt er, habe der Anbahnungsprozess gedauert. Dann hätten die schweren Übergriffe begonnen:

Wenn ich dann auf dem Bauch gelegen habe und das Öl über meinen Rücken lief und dann auch über den Po und in die Po-Ritze und so nach dem Motto ‚Ach guck mal, jetzt ist da hinten was reingelaufen und jetzt gehe ich mit meiner Hand mal da durch‘. Das sind so Dinge, die ich noch als extrem ekelhaft empfinde, auch irgendwie noch als schwierig. Es fühlt sich immer noch so an, als wäre da noch was auf meinem Rücken.

Mehr als hundert schwere sexuelle Übergriffe habe er erfahren, schildert Boris Kaminski. Zwischen zehn und 13 Jahren alt sei er da gewesen, wehrlos habe er sich dabei gefühlt:

Aber man nimmt Dinge wahr wie die Farbe des Vorhangs, die Holzart des Tisches oder die Temperatur in dem Raum. Das sind Dinge, die ich noch absolut im Gedächtnis habe. Die haben sich irgendwie in meinen Kopf eingebrannt.

Kurze Zeit später einen anderen Zehnjährigen an der Seite

Der Trainer sei mehr und mehr Familienmitglied geworden, habe Geburtstage und Weihnachten mitgefeiert. Er habe empfunden, dass er in einer Beziehung mit dem Mann sei, die habe er nach Jahren selbst beendet: „Ich habe zu ihm dann eben im Alter von 13, knapp 14 Jahren gesagt ‚Ich möchte diese Beziehung beenden. Ich möchte mich von dir trennen, weil ich mit einem Mädchen zusammen sein möchte‘.“
Kurze Zeit später habe der Trainer bereits einen anderen Zehnjährigen an seiner Seite gehabt. Viele Menschen im Umfeld in verantwortlichen Positionen hätten etwas gewusst, aber nichts unternommen, so Boris Kaminski. Zum Teil seien diese Personen noch heute im Sport aktiv.
Er habe später versucht, die Erinnerungen an die Taten mit Alkohol wegzuspülen, auch andere Drogen konsumiert und extrem viel Sport getrieben, habe depressive Phasen gehabt und auch Selbstmordgedanken:

Wo man dann auch das eigene Sein hinterfragt und sagt ‚Was mache ich hier eigentlich, was ist mir da passiert?‘ Und das kann ich nie mit jemandem teilen. Und dann werde ich immer als schwach dargestellt und so nach dem Motto: Gut, dann nehme ich es lieber schnell mit ins Grab.

"Das geht für mich gegen Null"

Seit einem Jahr arbeitet er seine Geschichte auf, hat Anzeige erstattet gegen seinen ehemaligen Trainer. Erfolglos, die Taten sind verjährt. Zur Aufarbeitung gehört für Boris Kaminski auch öffentlich zu sprechen. Vor einigen Wochen bei Pro7, jetzt im Deutschlandfunk. Er will dazu beitragen, dass andere Kinder geschützt werden.
Auf den organisierten Sport setzt Boris Kaminski da nicht: „Natürlich will keiner Missbrauch begünstigen und alle schreiben sie haben zehn Regeln, wie Sie darauf achten wollen, dass kein Missbrauch in Ihrem Verband passiert. Aber das, was aktuell passiert, das geht für mich gegen Null“.

"Darüber sprechen, weil dieses Thema einfach da ist"

Die Idee eines Zentrums für Safe Sport, wie sie der unabhängige Verein Athleten Deutschland in die Diskussion eingebracht hat, hält Boris Kaminski für den richtigen Weg. Ein unabhängiges Zentrum, das Kompetenzen bündelt, von Beratung über juristische Unterstützung, Monitoring von Präventionsmaßnahmen, Risikoanalyse, Lizenzentzug und Sanktionierung sei für ihn mehr als ein Hoffnungsschimmer. Die Umsetzung müsse oberste Priorität haben um die Kinder zu schützen. Dazu will er beitragen, indem er seine Geschichte öffentlich erzählt:

Ich habe kein Problem damit, wenn jemand sagt Haste vom Kaminski gehört. Hast du das mitbekommen, dieses Interview? Und gerade wenn das gesagt wird, dann wird dadurch ja klar gemacht, dass der nächste Mensch es sich anhört und wieder drüber spricht und wieder darüber spricht, weil dieses Thema einfach da ist.

Wenn Sie selbst Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind und mit ihrer Geschichte auf das Thema aufmerksam machen wollen, schreiben Sie unserer Autorin Andrea Schültke direkt: Andrea.Schueltke.fm@deutschlandradio.de
Im Deutschlandfunk senden wir eine gekürzte Version dieses Beitrags und des Gesprächs mit Boris Kaminski. Hier lesen Sie die ausführliche Version des Beitrags und hören das komplette Gespräch.