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Sich gesund lesen

Klassische Kinder- und Jugendbücher beschäftigen sich mit lustigen, lehrreichen oder auch spannenden Themen. Doch auch traurige und schmerzvolle Momente gehören in jungen Jahren zum Leben dazu: Mit dem heiklen Thema Krankheit und Tod beschäftigen sich wenige, doch dafür umso eindrucksvollere Bücher.

Von Florian Felix Weyh | 28.07.2007
    "Ich finde es auf der einen Seite eine gute Tendenz, dass auch Themen, die schwer sind, nicht verschwiegen werden. Also Krankheit, Tod, ist natürlich eines der allerschwersten Themen dabei. Das hat natürlich auch eine Gefahr. Dass man Kindern zu viel zumutet, wenn man das mal so ausdrücken darf."

    "Ich habe das auch vorgelesen in einer Friedhofskapelle. Da waren achtzig Jugendliche, siebte, achte Klasse. Die waren mucksmäuschenstill. Achtzig Prozent waren nie in einer Kirche vorher gewesen. Ich hatte mit einer Organistin genau die Musik abgesprochen, genau auch zu dieser Szene von Isha und der Großmutter über den Tod und Angst vor dem Tod. Ich hatte selten so ein aufmerksames Publikum in einer für Kinder und Jugendliche hammerharten Umgebung."

    "Auf der anderen Seite: Kinder werden über die Medien und über andere Informationsquellen ja ständig mit diesen gesellschaftlichen Phänomenen, die halt zum Alltag gehören, konfrontiert. Und das heißt, man darf sie da auch nicht ganz alleine lassen."

    Nein, alleine lässt der Buchmarkt junge Leser mit Krankheit und Tod nicht. Er deckt sogar alle Facetten des Themas ab, widmet sich Phänomenen des leichten Unwohlseins wie schweren Leidens, der manifesten organischen Befunde wie der unspezifischen psychosomatischen Beschwerden. Ungeduld wie Angst sind Thema etlicher Bücher, Heilungshoffnung wie auch das sichere Sterben des Menschen – das sich freilich manchmal schockierend früh ereignet. Letzteres wird dann, wie es die aus den Niederlanden stammende Autorin und Schreibtherapeutin Marie-Thérèse Schins plastisch ausdrückt, zur "hammerharten" Erfahrung. Die leichte und die schwere Kost – beide haben sie ihre Berechtigung auf dem Lesezettel, und so sollen mit Marie-Thérèse Schins und Eschel Gneis zwei Autoren sehr unterschiedlicher Herangehensweisen ans Thema Krankheit zu Wort kommen. Beginnen wir mit Eschel Gneis. Den sonderbaren Nachnamen mag man noch der Mineralogie zuordnen, einen seiner Ahnen als Steinbrucharbeiter imaginieren. Doch den Vornamen?

    "Interessanterweise ist Eschel auch eine Gesteinsbearbeitung, eine Art von Gesteinssand oder Schlamm, könnte man sagen, was ich vorher gar nicht wusste. Denn daher kommt der Name nicht. Eschel ist die nordfriesische Version eines skandinavischen Vornamens, Eskil."

    … und das Pseudonym von Professor Dr. Ludwig Fischer, emeritierter Germanist, nicht Pädiater. Sein Debüt als Kinderbuchautor legt allerdings die Vermutung nahe, es handle sich um einen Kinderarzt im Ruhestand. Denn »Dr. Rettichs 12-Minuten-Geschichten« tragen ein sehr forsches Heilungsversprechen im Untertitel: Medizin zum Vorlesen.

    Nein, nein, wehrt Eschel Gneis lachend ab, er sei kein Schamane, der mit purer Kraft der Worte Bauch- oder Kopfschmerzen wegpusten könne. Dennoch: Reine Behauptung soll der Untertitel auch nicht sein:

    "In der Einleitung zu dem Buch wird etwas über diesen Dr. Rettich gesagt, und dort heißt es, dass er sich sehr darüber im Klaren sei, als Kinderarzt, dass das Heilen eben auch was mit der Seele zu tun hat. Körper und Psyche sind eine Einheit, und deswegen erzählt er den Kindern – neben den ganz sozusagen normalen medizinischen kleinen Kunstgriffen, Behandlungen, die er verabreicht –, erzählt er ihnen Geschichten. Der Grundgedanke dabei ist, den Kindern auch Vertrauen in so eine für sie schwierige Situation zu vermitteln. Vertrauen zum Arzt, Vertrauen zu der Heilung. Das heißt, das ist ein innerer Prozess, von dem diese Geschichten eigentlich handeln."

    ""Tassilo hatte Höhenangst. Schon wenn er im dritten Stockwerk eines Hauses aus dem offenen Fenster auf die Straße hinuntersah, musste er sich am Fensterbrett festhalten. Die Autos und die Menschen, die sich da unter ihm wie aufgezogenes Blechspielzeug bewegten, begannen sich vor seinen Augen zu drehen, und das Haus mitsamt dem Fensterrahmen schien vornüberzukippen, hinunter in die Tiefe. Es kostete Tassilo dann eine riesige Kraftanstrengung, sich vom Fensterbrett wegzudrücken und ein, zwei Schritte zurück in den Raum zu tun. Da stand er keuchend und mit geschlossenen Augen, bis das Gefühl in seinen Körper zurückkam, dass er fest mit den Beinen auf dem Boden stehe."" (Aus: »Dr. Rettichs 12-Minuten-Geschichten«, S. 85)

    Ob verdorbener Magen, Kopfläuse, Prellung, Quetschung, Schnittverletzung, Übermüdung, Wespenstich – zu jeder Diagnose fällt Dr. Rettich eine passende Geschichte ein, die den kleinen Patienten in seiner Befindlichkeit ernst nimmt, seine Aufmerksamkeit aber kunstvoll auf andere Felder lenkt. Die Erzählung »Kletterkunst« etwa…

    ""Vorzulesen, wenn ein Kind von der Schaukel oder vom Klettergerüst oder von einem Baumast gefallen ist, bei Platz- und Schürfwunden."" (Aus: »Dr. Rettichs 12-Minuten-Geschichten« – Inhaltsverzeichnis)

    …verhandelt keineswegs nur Tassilos Höhenangst, sondern auch den Umstand, dass sich der Junge mit seinen Problemen ausgegrenzt und alleine fühlt. Genau da greift Dr. Rettichs Seelenmedizin ein:

    "Es ist ja für Kinder was ganz, ganz Wichtiges: Wie werden sie in einer Gruppe angenommen? Und wenn sie da rausfallen aus irgendwelchen Gründen, zum Beispiel, weil sie eben Höhenangst haben oder eine Allergie oder sonst was, dann ist das sicher ganz, ganz wichtig, dass sie darüber sprechen können, dass das raus kann, und dass sie es nicht in sich hineinfressen müssen."

    Ein Angebot, über versteckte Ursachen zu sprechen statt nur an Symptomen herumzukurieren, enthalten etliche der 12-Minuten-Geschichten des Dr. Rettich. Zur Vollendung gelangt dieses Spiegelprinzip in der "Feinen Nase des Igels".

    ""Vorzulesen, wenn ein Kind häufiger Kopfschmerzen hat, über Unwohlsein klagt oder sich matt und unlustig fühlt."" (Aus: »Dr. Rettichs 12-Minuten-Geschichten« – Inhaltsverzeichnis)

    "Das ist die Geschichte von einem Mädchen, das immer rätselhafte Bauchschmerzen und auch Kopfschmerzen hat, also im Fachterminus des Arztes würde man sagen ‚somatische Befunde’, die aber nicht erklärt werden können. Niemand weiß, woher es kommt. Bis schließlich durch ein Nachgeben der Mutter dieses Kind doch noch ein zusätzliches Stofftier bekommt, eben den Igel. Und den Igel nimmt es mit in die Schule, und der kriegt raus, worum es eigentlich geht."

    ""'Mama, ich möchte dir etwas sagen.'
    'Nur zu, ich höre.'
    'Der Igel weiß, woher die Bauchschmerzen kommen. Seine Bauchschmerzen – ich hab ja keine mehr, er dafür umso schlimmere.'
    'Was hat er dir erzählt?'
    'Herr Lemke stinkt immer so aus dem Mund.'
    Die Mutter wirkte etwas verwirrt: 'Euer Englischlehrer? Und davon bekommst du Bauchschmerzen? Anna, jetzt nimm dich zusammen und rede kein dummes Zeug.'
    'Tu ich nicht. Ich sitze in der ersten Reihe, neben Juliane.'
    'Das weiß ich doch.'
    'Ja, und da kriege ich es immer voll ab, wenn er zu uns her redet. Der Igel kann es auch nicht aushalten, er hat ja eine so empfindliche Nase.' (…)
    Da nahm die Mutter Anna in ihre Arme und sagte: 'Aber dann erkläre mir doch, wie es kommt, dass der Mundgeruch von Herrn Lemke bei dir, hier in deinem Bauch, so kneift und beißt und bohrt.'
    'Der Igel hat doch, wenn ich nach Hause gekommen war, immer wieder auf meinem Bauch gelegen. Da hat er mir gesagt, dass sich alles ganz verkrampft anfühlt, gar nicht so schön weich und kuschelig. Ich hab ihm erklärt, dass ich doch so oft die Luft anhalten muss, damit ich den Gestank von Herrn Lemke nicht einatme. So oft und so lange, dass mein Bauch sich eben zusammenzieht und ganz hart wird.'"
    " (Aus: »Dr. Rettichs 12-Minuten-Geschichten«, S. 168-169)

    "Natürlich wäre das ein ganz wunderbarer Effekt, wenn man das erreichen könnte, dass die Kinder zum Beispiel Vertrauen haben, über ihre Leiden, über ihre Kümmernisse, auch eben über das, was sie bedrückt, was gar nicht eine Krankheit im üblichen Sinne ist, zu sprechen",

    sagt Eschel Gneis alias Professor Emeritus Ludwig Fischer, dessen akademischer Schwerpunkt zeitlebens auf dem Gebiet der Naturschilderung lag, was man seinem Kinderbuch wohltuend anmerkt. Auf angenehme Weise altmodisch, verschafft es selbst dem erwachsenen Vorleser verblüffende Begegnungen mit Worten, die er längst verschollen glaubte: Grassoden, Binsen und Seggen bestimmen die Umgebungsbotanik. Fischer, der einen riesigen Kräutergarten kultiviert und Kenntnisse der Naturheilkunde aus vielen Jahrhunderten zusammengetragen hat, fühlt sich dennoch als Zeitgenosse:

    "Es ist eine Art zu erzählen, wie sie scheinbar heute nicht mehr modern, nicht mehr angesagt ist, auch das macht Sinn in diesem Zusammenhang. Es ist ein ruhiges Erzählen, soll ein Erzählen sein, was die Kinder auch so ein bisschen einbettet in eine Wahrnehmung von Sprache, wie sie heute in den Medien nicht mehr so gängig ist. Aber natürlich ist auch der Dr. Rettich einer, der in der Gegenwart lebt, der ein Auto hat, ein Handy benutzt, seine medizinischen Geräte hat. Das ist eigentlich kein Bruch, es ist die Realität, so wie sie sich zusammensetzt."

    … und in der Tradition kein Schimpfwort ist. Auch die Illustrationen von Thilo Krapp knüpfen an die Vergangenheit an, indem sie Walter Trier ihre Referenz erweisen. In Text und Bild meidet das Buch alles Laute geflissentlich. Folgt man den Gedanken seines Autors, hat es dies im Konkurrenzkampf auch gar nicht nötig: Dort, wo Bücher miteinander um Aufmerksamkeit ringen, auf dem Ladentisch des Buchhändlers, sei vielleicht gar nicht sein bevorzugter Platz – sondern eher da, wo sich kranke Kinder einfinden:

    "Ich stelle mir vor, dass irgendwann zumindest in jedem Wartezimmer eines Kinderarztes ein Exemplar liegt, das würde ich mir sehr wünschen. Der Verlag möchte das auch, nicht nur des Verkaufs wegen, sondern weil wir denken, das ist etwas, was nicht einfach nur so eine Buchhandelsgeschichte – oder Buchhandelsgeschichten – sind, sondern das ist etwas, was tatsächlich auch andere Wege gehen kann. Wege, die mit eben Krankheit, Heilung, Medizin zu tun haben, und das strebt der Verlag schon auch an. Will auch was dafür tun."

    ""Des Nachbarn Kuh ist krank. Das ist nichts Besonderes, aber es bereitet einem doch immer wieder Freude."" (Aus: »Die Monster sind krank« o.S.)

    Erwählt ein Buch solche Boshaftigkeit als Auftakt, muss man mit anderen Umgangsformen rechnen. In Emmanuelle Houdarts überformatigem und mit 25 Euro erstaunlich teurem Bilderbuch "Die Monster sind krank" geht es grell, schrill und furchterregend zu. Die Schweizer Malerin verfolgt prinzipiell ein ähnliches Ziel wie Eschel Gneis, nämlich kindliches Leiden künstlerisch zu spiegeln. Doch sie tut das in einer grafischen Handschrift, die Jugendstilelemente à la Beardsley mit der Popart der Siebzigerjahre zur fast peinigender Augenmedizin verschmilzt. Neonfarbene Monster, wie sie an fieberheißen Tagen gerne unter dem Bett lauern, plagen sich mit jenen Krankheiten ab, die das Kind gerade durchleiden mag – doch ob es dann angesagt ist, Horror mit Horror zu vertreiben, lässt sich füglich bezweifeln; jedenfalls bei jüngeren Patienten. Ohnehin spricht die vorrangig satirische Textebene viel eher Jugendliche und Erwachsene an, die Veralberungen ihrer Befindlichkeit ertragen können. Immerhin, wenn einer unter Depressionen leidet – nebenbei gesagt, eine ziemlich kindferne Erkrankung –, gönnt ihm die Autorin therapeutische Zuwendung:

    ""Man soll den Kranken so oft streicheln oder küssen, wie er Tränen vergossen hat. Erinnern wir uns bei dieser Gelegenheit daran, dass es eine Vielzahl von Küssen gibt: Schmetterlingsküsse — mit den Wimpern —, Eskimoküsse — mit der Nase —, Kätzchenküsse — mit der Zungenspitze — und viele andere. Der Phantasie des Tröstenden sind keine Grenzen gesetzt. Danach soll man das Ohr an den Mund des Kranken legen und sich die Geheimnisse seines Herzens anhören, die sich nicht leicht aussprechen lassen."" (Aus: »Die Monster sind krank« o.S.)

    Indikation des Literaturdoktors: wenig heilsam unter zehn Jahren. Dann ist man freilich übers Bilderbuchalter hinausgewachsen und kann auch einen Roman lesen, der Krankheit nicht mutwillig überzeichnet, sondern trotz ihrer dra¬matischen Schwere literarisch intelligent verarbeitet wie Laura S. Matthews in der Geschichte »Ein Hund fürs Leben«. Der Ich-Erzähler John macht darin eine einschneidende Lebenserfahrung:

    ""Man weiß erst, dass man glücklich war, wenn das Ding kommt, das einem für immer alles kaputt zu machen droht. Das Ding war größer als die riesigen Berge, die hinter unserem Haus in die Höhe ragten und die Wolken im Himmel durchbohrten, aber es war nicht schön oder fest wie sie und keiner konnte es sehen – nur, wenn man den Leuten sagte, dass es da war. (…) Es war schleimig und dunkel und man bekam es nicht zu fassen, bekam es einfach nicht in den Griff. Es war das Mons¬ter all deiner Albträume und hieß Diagnose."" (Aus: »Ein Hund fürs Leben«, S. 14 – 15)

    Johns Bruder Tom erkrankt an Leukämie. Wegen der Infektionsgefahr darf er keinen Kontakt mehr zu Tieren haben – auch nicht zu seinem geliebten Hund Mouse. »Endstation Tierheim« lautet dessen vorgezeichnetes Schicksal, das abzuwenden nur John gelingen kann, bringt er das Tier einmal quer durch England zu einem bis dato unbekannten Onkel. So verknüpft der Roman die Stränge Reiseabenteuer und Krankheitsbewältigung miteinander und konfrontiert John auf zwei seiner drei Zwischenstationen mit dem janusköpfigen Gesicht der Medizin. Zunächst trifft er auf eine obskure Künstlerin und Wunderheilerin, deren Methoden sehr mit Vorsicht zu genießen sind. An jenem Abend nämlich, da John bei der Familie übernachtet, taucht ein wütender Witwer auf. Seine kürzlich verstorbene Frau fiel auf die Versprechungen der Wunderheilerin herein:

    ""'Mit der richtigen Medizin hätte sie eine Chance gehabt. Sie hätte nicht zu sterben brauchen. Sie hätte immerhin eine Chance gehabt. Ich habe dem Doktor gezeigt, was Sie ihr gegeben haben. Wissen Sie, was er gesagt hat?' (…) Sages Mutter war wie erstarrt. Sie gab ihm keine Antwort. Sie wusste, dass er keine wollte. 'Gegen Krebs und für fünfzig Pfund pro Beratung – wissen Sie, was er gesagt hat?' Wieder entstand eine Pause, schwer wie eine tödliche Schneedecke über den Körpern kleiner Lämmer. 'Zuckerpillen und Wasser!'"" (Aus: »Ein Hund fürs Leben«, S. 81)

    Kein Ausweg für den kranken Tom, mit wissenschaftlich validen Heilmethoden ist ihm mehr gedient. Beim nächsten Zwischenstopp Johns muss jedoch auch diese Gewissheit mit Anfechtungen kämpfen. Der Ausreißer gerät an einen überambitionierten Wissenschaftler, der eine Pille gegen Fettleibigkeit entwickelt und dafür gestohlene Ponys elend zugrunde gehen lässt. Seine Motive, Geldgier und Ruhmsucht, lassen John desillusioniert weiterziehen. Die Autorin Laura S. Matthews vertieft diese kritischen Stränge nicht, sondern bettet sie als metaphorische Abschweifungen in ihre Reiseerzählung ein; wer mag, kann im Stillen darüber weiter nachdenken. In der Hauptsache schildert das Buch eine Flucht, während es zugleich Fluchtmöglichkeiten aus einer etwaigen Krankheit in eine Welt mit Happy End offeriert. Mouse wird gerettet, und der unbekannte Onkel erweist sich als einflussreicher Medizinprofessor, der seinem Neffen allerbeste Therapiebedingungen garantieren kann. Zum Schluss ist das anfängliche Monster »Diagnose« durch Heilung niedergerungen, wie in der Literatur häufig das Gute über das Böse obsiegt. Aber eben nur in der Literatur.

    Schins: "Im Moment betreue ich einen Jungen, der seit 1999 einen sehr schlimmen Knochenkrebs hat. Er ist jetzt zehn, und er hat mir erlaubt, über ihn ein Buch zu schreiben. Wir sind im Kontakt, und ich werde darüber ein kleines Buch mit neuen Bildern machen, mit ganz wenigen Worten. Weil er auch mit wenig Worten unglaublich viel sagt. Und das tun Kinder, die sterben: Die sagen sehr viel, minimalistisch, aber es ist alles drin, und genau das versuche ich auch in meinem Text. Ich lerne viel von diesen Kindern."

    Zum Beispiel Lebensfreude, wie sie Marie-Thérèse Schins ausstrahlt, sobald man ihr gegenüber sitzt. Auf den ersten Blick keine Selbstverständlichkeit für eine gelernte Kinderbibliothekarin, Autorin und Therapeutin, die sich seit Jahren mit Krankheit, Tod und Trauer beschäftigt. Doch was es an Überwindung kostet, sich diesen Themen zu nähern – so ihre Erfahrung –, wird überreichlich belohnt. Bei Seminaren mit angehenden Sozialpädagogen bemerkte sie, dass Reden und Schreiben über kranke Kinder nicht ausreicht. Man muss sie treffen:

    "Am Anfang meiner Hochschullehrtätigkeit habe ich nach zwei Jahren gemerkt, ich muss mit den Studenten zu Kindern hingehen. Und weil ich wusste, in der Klinik sind die Kinder da, habe ich mehrere Seminare mit Büchern hier in Hamburg durchgeführt. Und das war ein riesiger Erfolg. Und ich habe dann später selber noch kranke Kinder betreut, auch die Krebs hatten, die durch Gehirntumore blind geworden waren, aber noch hören konnten [...] Manche Kinder werden ja auch taub. Da bin ich immer hingegangen, habe ihnen vorgelesen."

    Aus diesen Begegnungen entstanden etliche Bücher, so auch der jüngst erschienene Roman »Ich übe für den Himmel«, in dessen zentraler Szene ein krebskranker kleiner Junge stirbt – auf eine Weise, die Leser gleich welchen Alters nicht unberührt lassen kann. Selbst Marie-Thérèse Schins wird von der Aura des Niedergeschriebenen in respektvollem Abstand gehalten:

    "Ich habe sehr lange gewartet, bis ich diese Szene geschrieben habe, weil es mir auch sehr nahe gegangen ist. Und als ich sie dann endlich zu Papier hatte, war ich so erleichtert, habe das erstmal zur Seite gelegt und genau diese Stelle lese ich niemals vor, wenn ich Publikum da habe. Weil ich glaube, dass sie so nahe geht, dass ich die Menschen auch nicht damit alleine lassen kann. Es wäre mir auch zu sehr nach Effekten haschen. Und das will ich vermeiden. Ich lese den Teil davor und den Teil danach vor. Aber niemals diese Szene."

    Die darauf folgende Passage ist nicht minder eindrücklich und erfüllt die Maßstäbe, die sich Marie-Thérèse Schins beim Schreiben selber setzt:

    "Man muss das nicht ausschmücken. Man muss viel Raum für die eigenen Gefühle lassen. Und ich glaube, darin übe ich mich immer noch. Aber ich hoffe, dass ich es so halten kann. Ich finde, das ist oft sehr viel schwieriger, aber in diesem Fall ist weniger mehr. Ich mag dieses fürchterliche Auspacken und diese fast barocke Sprache in solchen Szenen überhaupt nicht. Ich möchte es lieber ganz still halten."

    ""’Für Isha-Clown von Tommy’ steht in krakeligen Buchstaben auf der Rückseite der Zeichnung geschrieben. Und das Datum. Das Bild ist eine Woche alt. Ich sehe eine Wiese mit bunten Blumen und ein weißes Pferd mit goldenen Flügeln, auf dem ein Mädchen mit roten Haaren sitzt, mit einer roten Clownsnase. Vor ihr sitzt ein kleiner Junge und hält sich an der Mähne fest. Das Mädchen hat seine Arme schützend um den Jungen gelegt. Über den Jungen ist ein Pfeil gemalt und da steht in denselben Buchstaben wie auf der Rückseite: ich. Über dem Mädchen sehe ich noch einen Pfeil und daneben du. Am Himmel fliegen drei blaue Vögel. Einer von ihnen fliegt sehr hoch und berührt fast die Sonne, den Mond und die Sterne, die nebeneinander am Himmel schweben, zwischen den Wolken. Über eine Wolke und den Flügel des Vogels hat er in großen, gelben Buchstaben geschrieben: ich. Es ist der Vogel, den man nicht mehr ganz erkennen kann, weil er halb hinter der Wolke verschwunden ist. ‚Tommy wusste schon vor einer Woche, dass er bald sterben wird’, sage ich leise."" (Aus: »Ich übe für den Himmel«, S. 52-53)

    Schins: "Das vermittelt mein Buch auch: Dass man Kinder auch in ihrem Sterben lassen sollte. Und nicht immer sagen: ‚Es wird gut!’ Manchmal wird es nicht mehr gut. Und dann muss man sehen, wie man ein Kind, wie das hier gemacht wird, das letzte Stück seines Lebens gut begleitet und ihm die Wünsche, die es noch hat, erfüllt."

    Genau das tut Isha, die zwölfjährige Heldin des Romans, indem sie ihren ersten Auftritt als Clownin absolviert – weil der sterbende Thommie sich das gewünscht hat. Ishas Eltern sind professionelle Krankenhausclowns, und all jenen, die diesen Beruf ausüben, ist der Roman gewidmet. Die Begegnung mit deren Arbeit, erzählt Marie-Thérèse Schins, war für sie prägend:

    "Am meisten war ich beeindruckt von einem kleinen Mädchen, das praktisch die Chemo bekam. Das war ein Riesengerät, woran die Zahlen tackerten. Und ich saß neben ihr, und sie hatte ihre Hand um diese Stange und es ging ihr wirklich nicht gut. Und dann kam der Clown rein – und Sie glauben nicht, das Kind verwandelte sich von einer Sekunde zur nächsten und hat eine halbe Stunde lang ungefähr herzhaft gelacht. Hat alles vergessen. Und das war für mich einer der größten Momente, die ich je mit Clowns erlebt habe in der Klinik. Unglaublich."

    »Ich übe für den Himmel« ist eine Hommage an Krankenhausclowns, eine sensible Geschichte über die natürliche Sterblichkeit des Menschen – parallel zum Krankenhaus erlebt Isha, wie ihre 94-jährige, anfänglich noch höchst vitale Freundin Else allmählich Abschied nehmen muss – und ein Plädoyer gegen die Dauerfröhlichkeit des Medienangebots, gerade für Kinder. Ob krank oder gesund, sagt Marie-Thérèse Schins, junge Leser wissen genau, was sie in welcher Situation ertragen und vertragen können:

    "Das sagen die Kinder einem schon! Also man kann einfach fragen: ‚Willst du etwas Trauriges, willst du etwas Lustiges? Willst du etwas Spannendes oder eine Mischung aus allem?’ Dann sagen die Kinder genau, was sie haben wollen. Und bei gesunden Kindern stelle ich sehr oft fest: Die wollen etwas Trauriges hören. Weil sie schon oft fröhliche Sachen und dieses aufgemotzte, aufgeblähte, ja Aufgesetzt-Fröhliche sehen und hören, und es gibt viel zu wenig Raum, um traurig zu sein."

    Und ihr Roman mit der zentralen Sterbeszene – ist er auch les- und vorlesbar für ein Kind, das gerade aus weniger dramatischen Gründen das Bett hüten muss? Einen Moment lang überlegt die Autorin, dann nickt sie:

    "Ich habe das Gefühl, dass auch kranke Kinder, die nachher wieder gesund werden, ruhig dieses Buch lesen können, weil sie sehen: Es geht nicht immer gut aus, aber ich habe es geschafft. Dass sie auch diese Grenzerfahrung machen können."

    Ganz uneigennützig empfiehlt die ehemalige Kinderbibliothekarin, die in den Niederlanden einst für die Zulassung zur Spezialausbildung einhundert Klassiker der Kinderliteratur lesen und schriftlich zusammenfassen musste, noch ein viel älteres Buch, stets einsetzbar, wenn ein Kind ob seiner körperlichen Malaisen in schlechte Stimmung gerät:

    "Ich finde wunderbar, immer noch zu lesen – da kommt ja auch ein krankes Kind drin vor – ‚Der geheime Garten’. Das ist ein Buch, wo dieses Kind kränkelt und Selbstmitleid hat, und wie es dann von zwei anderen Kindern dazu gebracht wird aufzustehen und endlich aus diesem Selbstmitleid rauszukommen. Das ist ein uraltes Buch aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts. Aber das ist ein Buch, das ich auch empfehlen würde."

    Verfasst vom Autor des noch berühmteren Klassikers »Der kleine Lord«, Frances Hodgson Burnett. Auf jeden Fall gehören Krankheit und Lesen zusammen. Gewisse Ablenkungsstrategien, die nur im Sitzen am Schreibtisch stattfinden können, funktionieren dann nämlich nicht mehr, die alte Kulturtechnik des Lesens schlägt die neue des Computerspiels. Aus Sicht der Eltern ist das der positive Krankheitsgewinn. Und bei den Kindern mag, ganz im Sinne von Eschel Gneis, die Lektüre ein klein wenig zur Genesung beitragen. Allerdings warnt der Germanist vor allzu großen Heilserwartungen:

    "Ich habe ein bißchen Vorbehalte gegen Literatur sozusagen als Notbehelf. Weil man selber nicht weiter weiß, greift man zur Literatur. Das ist gefährlich. Also Literatur ist kein Ersatz dafür, dass reale Personen solche Situationen bewältigen müssen. Aber Literatur kann unter Umständen Anregungen geben."



    Erwähnte und besprochene Literatur:

    Burnett, Frances Hodgson: Der geheime Garten
    Übersetzt von Friedel Hömke
    DTV 2005
    240 Seiten, 7,00 Euro

    Eschel Gneis [i.e. Ludwig Fischer]: Dr. Rettichs 12-Minuten-Geschichten
    Mit Bildern von Thilo Krapp
    DTV 2007
    144 Seiten, 7,50 Euro

    Emmanuelle Houdart: Die Monster sind krank«
    Aus dem Französischen von Edmund Jacoby
    Gerstenberg 2006
    40 Seiten, 26,90 Euro

    L. [Laura] S. Matthews: Ein Hund fürs Leben
    Aus dem Englischen von Gerda Bean
    Carlsen Verlag 2007
    188 Seiten, 12,90 Euro

    Marie-Thérèse Schins: Ich übe für den Himmel
    Mit Illustrationen von Isabel Pin
    Sauerländer 2007
    134 Seiten, 12,90 Euro