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"Shadowtime" im Prinzregententheater München

Fünf Jahre lang hat der britische Komponist Brian Ferneyhough an seiner ersten Oper geschrieben. Einige der in sich geschlossenen sieben Szenen des Stückes wurden in den vergangenen Jahren bereits konzertant aufgeführt. Entsprechend gespannt war das Publikum nun auf die erste Gesamtschau der szenischen Uraufführung, die Dienstagabend zum Abschluss der Münchner Opernbiennale stattgefunden hat. Zusammen mit seinem Librettisten Charles Bernstein machte er den deutschen Schriftsteller und Philosophen Walter Benjamin zur zentralen Figur - einen, wie Ferneyhough selbst sagt, "symbolhaften Prototyopus für die europäische Intellektuellenkultur im 20. Jahrhundert, für ihre glänzenden Leistungen, aber auch für den Schiffbruch, den sie erleiden musste."

Von Marion Ammicht |
    Was verstanden werden soll, muss übersetzt werden. So ähnlich hat es der Philosoph Walter Benjamin im Vorwort seiner Baudelaire-Übertragungen formuliert. Denn die Übersetzung sei, so Benjamin wörtlich, "zweckmäßig für den Ausdruck des innersten Verhältnisses der Sprachen zu einander". Das lässt sich nun auch auf das innere Verhältnis einzelner Künste zu einander übertragen. Denn was zum Beispiel ist das Schreiben einer Oper anderes als der szenisch vorgestellte Übersetzungsvorgang von Sprache in Musik und umgekehrt?

    So gesehen könnte man durchaus behaupten, dass der Avantgardekomponist Brian Ferneyhough und der Experimentaldichter Charles Bernstein eine Oper geschrieben haben. Auch wenn die vermeintliche Hauptfigur, der Philosoph Walter Benjamin, bereits in der ersten Szene auf der Flucht vor den Nazis Selbstmord begeht und das, was folgt nur wenig von dem enthält, was man gemeinhin unter Handlung versteht. Sieben Szenen, bis auf zwei Ausnahmen musikalisch eigenständig, teilweise auch schon bei anderer Gelegenheit konzertant uraufgeführt: Darunter ein Kammerkonzert mit Gitarre, ein dreizehnteiliger Chor zu 48 Stimmen, sieben lebende Bilder mit gesprochenem Text und schließlich ein elektronisch durchsetztes musikalisches Stelenfeld, das Ferneyhough als "nicht-chrtistliches Requiem" begriffen haben will. Eine "Gedankenoper", sagt der Komponist.

    In der zentralen vierten Szene ein Stück, das vielleicht am plastischsten vor Ohren führt, worum es hier eigentlich geht: Den Abstieg des Philosophen Walter Benjamin in die Unterwelt. Der Kultursoziologe am Tor zur Hölle, das bei Ferneyhough und Bernstein ausgerechnet im vergnügungssüchtigen Las Vegas steht. Offensichtlich ein wesentlich amüsanterer Ort als das vermeintliche intellektuelle Paradies. Ferneyhoughs Material aus dem vorherigen Engelskonzert bekommt hier einen Groove, der einfach umwerfend ist:

    "Opus contra Natura", Ein-Manntheater für einen sprechenden Pianisten heißt dieses Stück, bei dem der Flügel mit dem furios doppelbegabten Sprechpianisten Nicolas Hodges von zwei Technikern auf einer Podestscholle über die weite Bühne des Münchner Prinzregententheaters gezogen wird. Walter Benjamin, der Mann im Anzug, um dessen Gedankenwelt es hier eigentlich geht, lungert währenddessen hinten in der Ecke bei den blau-orangen Schaufensterpuppen von Las Vegas herum.

    Viel wird an diesem Abend mit Puppen und deren Schatten hantiert. Denn alles ist uneigentliches Spiel, bloße Repräsentation. Und im Folgenden, ab Szene fünf, wird abdekoriert. Dekonstruktion auf dem Weg ins musikalische Stelenfeld der Erinnerung. Der Philosoph trifft reale und imaginierte Zeitgenossen wie Papst Pius XII, Adolf Hitler und die Marx-Brothers mit Namensvetter Karl. 11 Befragungen auf dem Weg in die Ewigkeit. Der Komponist greift dabei auf 800 Jahre Musikgeschichte zurück und jagt das formale Material virtuos durch seine eigene musikalische Gedankenwelt, bevor er sie im siebten und letzten Stück mit Hilfe der Elektronik allmählich im babylonischen Sprachgemurmel verschwinden lässt.

    Aufgeregt hat da dann der in diesem Werk so oft und so viel beschworene benjaminsche "Engel der Geschichte" mit den Flügeln geflattert: mit entsetzensgeweiteten Augen, weil da ja gerade ein Prototypus des europäischen Intellektuellen auf recht zähe Art und Weise ins Jenseits befördert worden ist; mit freudig erregt gespitzten Ohren, weil die Neuen Vocalsolisten und das Nieuw Ensemble Amsterdam Ferneyhoughs komplexe Partitur mit ihren microtonalen Verästelungen und ihren kaum lesbaren rhythmischen Schichtungen in ein geradezu magisches Kraft- und Klangfeld verwandelt haben. Diese Übersetzung ist bei weitem am Besten geglückt.