Sonntag, 05. Mai 2024

Archiv


"Sexy Mythos"

Der erfolgreichste Künstlermythos der Geschichte ist der des genialen Melancholikers mit Hang zu Wahnsinn und Selbstüberhöhung, so wie er derzeit in der Neuen Nationalgalerie zu besichtigen ist. Die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst im Herzen Kreuzbergs hält, wie es nun einmal ihre Art ist, munter dagegen.

Von Carsten Probst | 11.04.2006
    Der "sexy Mythos" des Künstlerdaseins, der heute noch immer so extrem erfolgreich ist in der Welt der Aktentaschenträger und aller sonstigen verkannten Berühmtheiten, ist aus Sicht der Ausstellungsmacherinnen inzwischen nichts anderes als eine Marktstrategie unter vielen, mit der sich eigentlich alles verkaufen lässt, am Ende sogar auch zeitgenössische Kunst.

    Bemerkenswerterweise hat der Inhalt dieses Mythos alle Zeiten unbeschadet überstanden und sich immer neue Vorzeigegesichter gesucht. Der heutige Kunstmarkt pflegt mit seinen periodisch wiederkehrenden Großausstellungen von van Gogh, Picasso, Frida Kahlo oder in diesem Jahr eben Rembrandt, Holbein und Caravaggio den ungebrochenen Geniekult für ein Publikum, das sich selbst darin als spektakelsüchtiges Völkchen von lauter kleinen verborgenen Genies spiegelt, die natürlich alle mitreden können und irgendwie manchmal auch gerne die Welt so darstellen würden wie X oder Y. Insofern ist die allmähliche Herausbildung des Künstlermythos zur Volksreligion oder eher zum Volkssport untrennbar verknüpft mit der Geschichte des Individualismus.

    Julia Schäfer, Kuratorin an der Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig, versucht die direkte Anwendung auf die heutige Zeit. Den nicht nachlassenden Medienhype um die so genannte "Neue Leipziger Schule" um Maler wie Neo Rauch stellt sie in einem Rechercheprojekt, das sie auf verschiedenen Videobildschirmen präsentiert, als Musterweg bei der Produktion eines lehrmeisterlich, ja geradezu paternalistisch gebildeten Künstlermythos der Berliner Republik dar. Überhaupt der deutsche Malerkult, der seit Ende des zweiten Weltkrieges wahrhaft erstaunliche Epigonenblüten getrieben hat, die weitaus eher an das 19. Jahrhundert denn an die Moderne erinnern.

    Nach dem medienwirksam eingefädelten Dahinsiechen des Malerfürsten Jörg Immendorf, der zuvor, wie ein echtes Genie, auch noch des Besitzes verbotener Rauch- und Schnupfwaren überführt wurde, ist die Suche nach einer Neubesetzung des fast schon verwaisten Throns ausgebrochen, die so selbstverständlich sich vollziehen muss wie eine Papstwahl, als bräuchte dieses Land die Rückversicherung, dass es überhaupt noch so etwas hinbekommt wie einen künstlerischen Repräsentanten.

    Aber Kirche und Kunst haben schon immer eine gewisse Gemeinsamkeit und Konkurrenz miteinander gehabt, auch was die Transparenz und Logik ihrer Hierarchien angeht. Insofern erscheint es sogar konsequent, wenn ein Kabinett dieser Ausstellung fast ausschließlich Martin Kippenberger gewidmet ist. Der ist nicht nur angemessen jung durch alkoholische und andere Exzesse von uns gegangen, er hat auch die genialische Selbsterfindungsmaschinerie des heutigen Künstlers durch und durch ironisiert und in einem Ausmaß auf die Spitze getrieben, die man sonst eigentlich nur von Joseph Beuys oder eher noch Andy Warhol kannte.

    Dass er nichts dagegen hatte, dass dieser Trick noch immer funktioniert, und dass er sich einer ganzen Burschenschaft von gleichgesinnten Künstlermachos bediente, das sich gegenseitig an die Spitze lobhudelte, war der Mythenbildung nie abträglich. Notwendigerweise werden die vielen weiteren Beiträge dieser Ausstellung von Künstlerinnen und Künstlern beigesteuert, die versuchen, den Mythos nicht zu bedienen, das heißt möglichst nüchtern, möglichst menschlich, auf Du und Du mit dem Publikum und unter Entbehrung jeglicher Anwandlung von Halbgöttlichkeit durch ihr Künstlerdasein zu kommen. Das ist natürlich verdienstvoll, aber am Ende merkwürdigerweise doch wieder so harmlos wie Vegetarismus.

    Am Ende demonstriert die Ausstellung durch nichts deutlicher als durch das, was ihr fehlt, wie sehr der Mythos des Erhabenen bereits im Auge sitzt. Wie sehr man sich den Künstler herbeisehnt, der einen von der Langeweile des eigenen Lebens erlöst, wenigstens für die berühmte Viertelstunde.