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Sich selbst um Chancen kümmern

"Anti-Rousseau"-orientiert und damit anti-paternalistisch stellt sich Norbert Bolz eine funktionierende Staatsmacht vor.

Von Norbert Bolz | 04.08.2009
    Als Friedrich Merz im letzten Herbst sein neues Buch mit dem Titel "Mehr Kapitalismus wagen" präsentierte, blieb das Publikum doch ein wenig verunsichert zurück. Gerade hatte die Bundesregierung eine bislang unvorstellbar große Geldsumme bereitgestellt, um genau denjenigen Kapitalismus zu retten, den der Finanzpolitiker meinte zur zukünftigen Beseitigung sozialer Ungerechtigkeiten anpreisen zu können. Denn der anspruchsvolle Untertitel seines Buches lautete immerhin: "Wege zu einer gerechten Gesellschaft". Demnach ist der Kapitalismus nicht nur besonders effizient, sondern auch ganz besonders gerecht. In einer Zeit, in der selbst strenggläubige Wirtschaftsliberale nach dem Staat als der höchsten Instanz riefen, konnte man sich nicht sicher sein, ob Friedrich Merz noch zu den wenigen Verfechtern eines radikalen Marktliberalismus gehörte oder vielleicht nur eine jungenhafte Provokation im Sinn hatte. Denjenigen allerdings, die sich dem Markt gnadenlos ausgeliefert fühlen, kam diese Provokation eher wie eine Verhöhnung von ganz oben vor.

    Ein wenig ähnlich ergeht es auch Norbert Bolz mit seinem neuen Buch "Diskurs über die Ungleichheit: Ein Anti-Rousseau". Man merkt dem Buch an, dass es noch unter den Wohlfühlbedingungen einer prosperierenden Volkswirtschaft geschrieben wurde, die es sich sogar leisten konnte, die soziale Frage endgültig für geklärt zu halten. Das angelsächsische Wirtschaftsmodell schien endlich auch in Deutschland nachhaltig zu greifen und versprach, selbst diejenigen in absehbarer Zeit am Wohlstand zu beteiligen, die bislang noch von Sozialleistungen leben mussten. Die mühevollen Reformen, die zum Ziel hatten, jeden Bürger zum aktiven Marktteilnehmer zu erziehen und jedem noch so kleinen Haushalt beizubringen, wie man ein Aktiendepot verwaltet, hatten sich augenscheinlich bezahlt gemacht. Der Streit um die Ausgestaltung des Sozialstaats, der die Bundesrepublik seit ihrer Gründung begleitet, schien beendet zu sein. Auf seine Kernkompetenzen sollte sich der Staat konzentrieren und nur den rechtlichen Rahmen für einen Wettbewerb setzen, der den Wohlstand und das Glück aller viel besser befördern kann als jeder Vorsorgestaat.

    Zu den Optimisten des Marktgeschehens zählt sich auch Norbert Bolz. Sein Buch trägt den Untertitel: "Ein Anti-Rousseau". Der paternalistische Staat ist dem Liberalen ein Gräuel. Ganz im Sinne der angelsächsischen Tradition soll sich die Staatsmacht darauf beschränken, das Eigentum der Bürger zu beschützen und die öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Alles andere soll dem gesellschaftlichen Wettbewerb überlassen bleiben. Deshalb müssen die von der kontinentalen Staatstheorie verwöhnten Bürger von der Vorstellung abrücken, der Staat sei dazu da, den Markt zu regulieren und, falls nötig, dessen Ungerechtigkeiten durch eine Politik der Umverteilung auszugleichen. Diese Ansicht, die sich in einer langen philosophischen Tradition von Rousseau über Hegel bis hin zu den unterschiedlichen Ausprägungen des Sozialismus etabliert hat, ist für Bolz grundfalsch. Nicht der marktwirtschaftliche Wettbewerb sei ungerecht, sondern im Gegenteil die Politik der Umverteilung produziere immer neue Ungerechtigkeiten, die allein durch eine Privatisierung des öffentlichen Sektors behoben werden könnten. An die Stelle eingeübter Skepsis, mit der Kontinentaleuropäer ein allzu freies Marktgeschehen betrachten, soll endlich der unternehmerische Glaube an den Erfolg individueller Chancen treten.

    Alle Argumente, die Norbert Bolz in seinem Buch versammelt, sind inzwischen hinreichend bekannt aus den unterschiedlichen Initiativen, das Programm einer sozialen Marktwirtschaft neu zu definieren. Längst haben selbst die großen Volksparteien von einer Verteilungsgerechtigkeit auf eine Chancengerechtigkeit umgestellt, bei der es vor allem darum geht, den Einzelnen dazu anzuhalten, sich um seine Chancen selbst zu kümmern. Der Umbau des Sozialstaates zugunsten privater Vorsorge darf inzwischen weitgehend als politischer Konsens betrachtet werden. Aus einer Gesellschaft von Angestellten ist eine Gesellschaft von Risikoteilnehmern geworden, die von jedem verlangt, zum Subjekt unternehmerischer Entscheidungen zu werden. Dass das für manche einfacher ist als für andere, liegt auf der Hand. Der Umgang mit dem Risiko will eingeübt sein. Und viele werden nie eine unternehmerische Entscheidung fällen können, weil sie gar nicht die Voraussetzungen dazu haben. Während der Markt für die tatkräftigen Macher eine Fülle an Möglichkeiten darstellt, erscheint er den anderen in Gestalt eines blinden Schicksals, dem sie sich ohnmächtig zu fügen haben. Spätestens seit der weltweit größten Wirtschaftskrise sind auch die lange bekannten Gegenargumente wieder etwas präsenter geworden.

    Interessant an der Argumentation von Norbert Bolz ist nicht so sehr ihre Neuheit, sondern die Vehemenz, mit der er gegen das gesellschaftliche Ideal der Gleichheit ankämpft. Besonders verhasst sind ihm dabei die Programme zur Antidiskriminierung, die sicherstellen sollen, dass niemand aufgrund von Herkunfts- oder Geschlechtsmerkmalen benachteiligt wird. Versinnbildlicht werden diese für Bolz durch die Figur der Gleichstellungsbeauftragten, mit der es der Berliner Universitätsprofessor für Medienwissenschaft vermutlich zuweilen zu tun hat. Die allgemein geteilte Akzeptanz, dass Benachteiligte zur Wahrnehmung ihrer Erfolgschancen gesellschaftliche Unterstützung brauchen, scheint dem Liberalen enorm schwer zu fallen. Seltsam ist dieser Hass vor allem deshalb, weil Norbert Bolz selbst einräumt, dass das Streben nach Freiheit keineswegs einfach von Natur aus gegeben ist, sondern vielmehr erst durch Erziehung hervorgebracht wird. Ansonsten wäre es auch nicht nötig, ein Buch mit derartig missionarischem Eifer zu schreiben, das selbst diejenigen von den Vorzügen einer strikten Liberalisierung überzeugen will, die sicher niemals die Gelegenheit haben werden, auch tatsächlich in den Genuss dieser Vorzüge zu gelangen.

    Während Norbert Bolz kein Problem damit hat, anderen ein erzieherisches Rezept zur Freiheit zu verschreiben, scheint er umgekehrt ganz große Probleme damit zu haben, wenn er selbst einmal genötigt ist, zum Zögling zu werden. Dass nämlich seit Längerem nicht mehr vermeintlich männliche und heldenhafte Tugenden der Freiheitsliebe die angloamerikanische Managementliteratur durchziehen, sondern sogenannte weibliche Fähigkeiten, ist die melancholische Klage, die sein Buch wie ein unkenntlich gemachter roter Faden durchzieht. Und so hat man am Ende den Eindruck, der pathetischen Verteidigung des freien Wettbewerbs geht es gar nicht um einen Beitrag zur Lastenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft, sondern um eine verzweifelt männliche Sehnsucht nach Herrschaft. Die aktuelle Krise der Männlichkeit scheint sich bei Bolz vor allem in dem Wunsch auszudrücken, das eigene Mannsein durch eine ordentliche Pöbelei gegen den Feminismus unter Beweis zu stellen. Das ist aber weder männlich, noch erwachsen, sondern pubertär.

    Norbert Bolz: Diskurs über die Ungleichheit: Ein Anti-Rousseau
    WILHELM FINK VERLAG, 2009, 207 SEITEN, 16,90 EURO.