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Sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche
Das Schweigen der Laien

Täterschutz war wichtiger als Opferfürsorge - so lautet ein Ergebnis eines Gutachtens für das Bistum Aachen. Im Erzbistum Köln bleibt ein Gutachten derselben Kanzlei unter Verschluss. Betroffene fühlen sich wieder missbraucht - und Laienverbänden fällt es schwer, für die Opfer Partei zu ergreifen.

Von Christiane Florin | 16.11.2020
Schatten bei der Vorstellung der Missbrauchsleitlinien der katholischen Kirche.
Neue Leitlinien bei sexuellem Missbrauch (dpa / Harald Tittel)
Ein katholischer Bischof gibt ein Gutachten in Auftrag. Eine Anwaltskanzlei soll untersuchen, wie Amtsträger von 1965 bis 2019 mit sexualisierter Gewalt umgingen. Sie soll prüfen, ob das Verhalten dem Recht und dem kirchlichen Selbstverständnis entspricht. Die Anwälte tun ihre Arbeit, das Ergebnis wird in einer Pressekonferenz vorgestellt. So geschehen im Bistum Aachen. Die Münchner Kanzlei Westpfhal Spilker Wastl veröffentlichte am vergangenen Donnerstag mehr als 400 Seiten. Jeder kann das PDF-Dokument herunterladen, lesen und sich ein Bild des Bistums Aachen machen.
Es werden die Namen derer genannt, denen Täterschutz wichtiger war als Opferfürsorge. Es sind Bischöfe und Generalvikare. Einer, der frühere Bischof Heinrich Mussinghoff, hatte zuvor die Öffentlichkeit wissen lassen, dass ihn Gespräche mit minderjährigen Missbrauchsopfern überfordert hätten. Deshalb mied er sie. Ein "Mea Culpa" ist von Würdenträgern nicht zu erwarten, von Mea Mitverantwortung reden manche, jetzt kommt "Mea Überforderung" dazu.
"Wenn das bekannt wird - die arme Kirche"
Das Brisante am Aachener Gutachten sind aber nicht die Passagen mit den Namen. Es lohnt sich, die 400 Seiten ganz zu lesen – gerade für diejenigen, die die katholische Kirche mit dem Argument verteidigen, man könne diese göttliche Institution doch nicht auf Missbrauch reduzieren. Präzise beschreibt die Münchner Kanzlei ein herrschendes Muster und das sieht so aus: Wenn plausible Beschuldigungen gegen Kleriker erhoben wurden, war die Reaktion von Vorgesetzten nicht: "Um Himmels Willen, das arme Kind!". Sondern: "O mein Gott, wenn das bekannt wird – die arme Kirche". Von einer "paranoiden Angst" vor einem Skandal ist die Rede. Was hochwürdigste Herren so reagieren ließ, ist nicht allein mit individueller Herzenskälte, eigenen Karrieregelüsten und persönlicher Loyalität zu erklären. Täterschutz und Opfermissachtung waren keine Fehlfunktionen des Systems. Das hatte System, das IST das System.
Sechs katholische Bischhöfe stehen in violetten Soutanen mit weißen Chorhemden gekleidet während einer Messe in einer Bank. Sie haben die Hände zum Gebet gefaltet. 
Katholische Kirche und sexualisierte Gewalt - Die Blockade der Bischöfe
Warum hat bisher kein katholischer Bischof in Deutschland persönliche Konsequenzen aus vielfacher sexualisierter Gewalt durch Geistliche gezogen? Ein Kardinal erzeugt wissentlich einen völlig falschen Eindruck. Auch Hoffnungsträger mauern. Aber es gibt Insider, die erzählen.
Das Kirchenrecht kennt keine Selbstbestimmung des Einzelnen. Es schützt das Sakrament, die Priesterweihe, den Zölibat. Bis heute gilt sexueller Missbrauch als Zölibatsverstoß. Die Kirche ist das wahre Opfer. Solange sich das nicht ändert, haben die oft schwer traumatisierten Betroffen gar kein Recht, das sie bekommen könnten.
Die Opfer stören. Mehr noch und auch dafür gibt es Belege weit über Aachen hinaus: Wer Betroffenen glaubt, wer ihre Geschichte publik macht, gilt als Feind der Kirche. Auch der Vatikan hat kürzlich ein Gutachten veröffentlicht, untersucht wird der Fall des früheren Erzbischofs von Washington McCarrick. Es ist auch ein Fall Johannes Paul II. Die Vorwürfe gegen Mc Carrick waren in Rom schon in den 1990er Jahren bekannt. Der allzu schnell heilig gesprochene Pontifex Johannes Paul II. misstraute Opferberichten, weil er erlebt hatte, dass die Kommunisten in Polen Priester des Missbrauchs beschuldigt hatten, um die Kirche zu diskreditieren. Betroffene stehen in diesem Freund-Feind-Denken auf der Feindesliste.
Die Opfer auf der Feindesliste
Wer über Aachen und Rom spricht, kann über Köln nicht schweigen. Der Bischof von Aachen, Helmut Dieser, hat sein Versprechen gehalten. Das Selbstverständliche hat deshalb Nachrichtenwert, weil Diesers Nachbar, Kölns Erzbischof Rainer Maria Woelki, ein Gutachten derselben Münchner Kanzlei nicht wie vereinbart veröffentlicht. Gemeinsam mit dem Betroffenenbeirat gab er per Pressemitteilung bekannt, dass Westphal Spilker Wastl schlecht gearbeitet hätten. Beigefügt war ein juristisches Gutachten des Gutachtens. Darin heißt es, die Münchner Kanzlei habe moralische Bewertungen abgegeben, anstatt sich auf die Rechtskonformitätsprüfung zu beschränken. Einst hallten durch den Dom moralische Donnerworte, jetzt taugt Moral bloß als Reim auf Karneval und der wurde abgesagt.
Handelt der Erzbischof von Köln so, um den Ruf seines Vorgängers Joachim Meisner zu schützen? Den Regional-Klerikalheiligen, den Zieh- und Übervater vieler kirchlicher Spitzenkräfte? Es geht nicht mehr allein um das, was zu Meisners Zeiten war. Jetzt es geht um das, was IST: die Instrumentalisierung der Betroffenen, das giftige Gesäusel von Augenhöhe und Einvernehmlichkeit. Sie fühlten sich ein weiteres Mal missbraucht, sagen ehemalige Beirats-Mitglieder. Das alles dürfte rechtskonform sein, an beratenden Juristen fehlt es in Köln ja nicht. Ob es aber zum Selbstverständnis eines guten und gerechten Hirten passt, muss der gute und gerechte Hirte entscheiden.
Die Zeugen
"Wir sind Zeugen" lautet der Wahlspruch des Erzbischofs. Die 68 anderen Mitglieder der deutschen Bischofskonferenz sind Zeugen dieser Vorgänge. Sie schweigen laut. Es gilt als unfein, sich in interne Angelegenheiten anderer Bistümer einzumischen. Sollte jemand Partei für die Kölner Betroffenen ergreifen, könnte das als feindlicher Angriff auf den Amtsbruder aufgefasst werden. Millionen weihefreie Gläubige sind auch Zeugen der Vorgänge. Ihre Vertretung, das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken ZdK, tagt am Wochenende. Vorige Woche erschien eine ZdK-Pressemitteilung zur europäischen Agrarpolitik. Ein wichtiges Thema und wohl so aufmerksamkeitsarbsorbierend, dass keine Zeit für ein kritisches Wort zum Kölner Unterpflügen der Betroffenen bleibt. Sexualisierte Gewalt ist nicht so sexy wie Synodalillusionen. Es gilt vielen Laien als Ekelthema. Die Betroffenen stören nicht nur die da oben, sie stören auch an der Basis. Und deshalb funktioniert das System.