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Sherlock Holmes in Rio

Der 1938 in Rio de Janeiro geborene Schriftsteller Jô Soares hat einen Sherlock-Holmes-Roman geschrieben. Er lautet - weil sein Originaltitel "O Xangô de Baker Street" heißt - auf "Sherlock Holmes in Rio" und soll, so sein deutscher Insel-Verlag, auf dem amerikanischen Subkontinent ein "überwältigender Erfolg" gewesen sein. Wen auch immer sonst es überwältigt haben mag, Sherlock Holmes hat das Buch gewiß überwältigt. Nur daß man dieses schneller als jenen vergißt. Allerdings hat das Buch zwei Eingangsmotti, die einen zwingen sollen, es für witzig zu halten. Das eine Motto stammt von Wittgenstein, das andere von Baudelaire.

Alban Nikolai Herbst |
    Nun ist, neue Sherlock-Holmes-Geschichten zu schreiben, keine neue Idee; im Gegenteil sind zahllose und auch gelungene Versuche unternommen worden. Ich denke nicht nur an die Nachschrift der von Dr. Watson bloß angedeuteten Fälle durch Arthur Conan Doyles Sohn Adrian in Zusammenarbeit mit John Dickson Carr. Sondern selbst den eher reißerisch konzipierten Erzählungen von Mitchelson und Utechin gelang es bisweilen, dem Vorbild nahezukommen. Das ist deswegen nicht leicht, weil Sherlock Holmes selbst so sehr Vorbild, ja geradezu Archetypos ist, daß er noch sein eigenes - jedenfalls in der Öffentlichkeit - fast völlig vergessen ließ: Edgar Allan Poes genialen C. Auguste Dupin. Man braucht schon viel Energie, um mit solcher Selbstbehauptung gleichzuziehen. "Sherlock Holmes in Rio" hat sie nicht. Was nicht heißen soll, das Buch sei langweilig. Es ist süffig, entwickelt passagenweise Spannung, - und doch, zwei Tage später hat man's vergessen. Jô Soares hat ein Buch für den Zeitvertreib geschrieben. Allerdings für einen unter Niveau.

    Das liegt nicht am Kriminalfall. Das liegt auch nicht am atmosphärischen Gestaltungsvermögen. Im Gegenteil. Gerade mit dem ersten Satz zeigt Soares, was er gekonnt hätte: "Frühmorgens um drei konnte man noch ein paar Negersklaven sehen, die aus den Freudenhäusern in der Rua do Regente Kübel voller Abfälle und Exkremente heraustrugen." Hätte er also nur gewollt! Doch das war es dann auch schon. Sehr bald drängt sich der in den Eingangszitaten beschworene Humor in die Zeilen, und der besteht für Soares vor allem aus Kalauern. "Beim Lesen dieser Nachrichten beschleicht mich ein eigenartiges Déjà-vu-Gefühl." Sagt Watson. "Ganz klar, mein lieber Watson", bemerkte Sherlock Holmes, womit er die Worte aussprach, auf die sein Freund immer besonders gereizt reagierte. "Wieso?" "Sie lesen die 'Times' von gestern." Das ist ein typisches Beispiel für Holmes' Beweisführung bei diesem Autor. Und ganz offensichtlich ist Soares die Karikatur aller-Detektive-schlechthin nicht bekannt, nämlich Inspektor Jacques Clouseau, sonst hätte Soares sich nicht so herzergreifend bemüht, ihn in seiner Sherlock-Holmes-Version neuzuerfinden: "Die Mütze schwenkend, verabschiedete er sich mit einer eleganten Verbeugung vom Kaiser, drehte sich um und stieß mit seinem Cape eine kostbare Vase (...) von ihrem Sockel. Für einen Herrn von 61 Jahren unerwartet behende, machte Dom Pedro II. einen katzenhaften Satz nach vorn" undsoweiter. Soares ist sich auch nicht zu fein, dieses Ungeschicks-Episödchen - nur eines unter sehr vielen - in gänzlichem Slapstick enden zu lassen: "Holmes schritt durch die breite Flügeltür (...) und nahm nicht einmal wahr, daß der Kaiser von Brasilien platt auf dem Fußboden lag."

    Nun ist es ja nicht so, daß man einem Dichter übelnehmen wolle, er habe eine Legende der Literaturgeschichte vom Sockel heben wollen - das haben bereits andere getan, zumal eleganter. Man denke nur an Billy Wilders "The Private Life of Sherlock Holmes". Das Problem liegt vielmehr darin, daß sich Soares nicht entscheiden kann, was er nun eigentlich schreiben will: ob Parodie, ob spannenden Mystik-Krimi, ob lateinamerikanischen Roman. Alles plätschert entscheidungslos dahin und klaut mal hier, klaut mal da, sogar Hannibal Lector aus dem "Schweigen der Lämmer" reinkarniert sich in die Figur eines kannibalen Dr. Aderbal Câmara. Wiederum ist die Szenerie etwa der Kneipe "Zur Leichenhalle" von ganz wunderbaren Figuren bevölkert; nur daß in dieses Biotop der viktorianische Dandy hineinstolziert, ohne daß Soares ihm die Möglichkeit zugestände, auch wie ein Elegant zu reagieren. Man merkt, der Autor will seiner Figur diese Chance nicht geben. Insofern parodiert Soares nicht, sondern macht lächerlich. Das ist so einfach und unangenehm, weil sich die Figur ja nicht wehren kann. Jedenfalls nicht sofort. Zum Beispiel läßt Soares seine Holmes-Version ziemlich untypisch Nahrung in sich hineinstopfen. Nachts wird der Detektiv dann von Blähungen und Magenkoliken befallen, was wiederum dazu führt, daß er nächstentags die Verfolgung des Verbrechers aufgeben muß, weil es ihn auf eine Kloschüssel zwingt. Einfache Gemüter mögen dergleichen tatsächlich witzig finden. Dem wenn schon nicht Ge- so doch Vorge-bildeten kommt es eher wie ein schlechtes Monthy-Python-Zitat vor. Oder Soares läßt seinen Holmes sich in die schöne Mulattin Anna verlieben und diese sich in ihn. So weit, so schon mal unwahrscheinlich. Aber daß Holmes zumindest latent homosexuell ist, hat ja auch andere gestört. Doch nun, da es in Rio zu Liebesakt und zur holmes'schen Entjungerferung kommen soll, liest sich das so: "'...Anna... Anna... Anna...', sagte Holmes immer wieder verzückt, während er ihre braunen Brüste küßte. Dann saugte er abwechselnd an ihren aufgerichteten Brustwarzen, und Anna Candelária stöhnte vor Lust. Er küßte ihre sinnlichen Lippen, und seine Zunge spielte mit ihrer Zunge."

    All dies jedoch hält den Züngler - vom Autor vertraulich "Sherlock" genannt - nicht davon ab, aufgrund übermäßigen Haschisch-Genusses vor der Penetration schlichterdings hinwegzuschlummern. Ein zweiter Versuch, diesmal im Museum, endet folgendermaßen: "Holmes erwiderte ihren Kuß mit noch größerer Heftigkeit. Etwas angenehm Feuchtes, Warmes umfing sein Geschlecht. Er trat zurück (...). Da sah er die Erklärung (...) Ein großer runder Blutfleck zeichnete sich auf Anna Candelárias blütenweißem Kleid ab. (...) Sherlock Holmes wich betreten zurück. Zwar war sein ganzer Körper von wildem Verlangen beherrscht, doch unter solchen Umständen Liebe zu machen war für einen treuen Untertan der Königin Victoria schlichtweg undenkbar. Mit den Fingerspitzen streichelte er der geliebten Frau über das Gesicht, dann ging er, in der Gewißheit, daß er seine unbezwingbare Keuschheit mit nach London zurücknehmen würde."

    Mehr ist über "Sherlock Homes in Rio" wirklich nicht zu sagen. Oder doch. Es komme hier wenigstens einmal der wirkliche Holmes in einer wirklichen Abschiedsszene zu Wort, entnommen aus >>Der zweite Fleck<<: "Holmes wandte sich von dem forschenden Blick dieser wunderbaren Augen ab. 'Auch wir haben unsere diplomatischen Geheimnisse', sagte er, nahm seinen Hut und ging zur Tür. Rehabilitiert.