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Shoa-Überlebende in Haifa
Das Haus der Erinnerungen

193.000 Überlebende der Shoah leben noch heute in Israel. Einer Studie aus 2014 zufolge leben 50.000 von ihnen unterhalb der Armutsgrenze. In Haifa, im Norden Israels, gibt es das einzige Altenheim, in dem ausschließlich Überlebende des Holocaust wohnen.

Von Sven Töniges | 03.02.2015
    Blick auf Haifa, Israel
    In Haifa gibt es das einzige Altenheim, in dem ausschließlich Überlebende des Holocaust wohnen. (picture-alliance / dpa / Andreas Keuchel)
    Vom Pausenhof schallt es herüber. Leokadia Murawski Szlak mag den Klang der spielenden Kinder. Von ihrem Zimmer blickt sie direkt auf die Grundschule gegenüber in der Kasselstraße, einer Seitenstraße im Zentrum von Haifa. Gerade räumt Lea, wie sie von allen genannt wird, einen Karton beiseite. Sie trägt eine elegante dunkelblaue Strickjacke, hat Lippenstift aufgetragen, im gleichen, kräftigen Knallrot in dem sie die Finger lackiert hat. Lea Szlak:
    "Bei mir sieht es etwas durcheinander aus, weil ich bin am umziehen. Bitte nehmen Sie Platz."
    Momentaufnahmen einer dunklen Erinnerung
    Das etwas dunkle Zimmer im Erdgeschoss wird sie gegen eine kleine Wohnung weiter oben im Haus eintauschen. Dort ist es heller. Im Dezember ist Lea Szlak 90 Jahre alt geworden. Sie ist eine von rund 80 Bewohnerinnen und Bewohnern des Heims "Yad Ezer" - "Helfende Hände". Das einzige Altersheim nur für Überlebende der Shoah.
    Ein Haus voll dunkler Erinnerungen. Erinnerungen, die Lea Szlak seit einigen Jahren in Zeichnungen festhält, in einfachen Bleistiftskizzen. Sie hat einige Zeichnungen vor sich ausgebreitet. Es sind Momentaufnahmen, Blitzlichter. Zum Beispiel als ihr Onkel ihr einmal zehn Slotys gab. 1934, im polnischen Czestochowa.
    "Das bin ich, und ich sitze im Kino. Kino Eden in der ersten Allee in Czestochowa. Für zehn Zloty konnte ich Stunden im Kino sitzen."
    Fünf Jahre später marschieren die Deutschen in Czestochowa ein. Auf einer weiteren Zeichnung stehen sich zwei Gruppen von Menschengruppen gegenüber:
    "Hier stand ich, ich konnte reingehen in ein Haus, vis-à-vis wo meine Mutter stand am Fenster, und sie hat mich gebeten, sie zu retten. Aber wie konnte ich sie retten? Ich konnte sie nicht retten. Sie wurde abtransportiert. Bis heute weiß ich nicht wohin."
    Die nächsten 63 Monate verbringt Lea Szlak in deutschen Konzentrationslagern. 1943 kommt sie nach Auschwitz-Birkenau.
    "Das ist die Baracke in Birkenau. Jede Nacht sind Mädels gestorben, vom Hunger, vom Typhus. Und wir, die noch am Leben waren, mussten schleppen die Toten zum Zählappell, man hat sie müssen zählen, wie viel gestorben sind. Und ich schleppe hier das tote Mädel. Und ihr Brot, was ihr geblieben mit die Läuse habe ich geklaut. Ich war hungrig."
    "Es gab viele hier, die sich geschworen hatten, kein einziges Wort auf Deutsch mit den Helfern zu sprechen"
    Im April 1945 wird Lea Szlak von US-Soldaten befreit. Auf Umwegen kehrt sie zurück nach Polen. Als dort neuer Antisemitismus um sich greift, geht sie mit ihrem deutschen Mann, auch eher KZ-Überlebender, nach Deutschland. Ausgerechnet.
    32 Jahre lebt Lea Murawski Szlak in Köln. Es waren gute Jahre, sagt sie. Seit drei Jahren nun ist sie in Haifa, im Heim "Helfende Hände". Das jüdische Altersheim in Köln wäre unbezahlbar gewesen. Im Heim in Haifa kostet der Platz umgerechnet 400 Euro im Monat. Mehr muss niemand bezahlen, sagt Shimon Sabag, der das Haus ab 2007 aufbaute.
    Das Geld kam vor allem von einer christlich-zionistischen Organisation, der Christlichen Botschaft Jerusalem. Beim Ausbau halfen auch 150 Freiwillige aus Deutschland, erzählt Sabag:
    "Es gab viele hier, die sich geschworen hatten, kein einziges Wort auf Deutsch mit den Helfern zu sprechen. Doch am Ende gab es eine große Eintracht, und bis heute halten viele engen Kontakt."
    Ein Haus für Alt und Jung
    Die Idee zu dem Heim kam Shimon Sabag vor mehr als zehn Jahren, als er eine Suppenküche in Haifa organisiert hatte. Plötzlich bemerkte er, wie viele Shoa-Überlebende unter den Bedürftigen waren. Von noch heute 193.000 Shoa-Überlebenden in Israel leben einer Studie von 2014 zufolge 50.000 unterhalb der Armutsgrenze. Entsprechend lang, so sagt Shimon Sabag, sei die Warteliste für sein Haus. Bald will er durch einen Anbau über 100 Menschen ein Altern in Würde ermöglichen. Aber nicht nur das, sagt Shabag:
    "Dieses Haus soll auch für junge Leute da sein, damit sie etwas über die Shoa erfahren."
    Das wollen auch die Bewohner. Mitteilen, hinterlassen, was war. Groß ist die Angst, dass die Geschichte der Shoa nach ihnen verblassen könnte. Zwischen Anfang 70 und Mitte 90 sind die Heimbewohner. Zwei Generationen: die erste und die der sogenannten Kinderüberlebenden. Beide Generationen hatten über Jahrzehnte Strategien des Schweigens entwickelt. Im Alter kommt das Verdrängte mit aller Wucht zurück. Zugleich wollen die Überlebenden das Erlebte mitteilen – was sie nie gelernt haben.
    "Ja, man spricht darüber, mir ist es schon zuviel."
    Erzählt Sara Zamir im Speisesaal, in dem gerade das Mittagessen abgeräumt wird. Das Essen war gut, wie immer, bekunden die Bewohner. Und wie immer ging es heiter zu. Im Alter gebe es eine schöne Sache, sagt Sara Zamir: Den Humor. Sara Zamir wurde 1928 als Ilse Böhm nahe Breslau geboren. Ihr Vater wurde nach dem Novemberpogrom 1938 verschleppt, ihre Mutter in Auschwitz ermordet. Sara Zamir überlebte versteckt bei einer katholischen Familie in Belgien. Schon im September '45 ging sie nach Palästina, heiratete, bekam sechs Kinder und 15 Enkelkinder. Für die Traumata von Flucht und Verlust war da kein Platz.
    "Früher hatte ich andere Sorgen und andere Beschäftigungen. Jetzt ist das die Hauptsache."
    Nachts kommt die Erinnerung
    Deutsch zu sprechen behagt Sara Zamir nicht. Doch es sei ihre Pflicht, zu erzählen, was passiert ist. Lea Szlaks Töchter wollen nicht mehr, dass ihre Mutter über das Lager spricht. Dann könne sie nachts keinen Schlaf finden. So wie gestern Nacht. Sie war sicher nicht die Einzige im Heim in der Kasselstraße.Lea Szlak:
    "Wissen Sie, wenn Sie ins Bett kommen, kommt alles in ihren Kopf. In den letzten Jahren wird es schlimmer. Ich habe Auschwitz verlassen, aber Auschwitz hat mich nicht verlassen."