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"Sich gewerkschaftlich zu engagieren und zu organisieren zahlt sich aus"

"Die Bundesregierung leugnet die Realität, wenn sie sagt, dass ein gesetzlicher Mindestlohn Arbeitsplätze vernichtet", sagt Frank Bsirske, Vorsitzender der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di). Gerade dort, wo Arbeitnehmerinteressen schlecht organisiert seien, müsse gehandelt werden.

Frank Bsirske im Gespräch mit Gerhard Schröder | 17.10.2010
    Schröder: Herr Bsirske, die Wirtschaft läuft auf Hochtouren, die Arbeitslosigkeit sinkt derzeit im Rekordtempo, so zusagen eine ideale Ausgangsposition für die Gewerkschaften, zumal Sie jetzt auch noch von der Politik Rückenwind bekommen: Bundeskanzlerin Angela Merkel und Wirtschaftsminister Rainer Brüderle fordern gleichzeitig, dass jetzt die Löhne für die Beschäftigten ordentlich steigen müssten. Für die Gewerkschaften, die jetzt vor wichtigen Tarifstunden stehen, eigentlich eine Steilvorlage, oder?

    Bsirske: Ja, der Ruf nach kräftigen Lohnerhöhungen ist erstens berechtigt, zweitens auch notwendig, wenn wir auf die Tatsache schauen, dass der Aufschwung, der bisher auf einem Bein steht – er ist nahezu ausschließlich exportbetrieben. Und auf der Binnenmarktseite fehlt gewissermaßen die Stabilität, fehlt das Zweite Standbein. Und für den Binnenmarkt kommt der Lohnseite natürlich eine ganz, ganz zentrale Bedeutung zu. Und insofern sind die Plädoyers für kräftige Lohnerhöhungen umso berechtigter, wenn man sich anguckt, wie labil eigentlich die Situation auf den Exportmärkten sich entwickelt und wie dringend wir eine Stärkung des Binnenmarktes brauchen.

    Schröder: Wirtschaftsminister Rainer Brüderle hält den Abschluss in der Stahlbranche für wegweisend auch für andere Branchen. Dort wurden ja Einkommenssteigerungen von 3,6 Prozent vereinbart. Ist das auch ein Modell etwa für Branchen, die Sie vertreten, wie den öffentlichen Dienst in den Ländern oder den Einzelhandel? Da stehen ja jetzt Tarifrunden an, und das sind Branchen, die in den vergangenen Jahren immer hinterher gehinkt haben.

    Bsirske: Gut gebrüllt, Löwe – kann man mit Blick auf Herrn Brüderle sagen, der so etwas natürlich umso leichter postulieren kann, als er anschließend nicht in den Tarifverhandlungen selbst unter den Bedingungen der jeweiligen Branchen steht. Aber nehmen wir ihn beim Wort, gucken wir, was er dazu beiträgt, dass seine Ministerkollegen auf der Länderseite sich diese Sicht der Dinge zu eigen machen, denn da verhandeln ja öffentliche Arbeitgeber. Und wenn sich Politiker wie Brüderle oder Merkel in ihren Parteien starkmachen dafür, dass, was bei Stahl gelaufen ist, auch richtungweisend sein soll für die Länderseite – okay! Dann, denke ich, wird das Tarifverhandeln Anfang des Jahres mit Herrn Löhring und den Länderfinanzministern etwas einfacher sein.

    Schröder: Könnte das denn eine Marke sein, die Sie sich zum Ziel setzen?

    Bsirske: Die Marke steht ja in einem gewissen Kontrast – sagen wir es mal so – zu der Tatsache, dass jetzt die Bundesländer auf die Schuldenbremse einschwenken und Bundesland für Bundesland scharfe Haushaltskürzungen auf die Tagesordnung setzt. Sachsen will den Landeshauhalt ab dem nächsten Jahr um 8,2 Prozent kürzen. Und Länder wie Bremen oder das Saarland kündigen jährliche Haushaltskürzungen in der Größenordnung von 80 bis 100 Millionen Euro an. Das zeigt, dass das, was Herr Brüderle für notwendig hält, so einfach noch nicht umgesetzt ist in die Tarifverhandlungen auf der Länderseite, denn da stellen sich im Moment die Akteure völlig anders auf.

    Schröder: Letztlich, Herr Bsirske, wird es aber darauf ankommen, ob Ver.di auch in der Lage ist, ob Ver.di genug Kraft haben wird, ordentliche Lohnsteigerungen durchzusetzen. Ist Ver.di in der Lage, im öffentlichen Dienst, aber auch in Branchen wie dem Einzelhandel, die ja relativ geringe Organisationsgrade haben?

    Bsirske: Wenn wir mal den Stahlabschluss als Referenzmodell zugrunde legen, dann stoßen wir da auf Organisationsgrade – gewerkschaftlich bei der IG Metall – von 90 Prozent und mehr. Und eine hohe Handlungsbereitschaft auch der Beschäftigten, wie sich das in den Warnstreiks bei der Stahlindustrie auch deutlich niedergeschlagen hat. Wenn die Beschäftigten im Länderbereich sich das zum Vorbild nehmen und ihre Bereitschaft, sich gewerkschaftlich zu organisieren und auch etwas zu tun, sich in Bewegung zu setzen, an diesen Vorbildern ausrichten, dann bin ich sicher, werden wir auch zu mehr Druck in die Verhandlungen hinein kommen, wo wir ganz sicher auf Arbeitgeber treffen, die sich einen Stahlabschluss mit Sicherheit noch nicht zum Vorbild nehmen.

    Schröder: Aber müssen Sie sich nicht auch an die eigene Nase fassen? Wenn wir den Einzelhandel nehmen: Die letzte Tarifrunde dauerte über ein Jahr. Da ist es Ihnen kaum gelungen, Warnstreiks durchzuführen, die die Arbeitgeber getroffen haben. Was machen Sie falsch?

    Bsirske: Einwand, Euer Ehren! Die Tarifrunde, das stimmt, die hat in einer Reihe von Bundesländern sogar 16 Monate gedauert, war aber zugleich über lange Perioden die Tarifrunde, in der die größte Warnstreik- und Streikbeteiligung seit Bestehen der Bundesrepublik in der Branche stattgefunden hat. Allerdings mit dem Problem sich konfrontiert sah, dass die Wirkung des Einsatzes, des Engagements der Beschäftigten für ihre eigenen Interessen immer wieder unterminiert worden ist durch eben einen organisierten Einsatz von Leiharbeiterinnen als Streikbrecherinnen. Das hat in dem Fall natürlich die Tarifrunde, für uns jedenfalls, außerordentlich kompliziert.

    Schröder: Das heißt also, auch in diesem Aufschwung werden wir erleben: Es gibt einzelne Branchen in der Industrie, die werden auch hohe Lohnzuwächse durchsetzen können. Es gibt andere, die in den vergangenen Jahren schon hinterherhinkten, und die werden jetzt auch in diesem Aufschwung nicht mit hohen Zuschlägen rechnen können – wie etwa Einzelhandel, wie öffentlicher Dienst?

    Bsirske: Wir haben Branchen, die sind gewerkschaftlich gut organisiert, und wir haben Branchen, die sind schlechter organisiert. Die Erfahrung zeigt, sich gewerkschaftlich zu engagieren und zu organisieren zahlt sich aus. Branchen, wo das nicht wirklich passiert, zahlen drauf – auf Arbeitnehmerseite. Und insofern werden wir auch unterschiedliche Tarifabschlüsse bekommen, je nach Branchensituation. Und das, obwohl wir insgesamt eine deutliche Stärkung auf der Binnenmarktseite brauchen, wenn der Aufschwung stabilisiert werden soll.

    Schröder: Schon jetzt sind ja, Herr Bsirske, die Gewerkschaften oft nicht in der Lage, noch existenzsichernde Einkommen zu sichern. Es gibt ja Tarifverträge mit Ver.di-Stempel, die fixieren Stundenlöhne von drei, vier Euro, etwa im sächsischen Friseurgewerbe. Warum machen die Gewerkschaften das mit?

    Bsirske: Wir haben im Friseurgewerbe tatsächlich sehr unterschiedliche und sehr schlechte Tarifverträge, allerdings auch einen unterirdischen gewerkschaftlichen Organisationsgrad, der in einigen Bundesländern unter drei Prozent liegen dürfte. Und es ist völlig klar: Die Beschäftigten zahlen an der Stelle mit Armutslöhnen den Preis dafür, dass sie sich gewerkschaftlich nicht organisieren. Da es aber auch schwierig ist, in einer sehr, sehr zerklüfteten Branche gewerkschaftliche Wirkung zu erzielen.

    Schröder: Und dann kann nur noch in solchen Situationen der Gesetzgeber helfen mit einem Mindestlohn?

    Bsirske: Da, wo Starke und Schwache aufeinandertreffen und die Schwachen für sich genommen nicht die Kraft entwickeln, sozusagen mit eigenen Mitteln das durchzusetzen, ist der Gesetzgeber gefordert. Wir brauchen in einer Reihe von Branchen, wo in der Bundesrepublik Armutslöhne gezahlt werden, den gesetzlichen Mindestlohn – so wie wir ihn praktisch überall bei unseren Nachbarländern antreffen. Im Schnitt treffen wir auf ein gesetzliches Mindestlohnniveau von 8,41 Euro. Das ist ein Niveau, von dem Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, insbesondere in bestimmten Dienstleistungsbranchen und –berufen nur träumen können. Wenn ich daran erinnern darf, dass gegenwärtig allein zwei Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für Stundenlöhne von fünf Euro und darunter arbeiten, zeigt sich, wie massiv eigentlich der Handlungsbedarf ist. Und deswegen finde ich es makaber und provokativ, wenn die Realität in einem Maße verleugnet wird, wie das beispielsweise auf FDP-Seite passiert, wo Herr Westerwelle öffentlich erklärt, gesetzlicher Mindestlohn sei für ihn wie DDR ohne Mauer.

    Schröder: Die Bundesregierung sagt: Gesetzlicher Mindestlohn "nein", das vernichtet Jobs, aber branchenbezogene Mindestlöhne "ja". Da sind ja auch die, die schon galten, nicht angetastet worden. Und es sind neue dazugekommen, wie etwa in der Pflege, Zeitarbeit steht auch auf der Tagesordnung. Stellt Sie das nicht zufrieden?

    Bsirske: Die Bundesregierung leugnet die Realität, wenn sie sagt, dass ein gesetzlicher Mindestlohn Arbeitsplätze vernichtet. Das war ja auch die Behauptung beispielsweise der Unternehmerverbände in Großbritannien in den 90er-Jahren, bevor dort der gesetzliche Mindestlohn eingeführt wurde. Gleiches gilt für Irland und Gleiches gilt für unsere Nachbarländer insgesamt, die mit gesetzlichen Mindestlöhnen seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, arbeiten, ohne negative Auswirkungen am Arbeitsmarkt. Deswegen, finde ich, sollte diese Regierung anfangen, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, statt Ideologie zu propagieren.

    Schröder: Welche Branchen, Herr Bsirske, halten Sie denn für besonders gefährdet, welche Branchen brauchen dringend einen branchenbezogenen Mindestlohn?

    Bsirske: Ein neuer zusätzlicher Mindestlohn – das kommt nur, wenn einer, der bisher schon drin ist, rausfliegt. Das ist die Position der FDP, die hochgradig ideologisch besetzt ist und jetzt dazu führt, dass das Wirtschaftsministerium – FDP-geführt – in einen Gegensatz gerät zu den Forderungen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, beispielsweise zur Hereinnahme des Branchenmindestlohns in der Zeitarbeit ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Und möglicherweise demnächst in einen Gegensatz zu den Forderungen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zur Hereinnahme eines Branchenmindestlohns für das Bewachungsgewerbe. Beides Bereiche, wo wir es mit sehr niedrigen Lohnniveaus zu tun haben, beides Bereiche, wo mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit ab Mai nächsten Jahres Richtung Mittelosteuropa Dumpinglöhne noch unterhalb des Niveaus von Armutslöhnen, wie wir sie gegenwärtig in der Bundesrepublik haben, zu kommen drohen.

    Schröder: Was passiert denn, wenn im Mai die Grenzen für den Arbeitsmarkt nach Osteuropa hin geöffnet werden und keine weiteren Mindestlöhne da sind? Was hätte das zur Folge?

    Bsirske: Nun, wir wissen ja aus Polen beispielsweise, dass dort jetzt schon Leiharbeitsfirmen sich positionieren, um dann zu polnischen Löhnen Leiharbeit in der Bundesrepublik anzubieten. Und wir wissen aus dem Bereich des Wert- und Geldtransportes, dass dort Firmen sich aufstellen, die zu polnischen Löhnen Geldtransport- und Werttransportangebote grenzüberschreitend durchführen wollen. Das heißt, hier kommen durch die Tatsache, dass wir kein für die gesamte Fläche der Bundesrepublik geltendes Mindestlohnniveau in der Zeitarbeit, in dem Bewachungsgewerbe haben, Probleme auf uns zu, dass das Niedriglohnniveau in diesen Bereichen noch getunnelt zu werden droht durch Anbieter aus Mittelosteuropa zu den dortigen Löhnen. Und mit allen Konsequenzen, die das für die weitere Spaltung der Gesellschaft und für den Druck auf das Lohnniveau, nicht nur in diesen Branchen, insgesamt hat.

    Schröder: Franz Bsirske, der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Die Zahl der Arbeitslosen ist auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren, wird nächstes Jahr wohl im Durchschnitt unter die Marke von drei Millionen sinken. Ist das nicht ein Grund, auch die Politik mal zu loben? Alles kann sie doch nicht falsch gemacht haben, wenn wir solche Erfolge am Arbeitsmarkt feiern, die im Ausland schon als "German-Wunder" bezeichnet werden.

    Bsirske: In der Tat, wir sind arbeitsmarktpolitisch gut durch die Krise gekommen. Dazu haben Verschiedene beigetragen – auch die Bundesregierung, auch die Arbeitgeber, die Unternehmen, auch die Gewerkschaften, insbesondere durch die Verständigung darauf, Kurzarbeit zu regeln und Entlassungen mit den Mitteln der Kurzarbeit zu vermeiden, auch mit dem Instrument der Abwrackprämie. Dass wir hier an einem Strang gezogen haben, hat sich ausgezahlt. Gleichwohl sind die Risiken, vor denen wir für die nächsten Monate stehen, durchaus ernst zu nehmen. Gucken wir in die USA, dann treffen wir dort auf eine Situation, wo sich sehr viele Sorgen machen über einen Rückfall der Wirtschaft dort in die Rezession. Gucken wir in die Euro-Zone und in die EU, stoßen wir auf Länder, die alle scharf einschwenken auf einen Spar- und Konsolidierungskurs mit der Folge, dass sich die Exportmärkte dort für uns natürlich verengen. Kurzum: Es gibt mit Blick auf unsere Haupthandelspartner insbesondere in Europa und in den USA erhebliche Risiken für die Exportchancen.

    Schröder: Was heißt das für die Politik der Bundesregierung?

    Bsirske: Das heißt für die Politik der Bundesregierung, dass es fatal wäre, wenn auf eine Strategie gesetzt wird, die nur auf einem Bein sozusagen aufbaut, nämlich dem Export. Das heißt für die Politik der Bundesregierung, dass die Konsolidierungspolitik - was die Haushalte angeht - eigentlich einer kritischen Überprüfung unterzogen werden muss. Wir brauchen eher mehr öffentliche Investitionen in Bildung, in Umwelt, in öffentliche Infrastruktur, statt Kürzung dieser Investitionen. Und wir brauchen eine Stärkung auch der Konsumfähigkeit der Gesellschaft, das betrifft den gesetzlichen Mindestlohn, was die Armutslöhne angeht, das betrifft eine Anhebung des Regelsatzes bei Hartz IV weit über fünf Euro im Monat hinaus und das betrifft die Lohnseite.

    Schröder: Das alles wäre aber mit der derzeitigen Sparpolitik nicht vereinbar?

    Bsirske: Exakt. Das wäre mit der derzeitigen Sparpolitik nicht vereinbar, die ja so tut, als hätten wir über unsere Verhältnisse gelebt. Was ja ein bisschen makaber ist, wenn man sich anguckt, dass die Bundesbank veröffentlicht, die staatliche Verschuldung sei in den letzten zweieinhalb Jahren um 180 Milliarden krisenbedingt nach oben geschossen, davon alleine 98 Milliarden Euro zur unmittelbaren Rettung der Banken – da sind die Bürgschaften noch gar nicht drin. Und dann erlebt, was Frau Merkel sagt, die sich vor die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger stellt und erklärt, wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.

    Schröder: Aber Fakt, Herr Bsirske, bleibt: Wir haben einen riesigen Schuldenberg. Wann soll man den abtragen, wenn nicht dann, wenn die Wirtschaft wieder in Schwung gekommen ist.

    Bsirske: Im Prinzip: ja. Ich habe auch gar nichts dagegen, wie viele hier, dass wir an den Abbau staatlicher Verschuldung gehen. Die Frage ist, wie macht man das mit Aussicht auf Erfolg und wie macht man das, ohne die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte – wo wir ja dringenden Handlungsbedarf haben, denken Sie nur an den Bildungssektor – zu untergraben und zu gefährden.

    Schröder: Herr Bsirske, Sie haben gesagt, es gibt Risiken für die Konjunktur. Wir wissen nicht genau, ob das wirklich anhält, ob die globale Wirtschaft da so stabil ist. Viele Unternehmen ziehen daraus die Konsequenz, dass sie zwar zusätzliches Personal einstellen, aber verstärkt auf Leiharbeitskräfte zurückgreifen. Jede dritte Stelle, die derzeit neu geschaffen wird, wird durch Leiharbeitskräfte besetzt. Ist das nicht verständlich, auch vor den Risiken, vor denen Sie warnen, dass die Unternehmen sagen, fest einstellen können wir noch nicht, wir müssen auf Leihkräfte zurückgreifen?

    Bsirske: Wir gucken, dass die Risiken, die mit der kapitalistischen Wirtschaft einhergehen, nicht einseitig auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgewälzt werden. Mit anderen Worten: Diese Gesellschaft wird sich darüber verständigen müssen, welche Funktion Leiharbeit eigentlich haben soll. Geht es darum, Belastungsspitzen flexibel abzufedern und auszugleichen? Da würde ich sagen: Okay, das ist in Ordnung, wenn die Bedingungen stimmen. Oder geht es darum, Leiharbeit einzusetzen als Instrument systematischer Lohndrückerei? Das ist die gegenwärtige Situation in der Bundesrepublik, mit Lohnabständen von 30, 40, zum Teil über 50 Prozent von Leiharbeitern zu Stammarbeitern, das ist nicht in Ordnung.

    Schröder: Herr Bsirske, die Zeitarbeitsbranche ist zu etwa 99 Prozent tariflich gebunden. Arbeitgeber und Gewerkschaften, DGB-Gewerkschaften darunter, haben sich auf einen Mindestlohn geeinigt, der am 1. Mai 2011 in Kraft treten soll, der dann stufenweise auf über 8 Euro, exakt sind es 8,19 Euro, bis 2013 steigen soll, also eigentlich eine Vorzeigebranche, auch aus Gewerkschaftssicht. Das haben Sie in vielen Branchen noch nicht erreicht. Also, ist das Bild, das Sie hier von der Zeitarbeitsbranche zeichnen, nicht etwas verzerrt?

    Bsirske: Dass unter dem Eindruck solcher Skandale wie bei Schlecker Anfang des Jahres jetzt es gelungen ist, etwas höhere Lohnniveaus zu tarifieren, das ist ein kleiner Fortschritt. Machen wir uns aber nichts vor. Ein Lohnniveau in der Zeitarbeitsbranche von – Sie haben es gesagt – acht Euro und für Tätigkeiten, für die Stammarbeiter unter sicheren Arbeitsbedingungen und kalkulierbareren Lebensbedingungen als bei Leiharbeit 14, 15, 16, 17 Euro bekommen, das ändert an dem Tatbestand des Lohndumpings nichts. Weshalb es keine Alternative gibt auf absehbare Zeit dazu, dass der Grundsatz gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit, egal ob Leih- oder Stammarbeit, gesetzlich festgelegt werden muss, und das ohne irgendwelche Ausnahmen.

    Schröder: Herr Bsirske, mancher Experte hält inzwischen angesichts sinkender Arbeitslosenzahlen sogar Vollbeschäftigung für möglich und gerade die Arbeitgeber sehen im wachsenden Fachkräftemangel das größte Problem, das auch den Aufschwung hemmen könnte. Sie auch?

    Bsirske: Ich sehe, Sie haben es angesprochen, einige Probleme, die den Aufschwung nicht sicher machen und hemmen könnten. Mittelfristig gehört dazu sicher auch das Thema des Fachkräftebedarfs und eines sich abzeichnenden Fachkräftemangels, zu dem die Arbeitgeberseite natürlich ihr Teil beigetragen hat, indem sie mehrere Hunderttausend Schulabgänger, die Ausbildungsplätze in den letzten Jahren gesucht haben, ohne Berufsausbildung hat stehen lassen.

    Schröder: Die Arbeitgeber dagegen klagen, sie finden kaum noch ausbildungsfähige Jugendliche und sagen, wir brauchen mehr Fachkräfte aus dem Ausland. Ist das die richtige Antwort?

    Bsirske: Ich finde, dass auf beides geguckt werden muss. Wir müssen mehr tun, um das Ausbildungsplatzangebot nachfragegerecht zu gestalten. Da klafft nach wie vor eine Lücke. Auf der anderen Seite sollten wir in der Tat auch diskutieren, ob und wie in weit es sinnvoll ist, den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik auch für ausländische Fachkräfte attraktiver zu machen.

    Schröder: Würden Sie sich auch starkmachen für eine offensive Einwanderungspolitik nach angelsächsischem Vorbild, wo Qualifizierung und Berufserfahrung wichtige Kriterien sind, um einwandern zu dürfen?

    Bsirske: Dafür hat sich der DGB schon in der seinerzeitigen Kommission vor einigen Jahren ausgesprochen, mit Punktesystemen zu arbeiten, die Ausgangsqualifikation beispielsweise auch ganz stark gewichten. Wenn das mit einer auch Offenheit in der Bevölkerung gegenüber ausländischen Zuwanderern und vernünftigen Integrationsangeboten im Sinne von Fordern und Fördern einhergeht, dann kann das zielführend sein. Dazu zählt dann natürlich auch, dass man für die zweite und dritte Zuwanderergeneration für Rahmenbedingungen sorgt, die eine Integration in die Gesellschaft fördern und erleichtern, wie uns das andere vormachen, die Skandinavier beispielsweise, mit einem sehr viel größer und stärker und besser ausgebauten System frühkindlicher Förderung in Kinderkrippen, in Kindertagesstätten. Denn das hat für die Integration, die Sprachfähigkeit und künftige Bildungserfolge eine ganz, ganz zentrale Bedeutung im Ausgangspunkt gewissermaßen der kindlichen Entwicklung. Und dafür muss viel mehr getan werden, als das in der Vergangenheit jedenfalls in der Bundesrepublik der Fall gewesen ist und bis heute leider so gilt.

    Schröder: Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, CSU, sagt, Einwanderung vielleicht, aber nicht aus muslimischen Ländern, die können wir nicht integrieren. Wie bewerten Sie die Aussage?

    Bsirske: Offen gesagt halte ich das für Blödsinn. Warum soll man die nicht integrieren können? Viele türkische Migranten und auch Kinder aus Migrantenfamilien, die zum Teil viel besser integriert sind als manche Deutsche, das ist doch keine Frage des Glaubens und das ist keine Frage der Herkunft, sondern es ist auch eine Frage, wie die Menschen hier aufgenommen werden, wie die Gesellschaft mit ihnen umgeht und wie es zu einem Miteinander kommt im gesellschaftlichen Zusammenleben. Da muss mehr getan werden. Und zwar von beiden Seiten, denke ich, als das in der Vergangenheit der Fall war. Aber sozusagen ein Zuwanderungsverbot wegen Religionszugehörigkeit, ein Zuwanderungsverbot wegen Abstammung halte ich für völlig abwegig.

    Schröder: Herr Bsirske, DGB-Chef Michael Sommer hat vor einem Jahr vor der Bundestagswahl gewarnt, es werde ein sozialer Eissturm über das Land fegen, wenn Schwarz-Gelb die Bundestagswahl gewinnt. Jetzt haben wir ein Jahr schwarz-gelbe Koalition ungefähr hinter uns. Wie fällt da Ihre Bilanz aus, was ist aus dem Eissturm geworden?

    Bsirske: Na ja, ich habe es ja mit den Stürmen nicht so. Also lassen wir mal diese Metapher beiseite und gucken uns ganz nüchtern an, was für eine Politik wir da erleben, die in solchen Sätzen wie dem von Frau Merkel vorhin zitierten mündet: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt. Und die Frage, wen sie da meint mit dem "wir" ist ja schon spannend in einer Situation, wo es darum geht, jetzt zu klären, wer denn die Zeche bezahlen soll für diese Krise und ihre Folgen. Und wenn wir dann ins Sparpaket der Bundesregierung gucken, dann finden wir ja auch die Antwort auf diese Frage: Die Arbeitslosen sind gemeint und der öffentliche Dienst. Da ist das Sparprogramm ganz konkret. Da wird den Hartz-IV-Empfängern der Rentenversicherungsbeitrag gestrichen. Da wird das Übergangsgeld vom Arbeitslosengeld I in Arbeitslosengeld II gestrichen und da wird das Erziehungsgeld gestrichen. Die Millionärsgattin, die behält es. Die arbeitslos gewordene Verkäuferin, die soll es nicht mehr kriegen, während auf der anderen Seite dieses Sparpaket, dieses sogenannte, eine völlige Nullnummer ist, wo es um wirklich gut und sehr gut Verdienende und um Vermögensbesitzende geht, da passiert gar nichts. Da erspart man sich jede Mehrbelastung. Was ja unter dem Strich bedeutet, dass jetzt die Milliardengeschenke an Hoteliers, an reiche Erben, an große Unternehmen bezahlt werden soll und aufgebracht werden sollen insbesondere von den Arbeitslosen. Das ist eine Form von sozialer Einseitigkeit, die meiner Einschätzung nach bis hinein in traditionelle Wählermilieus der Union, etwa im Kirchenbereich, nicht mehr zu vermitteln ist. Ich finde, gerecht – gerecht geht anders als das, was wir da gegenwärtig erleben.

    Schröder: Herr Bsirske, die schwarz-gelbe Koalition ist in den Umfragen stark abgesackt. Davon hat die SPD bislang nicht profitieren können, aber die Grünen. Sie als Gewerkschaftsvorsitzender mit grünem Parteibuch, erfüllt Sie das mit Zufriedenheit, wenn Sie sehen, wie stark die Grünen davon profitieren, und können Sie sich das erklären?

    Bsirske: Die Bundesregierung kriegt die Quittung für eine Politik, von der große Teile der Bevölkerung sehen, dass sie nicht gerecht ist. Es gibt ein weitverbreitetes Gefühl tief empfundener Ungerechtigkeit mit Blick auf die Entwicklung in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren. Und die Bundesregierung tut alles dafür, diesen Eindruck auch zu bestärken und diese ungerechten Verhältnisse zu zementieren.

    Schröder: Warum profitieren davon nur die Grünen, nicht die SPD, die ja in Sachen Hartz IV, Agenda 2010 einige Korrekturen schon vorgenommen hat?

    Bsirske: Erstens ist es den Grünen viel, viel besser als der SPD gelungen, ihren Markenkern glaubwürdig zu halten. Die Grünen stehen gewissermaßen für ein ökolibertäres Projekt, individuelle Freiheitsrechte plus ökologischer Verantwortung. Das ist in der rot-grünen Bundesregierung über Personen wie Trittin und Künast sehr glaubwürdig geblieben, während die SPD über der Agendapolitik im Grunde das Copyright auf soziale Gerechtigkeit verloren hatte und ihren Markenkern eigentlich in der Substanz gefährdet hat ...

    Schröder: Was muss sie tun, um den zurückzugewinnen?

    Bsirske: ... und das einher gegangen ist mit einem doch beträchtlichen Glaubwürdigkeitsverlust, der sich jetzt bis hinein in die aktuellen Umfragewerte niederschlägt. Wenn die SPD nicht mit sozialer Gerechtigkeit als Projekt identifiziert wird, wird sie Gefahr laufen, den Charakter einer Volkspartei zu verlieren. Insofern ist die Arbeit am Markenkern, wie sie jetzt mit dem neuen Vorsitzenden Gabriel offenkundig auch versucht wird, sicherlich die richtige Antwort auf die massiven Verluste im Zuge der Agendapolitik und auf die Verunklarung dessen, wofür die SPD eigentlich steht in dieser Gesellschaft.

    Schröder: Herr Bsirske, haben Sie vielen Dank.

    Bsirske: Ich bedanke mich auch.