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"Sie banden Sklaven in Zehnergruppen aneinander"

Vor 140 Jahren war Bunce Island der wichtigste Umschlagplatz für Sklaven. Zehntausende Gefangene wurden von der sierra-leonischen Insel nach Amerika, in die Karibik oder nach Europa verschifft. Heute besuchen ihre Nachkommen die Insel zur Ahnenforschung.

Von Agnes Steinbauer | 06.01.2013
    Madame Olivette lotst eine Gruppe Touristen über eine kleine, menschenleere Insel: Bunce Island liegt vor der Küste von Sierra Leone, etwa eine Schiffsstunde von der Hauptstadt Freetown entfernt. Die Insel ist dicht bewaldet, hier und da kleine Lichtungen, auf denen Palmen, Bananenstauden und riesige Affenbrotbäume Schatten spenden.

    Wir kämpfen uns durch kniehohes Gras und dichtes Unterholz. Plötzlich - hinter einem Hügel gibt die Insel ihr mit Schlingpflanzen umwuchertes Geheimnis preis: die zerklüfteten Ruinen einer burgähnlichen Anlage. Das ehemalige Sklavengefängnis auf Bunce Island war vor über 300 Jahren zwischen 1668 und 1807 der letzte Ort auf afrikanischem Boden für Zehntausende von Gefangenen, die von hier aus nach Amerika, in die Karibik oder nach Europa verschifft wurden. An einem bröckelnden Mauervorsprung bleibt Olivette stehen:

    "Das hier war eine Art Ofen, wo Eisen erhitzt wurden, um die Sklaven zu brandmarken. Sie bekamen das Zeichen ihres Besitzers auf den Rücken gebrannt. Die Sklavenhändler untereinander waren misstrauisch und ängstlich darauf bedacht, dass ihnen keiner ihre Sklaven wegschnappen würde."

    Es kommt Wind auf. Unsere Führerin Olivette zeigt auf eine Ausbuchtung am Strand. Das war der Punkt ohne Wiederkehr, erklärt sie. Sobald ein Sklave hier durchgegangen war, gab es kein zurück mehr.

    "Sie banden die Sklaven in Zehnergruppen aneinander - mit Seilen oder Ketten. So wurden sie auch gezählt - immer jeweils zehn an einem Seil ... verblenden mit."

    Sie wurden wirklich sehr schlecht behandelt. Frauen wurden häufig vergewaltigt und wenn sie Kinder bekamen, wurden die Neugeborenen ins Meer geworfen.

    Sklavenschiffe, so wird berichtet, wurden meist von Haien begleitet. Bis zu 15 Prozent der Menschen überlebten diese Transporte nicht. Viele begingen Selbstmord. Olivette:

    "Die Sklaven hier kamen aus den Dörfern der Umgebung und wenn sie hierher kamen, wurden sie erst einmal drei Tage in eine Höhle gesperrt, um zu sehen, ob sie überlebten."

    Madame Olivette zeigt uns einen Felsvorsprung und die Umrisse der Gefangenenräume, wo - hinter hohen Mauern - bis zu 300 Sklaven zusammengekettet ausharrten. Nur die Fittesten wurden verkauft, erzählt Olivette. In Gefangenschaft geriet man etwa durch üble Nachrede, wenn man der Hexerei verdächtigt wurde oder Schulden hatte.

    Madame Olivette kritisiert dabei ganz offen die Rolle der afrikanischen Kollaborateure - meist Häuptlinge und einflussreiche Persönlichkeiten, die ihre Mitmenschen gegen Waffen, Glasperlen oder Schnaps verkauften:
    "Sie haben einfach weggeschaut und so überhaupt nicht mitbekommen, wie ihre Landsleute von den Europäern behandelt wurden. Sie haben sie als Einnahmequelle für sich selbst betrachtet. Die Europäer gaben ihnen Rum und Tabak und andere Waren, die sie nicht hatten. Erst später haben sie realisiert, was das für ein Geschäft war."
    Es war ein sehr einträgliches Business 5000 Pfund war ein Mensch damals wert - die Briten die größten Global Player. Captain John Bence, ein reicher Geschäftsmann aus London wurde zum Namensgeber der Insel, die immer wieder gegen Angreifer verteidigt werden musste: gegen Franzosen, Portugiesen oder gegen Piraten, die den Briten ihre lukrativen Geschäfte abjagen wollten.

    Warum waren die Sklaven so begehrt, fragt Olivette in die Runde. Weil den Europäern das Know-how etwa für den Reisanbau und die technischen Möglichkeiten fehlten. Um ihre große Plantagen zu bewirtschaften, seien diese Afrikaner sehr nützlich gewesen. Sie konnten hart arbeiten und tropische Hitze gut aushalten.

    140 Jahre lang war Bunce Island der wichtigste Umschlagplatz für den weltweiten Sklavenhandel. Zwischen 30.000 und 50.000 Menschen gingen hier an Bord. Das Gefängnis wurde 1948 zum nationalen Kulturerbe ernannt. Es war das Größte von 40 ähnlichen Festungen entlang der afrikanischen Westküste.

    Urlaubsstimmung will an einem solchen Ort nicht aufkommen. Die Führungen auf Bunce Island, die das sierra-leonische Ministerium für Tourismus und Kultur organisiert, eignen sich nur für Reisende mit spezifischen Interessen.

    Etwa für die Schüler aus Dänemark, die mit ihrem Lehrer das Grab eines dänischen Captains suchen und finden. Vor allem kommen aber Besucher, die ihren eigenen Wurzeln nachspüren. Die Afroamerikanerin Sarah, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte, ist eine solche Touristin:

    "Ich hätte nie gedacht, dass ich nach Afrika kommen würde. Ich wurde in Mississippi geboren und ging in Memphis, Tennessee zur Schule. Irgendwie dachten wir nie an unser afrikanisches Erbe, bis ich meine Großmutter kurz vor ihrem Tod danach fragte."

    Diese Großmutter habe ihr erzählt, dass ihre Mutter eine Sklavin gewesen sei, ihr Vater ein weißer Sklavenmeister und dessen Mutter, also Sarahs Ururgroßmutter eine Europäerin mit blonden Haaren und blauen Augen ...

    "Deshalb wussten wir: Wir waren ein Gemisch aus Europäern, Amerikanern und Afrikanern."

    Sarahs afrikanisches Erbe ist nicht nur durch ihre dunkle Hautfarbe sichtbar. Kokett rollt sie ihre schwarzen Augen nach oben und rückt ihre Frisur zurecht:

    "Mein Haar, hier vorne am Kopf wächst lang und ist glatt. Dagegen habe ich am Hinterkopf richtig krauses, festes Haar. Deswegen sage ich immer: Meine Haare vorne sind mein amerikanisches Erbe und am Hinterkopf wächst mein afrikanisches Erbe."

    "Es ist sehr schmerzhaft für mich zu sehen, wie diese Menschen gelitten haben, wie hilflos und machtlos sie waren, ihre Geschichte fasziniert mich trotzdem. Es interessiert mich einfach, zu erfahren, wie sie gelebt haben, aber es macht mich traurig, wenn ich daran denke, was jeder für sich durchlitten hat," sagt Sarah nachdenklich.

    Ob ihre Vorfahren hier auf Bunce Island waren, hat Sarah nicht herausgefunden - im Gegensatz zu einer anderen Amerikanerin mit afrikanischen Wurzeln. Das "Homecoming" von Thomalind Martin Polite aus Charleston, South Carolina, war in Sierra Leone und in den USA viel beachtet.

    Thomalinds Familiengeschichte ist mit Bunce Island eng verbunden. Sie stammt - in der siebten Generation - von Priscilla ab; einem Slavenmädchen, dessen Schicksal lückenlos dokumentiert ist. 1756 wurde diese Priscilla als Zehnjährige von Bunce Island nach North Carolina verschleppt. Dort lebte und arbeitete sie auf einer Reisplantage in der Nähe von Charleston - bis zu ihrem Tod mit 65 Jahren. Sie hinterließ zehn Kinder.
    Thomalind Martin Polite:

    Es habe sie wirklich umgehauen, mit diesem kleinen Mädchen in Beziehung zu stehen, zu wissen, dass sie ihre Vorfahrin war, und wirklich existierte, erzählt Thomalind Martin in einer Fernsehreportage des amerikanischen Fernsehsender NBC im Februar 2012.

    Für die Fernsehreportage besuchte Thomalind Bunce Island mit dem amerikanischen Historiker Joe Opala, der die Geschichte der Sklaven seit 30 Jahren erforscht. Opala zeigt ihr das Areal, in dem vor über 250 Jahren Frauen und Kinder gefangen waren. In den Umrissen eines ehemals quadratischen Gebäudes, erklärt Opala:

    "Wir wissen nicht genau, ob Priscilla in diesem Raum gefangen war. Wenn ja, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie durch die Tür, durch die wir gerade gekommen sind, hinausgeführt wurde."

    Für Thomalind Martin war der Besuch auf Bunce Island ein Wechselbad der Gefühle.

    "Ich fühlte mich traurig, erzählt sie, ich fühlte Einsamkeit, dieses kleine Mädchen, sie war wahrscheinlich ganz allein, ich war so wütend, dass so etwas passiert ist."

    Die Tour geht zu Ende. Wir fahren zurück nach Freetown. Die Hauptstadt von Sierra Leone wurde von befreiten Sklaven gegründet. Man darf seine Vergangenheit nicht hassen sagt Sarah mit einem letzten Blick auf Bunce Island, aber man muss die Vergangenheit auch vor dem Vergessen bewahren. Noch einmal Sarah:

    "Ich hoffe sehr, dass dieses Gelände erhalten wird, weil viele Afroafrikaner hier ihre Wurzeln haben. Deshalb wäre es sehr traurig für mich, zu sehen, wie es nach und nach verfällt."