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Sexualkunde an der Basis

Wertevermittlung und Sexualkunde für die Jugend, Lebensmittelpakete und kostenlose medizinische Behandlungen für das einfache Volk: Die Muslimbrüder agieren geschickt. Ihr Motto: Trage deine Ideen in die Öffentlichkeit, aber organisiere im Verborgenen

Von Martina Sabra | 18.09.2013
    Kairo, im Frühjahr 2012. Das Familienbildungszentrum der ägyptischen Muslimbrüder. Im gepflegten Seminarraum findet ein Ehevorbereitungskurs statt. Acht Vortragsabende unter dem Motto "Braut und Bräutigam gemeinsam gegen den Satan". Arabisch hört sich das so an: "Al arusa wal aris didd al iblis". Gegen den Satan: Was nach Exorzismus klingt, hat für Ägypter aufgrund des Reims einen ironischen Unterton. Doch die Ratschläge des Referenten an die rund 20 jungen Leute, Männer und Frauen, sind ernst gemeint.

    "Hört gut zu. Wenn ein Mann eine Entscheidung treffen will, wo holt er sich Rat? Richtig, bei Experten. Und wenn eine Frau eine Entscheidung treffen will, wo holt sie sich Rat? Bei ihren Freundinnen. Männer denken mit dem Kopf, Frauen mit dem Herzen. Deshalb können und sollen Frauen nichts entscheiden. Warum dürfen Frauen keine Richterinnen werden? Weil Juristen denken wie Männer. Also bitte noch einmal alle zusammen: Können Frauen Entscheidungen treffen? NEIN!"

    Die jungen Männer grinsen. Die Frauen, allesamt verschleiert, teilweise mit Gesichtsschleier, schauen nachdenklich vor sich hin und schreiben eifrig mit.

    "Jeder Mann sollte vier Frauen heiraten dürfen. Warum? Damit keine Frau ohne Mann bleibt. Keine Gebärmutter soll leer bleiben. Wer profitiert am meisten von der Vielehe? Wer? Die Frau. Noch einmal alle zusammen: DIE FRAU."

    Rund 18 Euro kostet der Kurs. Die meisten Teilnehmer sind Studenten. Einige fahren nach dem Kurs mit dem eigenen Auto nach Hause. Warum lassen junge Mittelschichtsägypter sich so bereitwillig auf das rückschrittliche Frauen- und Familienbild der Muslimbrüder ein? Die ägyptische Journalistin und Dokumentarfilmerin Mona El-Naggar glaubt, dass es mehrere Antworten auf diese Fragen gibt. Da sei der Wunsch nach Sicherheit - materiell und moralisch. Und die Sehnsucht nach Wertschätzung.

    "Was er sagt, klingt für westliche Ohren sehr rückschrittlich. Aber die ägyptische Gesellschaft ist konservativ und die jungen Leute im Klassenraum sind mit derartigen Ansichten vertraut. Der Knackpunkt ist, die Art und Weise, in der diese Werte hier vermittelt werden."

    Für Mona El-Naggar steht fest: Indem die jungen Leute sich die herrschenden Normen in ihrer konservativsten Variante aktiv zu eigen machen, fühlen sie sich aufgewertet und gestärkt. Sie verschwinden nicht mehr in der großen Masse, sondern werden Teil einer selbst ernannten gesellschaftlichen Avantgarde. Das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, ist das eine. Das andere ist der Umgang mit Tabus.

    "Rein-raus, Rein-raus. Der Mann kommt, kommt, koooooooomt und dann ist es vorbei. Genauso am Anfang die Frau. Sie kommt, aber dann bleibt sie oben, sie kommt mehrmals, wenn der Sex gut ist."

    Die jungen Männer grinsen noch verlegener als zuvor. Die Ausführungen des Referenten zur Sexualität treiben einige Frauen im Kurs erkennbar an die Schamgrenze, Unmut ist zu spüren. Der legt sich, als die Kamera abgestellt ist. Eine Referentin nimmt die Frauen aus dem Kurs in einen Nebenraum. Mona El-Naggar glaubt, dass viele Teilnehmer gerade deshalb in die Kurse kommen, weil sie hier über Sexualität offen reden können.

    "In Ägypten gibt es keinen Sexualkundeunterricht. Die meisten jungen Leute haben überhaupt keine Chance, sich in einem vernünftigen Rahmen zu informieren. Aber Sexualität ist im Islam nicht tabu. Solange es um Sex im Rahmen der Ehe geht, kann man darüber sprechen."

    Wertevermittlung und Sexualkunde für die Jugend, Lebensmittelpakete und kostenlose medizinische Behandlungen für das einfache Volk: Die Muslimbrüder agieren geschickt. Auf der untersten Ebene ist die Bewegung in sogenannten "Familien" organisiert. Er habe zwei Familien, sagt der junge Aktivist Khaled. Doch während es in vielen ägyptischen Familien durchaus Konflikte gibt, regieren in den Muslimbrüderfamilien Patriarchen, deren Entscheidungen nicht infrage gestellt werden.

    "Wir bekommen gesagt, was richtig und was falsch ist, und was wir zu tun haben. Auch wenn ich etwas nicht gut finde, so sehe ich keinen Grund, etwas infrage zu stellen."

    Bei diesen Worten liegt ein Glanz in Khaleds Augen und der junge Kursteilnehmer lächelt hingebungsvoll. Wie einer, der sich auserwählt weiß und zu Höherem berufen fühlt. Sarah dagegen, eine Kursteilnehmerin, die nicht zur Bewegung gehört, lässt den Referenten zwar reden. Aber sie stellt das Monopol der Muslimbrüder auf den wahren Islam infrage. Vor allem beim Thema Nebenfrauen.

    "Ja sicher, es ist sein Recht. Die Religion erlaubt ihm, bis zu vier Frauen zu heiraten. Aber ich finde es trotzdem nicht gerecht. Ich würde das nicht akzeptieren. Das verletzt mich."

    Der Film von Mona El-Naggar zeigt eindrucksvoll, mit welchen Mitteln die Muslimbrüder in Ägypten um die Jugend werben. Deutlich wird aber auch, dass viele junge Leute die rigiden Moralvorstellungen im Alltag unterlaufen. Sie wollen Offenheit, Respekt und Sicherheit, aber keine totale Kontrolle.