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Sicherheit nun Top-Thema in Brasilien

Nach den fast täglichen Protestmärschen in zahlreichen Großstädten Brasiliens, die sich unter anderem auch gegen die WM-Austragung richten, verdrängt das Thema Sicherheit die Schwierigkeiten beim Ausbau der Infrastruktur auf Platz eins der Problemliste des Ausrichterlandes.

Von Jonas Reese |
    Rio de Janeiro. Wie in zahlreichen anderen Städten Brasiliens marschieren Hunderttausende gegen Verschwendungs- und Korruptionspolitik ihrer Regierung. Die Polizei geht mit Tränengas und Gummigeschossen gegen sie vor. Bis in die Nacht hält der Schlagabtausch zwischen einigen wütenden Demonstranten und Ordnungskräften an. Die Lage ist eskaliert. Ein Sicherheitskonzept der Einsatzkräfte ist nicht zu erkennen. Es ist eher ein Wunder, dass trotz des ungeordneten, brutalen Eingreifens der Polizei, keine Massenpanik unter der halben Million Teilnehmer ausbricht.

    "Nao vai a copa", "geht nicht zur WM" – es ist einer von vielen Gesängen der Masse. Ihr Zorn richtet sich auch auf die Ausrichtung der WM im nächsten Jahr. Die 11 Milliarden Euro, die sich Brasilien das kosten lässt, sollten besser in Gesundheit und Bildung gesteckt werden.

    Der Fußball-Weltverband beobachtet diese Kundgebungen mit viel Sorge. Die Demonstranten nutzen ihren Confed-Cup als Bühne. In Fortaleza gab es vor dem Spiel Brasilien gegen Mexiko einige Ausschreitungen. FIFA-Präsident Sepp Blatter hat Brasilien vorzeitig verlassen. Das italienische Team spielt offenbar mit den gleichen Gedanken.

    Nach den Verzögerungen im Stadionbau und Ausbau der Infrastruktur hat die FIFA jetzt noch ein ganz anderes Problem mit ihrem Ausrichter: Die Sicherheitslage ist mehr als unsicher. Laut WM-Vertrag ist der Ausrichter aber verpflichtet, die Sicherheit während des Turnieres zu gewährleisten.

    Im Inspektionsbericht Brasiliens von 2007 kam der FIFA-Beobachter noch zu der Einschätzung: "Bestimmte Spielorte haben zwar ein Sicherheitsproblem, das nach unserer Einschätzung aber nicht so gravierend ist, wie es die Öffentlichkeit vielfach wahrnimmt."

    Hat die FIFA das Problem in Brasilien unterschätzt? Beim Ausrichter selbst sorgt man sich schon lange darüber, wie man diesem Problem Herr werden soll. Sportminister Aldo Rebelo bestätigte gegenüber diesem Sender noch vor Beginn der Protestmärsche, dass er weniger die Bedrohung von außen, also den Terrorismus fürchtet, als die eigene Bevölkerung:

    "Hier ist es vor allem die öffentliche Sicherheit, der Schutz vor der so genannten öffentlichen Kriminalität am Wichtigsten. Wir machen viel, um die Bevölkerung zu schützen, die Touristen und auch die Delegationen der Mannschaften, die Spieler, Regierungschefs, aber natürlich auch die Journalisten. Dafür haben wir viel Geld investiert, um Equipment anzuschaffen, um Sicherheitsleute und Polizisten zu schulen."

    Brasilien investiert in Technologie, um die Sicherheit zu gewährleisten. Dieses Vorgehen erinnert an die Strategie vieler anderer Ausrichterländer von Sportgroßereignissen in der Vergangenheit. Griechenland und China bei Olympia, Südafrika und Deutschland bei der Fußball-WM.

    Umgerechnet rund 600 Millionen Euro soll Brasilien in sein Sicherheitspaket investiert haben. Offizielle Angaben darüber gibt es nicht. Größter Posten dürften darin die nagelneuen Überwachungszentren sein. So genannte Zentralen für Kommando und Kontrolle, kurz CICC. Es sind riesige einem NASA-Kontrollraum ähnelnde Gebäude, in denen die Bilder der zahlreichen Überwachungskameras beobachtet und die verschiedenen Einsatzkräfte koordiniert werden. Drei Großstädte Brasiliens haben derzeit ein derartiges Zentrum. Das in Rio wurde Ende Mai mit zweieinhalb Jahren Verspätung und nach einer Kostenexplosion auf mehr als 30 Millionen Euro eingeweiht.

    Bei der Einweihung sagte José Mariano Beltrame, der Sicherheitssekretär des Staates Rio de Janeiro diesem Sender:

    "Dieses Konzept der Zentralen für Kommando und Kontrolle ist nicht nur für die öffentliche Sicherheit gedacht, sondern auch für die Soziale Verteidigung. Was ist ein Konzept Soziale Verteidigung? Die Soziale Verteidigung ist jede Aktion, direkt oder indirekt verbunden mit dem alltäglichen Leben der Menschen in der Stadt. Hier in diesem Zentrum werden diese Informationen gebündelt."

    Diese Kontrollzentren wurden nach Vorbild ähnlicher Einrichtungen in Madrid, New York, London oder Mexiko Stadt entwickelt. Sie bilden das Kernstück der Sicherheitsstrategie Brasiliens für die kommenden Großereignisse. Knapp hundert Menschen sitzen vor einer riesigen Monitorwand und können die Wege der verschiedenen Einsatzgruppen verfolgen und delegieren. Doch über die Wirksamkeit dieser Zentren herrscht große Skepsis. Bruno Cardoso, Soziologe an der staatlichen Universität Rios hat über dieses Thema seine Dissertation geschrieben.

    "Als ich angefangen habe über diese Kontrollzentren zu forschen, war ich sehr besorgt über die Themen Privatsphäre und Vertraulichkeit. Aber nach meinen bisherigen Einblicken bin ich das nicht mehr. Jetzt bin ich eher verärgert, wie öffentliche Gelder verschwendet werden. Weil wenn man das praktische Arbeiten dieser Einrichtungen sieht, dann sieht man, dass es nicht funktioniert. Die Leute dort haben überhaupt kein Training. Sie haben pensionierte Polizisten und Feuerwehrleute engagiert, um die Kameras zu beobachten, Leute von 70, 75 Jahren, sie bekommen kaum Lohn. Man hat hier eine Menge Geld in eine Sache investiert, die nicht funktionieren wird."

    Die Ausrichtung sportlicher Großevents bringt auch immer eine Veränderung der Sicherheitspolitik des Ausrichterlandes mit sich. Oft zum Nachteil der Bevölkerung, da die Befugnisse des Staates unbemerkt ausgeweitet und die Rechte der Bürger beschnitten, sagt Cardoso. Beim Stichwort "Soziale Verteidigung", das Sicherheitssekretär Beltrame verwendet, klingeln bei ihm alle Alarmglocken.

    "Der Begriff "Soziale Verteidigung" heißt, die Gesellschaft wird gegen einen anderen Teil der Gesellschaft verteidigt. Es ist ein Begriff, der die Vermischung der verschiedenen Einsatzkräfte ermöglicht. Der es dem Militär ermöglicht, sich um öffentliche Sicherheit zu kümmern, in Zusammenarbeit mit der Polizei. Die Kontrollzentren haben genau diese Aufgabe. Die Integration von allen Sicherheitskräften: Die Zivilpolizei, Militärpolizei, Staatspolizei, Feuerwehreinheiten und Armee. Sie sind alle integriert in diesen Zentren."

    Die Befürchtungen Cardosos scheinen schon jetzt, während des Confed-Cups wahr zu werden. Denn seit dem zweiten Vorrundenspiel haben die Landesregierungen die Armee um Hilfe gebeten. Die Nationalgarde soll die Polizei bei der Abschirmung der Spiele unterstützen.

    In einem Zusatzgesetz wurden die Befugnisse des Militärs für den Zeitraum der WM mit denen der Polizei angeglichen. Nicht nur für ein Land, das wie Brasilien bis 1985 unter einer Militärdiktatur lebte, sind das keine guten Nachrichten.