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Sicher im Tunnel

Tokio 1995, Madrid 2004, London 2005. Drei Städte, drei Anschläge - und immer waren U-Bahnhöfe das Ziel der Attentäter. Für Opfer und Rettungskräfte ist die Katastrophe im Tunnel der Supergau. Die Lage ist unübersichtlich, der Zugang eingeschränkt, die Fluchtwege sind versperrt. Um die Evakuierung im Ernstfall effizienter zu machen, treibt das vom Bundesforschungsministerium geförderte Verbundprojekt ORGAMIR die Entwicklung intelligenter Sicherheitssysteme voran. Sensoren und Software sollen Opfern und Helfern wichtige Informationen liefern.

Von Ralf Krauter | 10.03.2010
    Links die Stufen hoch? Oder besser rechts den Gang entlang laufen, zur Rolltreppe am anderen Ende? Wenn beißender Qualm durch einen U-Bahn-Tunnel wabert, kann die falsche Entscheidung tödlich sein. Ein elektronischer Fluchthelfer, an dem Fachleute seit zwei Jahren tüfteln, soll deshalb den Weg ins Freie weisen. Orgamir, so heißt das Projekt, dessen Sprecher Marco Plaß vom Institut für Mechatronik und Konstruktionstechnik der Universität Paderborn ist.

    "Das Ziel von Orgamir ist es, auf Basis von Ausbreitungsprognosen von Gefahrstoffen Handlungsanweisungen für Akteure in der zivilen Gefahrenabwehr abzuleiten, in Krisensituationen in U-Bahn-Systemen."

    Das Szenario vom Giftgasanschlag - wie 1995 in Tokio - ist dabei nur eines, das die Forscher im Kopf haben. Deutlich häufiger sind nämlich Brände in U-Bahn-Schächten, hervorgerufen durch Unfall oder Kurzschluss. In solchen Fällen ist es entscheidend, möglichst schnell zu wissen, in welche Richtung die giftige Gaswolke ziehen wird, denn dort besteht Lebensgefahr.

    "Weil wir auf Gefahrstoffausbreitung aus sind, haben wir so Windsensoren, das sind so Ultraschall-Anemometer, installiert und kategorisieren gewisse Windsituationen in Stationen. Damit wir, wenn wir in einem Gefahrfall sind, klassifizieren können: aha, diese Windsituation, zum Beispiel Kamineffekt oder Ähnliches. Können dann eine Prognose abgeben über eine Ausbreitungsrechnung, wie sich ein Gefahrstoff ausbreiten wird. Und daraus kann man natürlich Handlungsempfehlungen herleiten."

    An drei U-Bahnhöfen einer deutschen Großstadt registrieren seit einem Jahr jeweils rund 20 solcher Windmesser die charakteristischen Luftströmungen. Sollten Brandmelder oder Gassensoren Alarm schlagen, berechnet ein Computerprogramm den optimalen Fluchtweg - und zwar abhängig davon, wo im Tunnel man sich gerade befindet. In der Simulation funktioniert das bereits. Auf dem Monitor ist die Grafik einer Station zu sehen, an der sich U-Bahn-Linien auf zwei Ebenen kreuzen.

    "Wir können das auch gerne mal machen. "

    Mit einem Mausklick simuliert Marco Plaß einen Brandherd neben einer der Rolltreppen.

    "Wenn man jetzt eine Gefahrstoffquelle direkt vor einer Treppe, die nach außen führt, festlegt, und fünf Meter davon entfernt bisher der Weg natürlich über diesen kürzesten Weg geht, und die Berechnung durchführt, dann würde der Weg von diesem Punkt natürlich in die komplett entgegengesetzte Richtung zeigen."

    Rote Pfeile markieren den optimalen Fluchtweg von verschiedenen Orten. In der Praxis sollen dann Lautsprecherdurchsagen und Lauflichter den Betroffenen den Weg weisen.

    "Das Fernziel, das wir noch anstreben, ist, dass mobile Endgeräte direkt einen Pfeil anzeigen, mit Richtungssensor und so weiter, was jetzt der richtige Fluchtweg für eine Person auf der Station ist."

    Eine Art elektronischer Fluchtkompass also, der auf dem Handy-Display erscheint. Der Einsatzleiter der Feuerwehr seinerseits bekäme schon eine Minute nach dem Desaster gemeldet, aus welcher Richtung er den Brand am wirkungsvollsten bekämpfen kann. Die Weichensteller des U-Bahn-Betreibers wiederum wüssten, ob auch andere Bahnhöfe evakuiert werden müssen und welche U-Bahnen sie umleiten oder stoppen sollten.

    Soweit die Theorie. Die Entwickler machen keinen Hehl daraus, dass das Vorhaben ambitioniert ist. Kamineffekte, Witterungsbedingungen und eine Vielzahl anderer Faktoren machen es knifflig, in Minutenschnelle zu berechnen, wo sich eine giftige Gaswolke in fünf Minuten befinden wird. Erste Tests des kompletten Systems sollen im Sommer beginnen.

    Selbst wenn einmal alles wie geplant funktioniert - billig wird der Schutz im Schacht sicher nicht zu haben sein. Außerdem wirft er ethische Fragen auf. Soll man Evakuierungsempfehlungen geben, von denen man weiß, dass sie bestenfalls 60 Prozent der Betroffenen retten werden? Und was spielt man jenen aufs Handy, die in einer tödlichen Falle sitzen? Fragen, die Zündstoff bergen. Professor Stefan Strohschneider vom Lehrstuhl für interkulturelle Kommunikation der Universität Jena sieht zudem rechtliche Probleme, die die Kommerzialisierung der Technik verhindern könnten.

    "Die Betreibergesellschaft wäre in der Tat juristisch haftbar, wenn sie falsche Evakuierungsempfehlungen geben würde. Deswegen wird kein Tunnelbetreiber solche Evakuierungsempfehlungen geben."

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