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Sie kamen wie die Schwalben

Auf dem amerikanischen Original-Cover von "Sie kamen wie die Schwalben" ist das in Öl gemalte Porträt eines jungen Mannes zu sehen, der am Schreibtisch sitzt und, über Papiere gebeugt, konzentriert arbeitet. Ein schmales, ernsthaftes Gesicht, die dunklen Haare kurz und scharf gescheitelt - es ist das Bild des 25-jährigen Maxwell, gemalt von der Künstlerin Charlotte Blass genau zu jener Zeit, als der Autor an seinem Roman schrieb. Für die deutsche Ausgabe hat der Verlag auf diesen reizvollen Umschlag leider verzichtet. So bleibt die Erscheinung William Maxwells für uns wohl immer mit den Fotografien verknüpft, die ihn im Alter, als über 70-jährigen zeigen. Erst dann wurde Maxwell auch in Deutschland zum literarischen Begriff, mit Büchern, die zum Teil mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor erstmals veröffentlicht wurden. Seit 1991 erschienen drei seiner insgesamt sechs Romane in neuen Übersetzungen, und in die glühende Bewunderung der Kritiker mischte sich stets das fast erschrockene Staunen, dass man solch einen großen Mann der amerikanischen Literatur so lange hatte übersehen können. William Maxwells Erstling "Bright Center of Heaven" ist heute auch in den USA nicht mehr greifbar, es war eine Art Komödie, die der Autor später selbst nicht mehr ernst nahm. Den zweiten Roman "Sie kamen wie die Schwalben", 1937 publiziert, sah Maxwell als sein eigentliches Debüt an, mit dem auch auf Anhieb der literarische Durchbruch gelang. Wichtiger war jedoch, so schrieb der Autor in der Rückschau, dass er damit sein Lebensthema gefunden hatte: die Welt der bürgerlichen Klein-Familie, die Welt der Kindheit - und die unvermeidliche Auflösung dieser Sphäre durch Zeit, Entfremdung oder schockhafte Ereignisse, die das Leben über Nacht in eine neue Richtung werfen können. Davon wollte William Maxwell in Zukunft erzählen, und er tat es in immer neuen Variationen in jedem weiteren Buch.

Joachim Scholl |
    Bunny wurde nicht sofort ganz wach. Ein Geräusch - was es war, wusste er nicht - traf auf der Oberfläche seines Schlafs auf und sank wie ein Stein hinein. Sein Traum machte sich davon und ließ ihn wach und gestrandet in seinem Bett zurück. Unbeholfen drehte er sich um und blickte zur Decke hinauf. Im vorigen Winter war ein Rohr geplatzt, und nun war da ein Fleck wie ein gelber See. Während Bunny hinsah, wurde der See zu einem Vogel mit Federkrone und gespreiztem Schwanz. Als keine weiteren Verwandlungen mehr erschienen, ließ er seinen Blick über die blauweiße Tapete zu dem anderen Bett hinunterwandern, in dem Robert schlief. Er betrachtete einen Augenblick lang Roberts offenstehende Lippen und sein vom Schlaf entleertes Gesicht. Es regnete.

    So beginnt dieser Roman: der achtjährige Peter Morison erwacht. Er wird Bunny genannt, und in der Tat ist er ein Häschen. Ein zarter, scheuer Junge, der am liebsten drinnen spielt, einer, der auf dem Schulhof abseits steht, weil ihm die Ball- und Fangenspiele der anderen Kinder zu wild sind. Deshalb wird er auch oft gehänselt, aber er kann sich nicht wehren. Er weint dann und läuft zu seiner Mama. Die Mutter, Elizabeth, ist die zentrale Gestalt in Bunnys Leben, der Fixpunkt seiner äußeren wie inneren Welt. Das Haus, in dem sie eine sanfte, aber bestimmte Regie führt, ist durchflutet von ihrer ruhigen Präsenz, die Bunny eine ängstlich bewachte Geborgenheit vermittelt. Ohne die Mutter ist für ihn das Leben nicht vorstellbar, sie beherrscht sein Wesen, seine Phantasie in einem Ausmaß, dass man sich als Leser schon nach den ersten Seiten zu fürchten beginnt - was wird sein, wenn etwas passiert, wenn die Mutter vielleicht einmal nicht mehr da ist?

    Immer wenn Bunny und seine Mutter allein waren, erschien die Bibliothek anheimelnd und vertraut. Sie redeten nicht miteinander und sahen sich nicht einmal an, nur gelegentlich. Und doch war jedes von ihnen bei dem und durch das, was sie gerade machten, sich der Gegenwart des anderen bewußt. Wenn seine Mutter nicht da war, wenn sie oben in ihrem Zimmer war oder in der Küche draußen Sophie Anweisungen für das Mittagessen gab, war für Bunny nichts wirklich - oder lebendig. Die zinnoberroten und die gelben Blätter, die sich auf den Vorhängen zusammenrollten und entfalteten, waren voll und ganz auf seine Mutter angewiesen. Ohne sie hatten sie weder Farbe noch bewegten sie sich. Und als er jetzt neben seiner Mutter am Fenster saß, war Bunny ebenso von ihr abhängig. Alle Linien und Oberflächen des Raums liefen auf seine Mutter zu, so dass er, wenn er das Muster des Teppichs betrachtete, es notwendig in Beziehung zu ihrer Schuhspitze sah. In gewisser Hinsicht war er noch stärker auf ihre Gegenwart angewiesen als die Blätter oder Blumen. Denn alle seine Besitztümer waren so beschaffen, dass sie sein konnten, was sie tatsächlich waren, aber zu gewissen Zeiten sich auch in Ritter und Kreuzfahrer oder in Flugzeuge oder in einen Zug Elefanten verwandeln konnten. Wenn seine Mutter in der Stadt war, um Binden für das Rote Kreuz zuzuschneiden, und er allein zu Hause spielen musste, konnte er nie sicher sein, dass die Verwandlung vonstatten gehen würde. Er konnte stundenlang seine Murmeln über das verschlungene und gezackte Muster der Orientbrücke rollen, sie blieben einfach nur Murmeln. Jetzt steckte er seine Hand in die Tasche und zog eine gelbe Glasmurmel hervor, die zu König Albert von Belgien wurde.

    William Maxwell hat zu der 1997 in den USA erschienenen Neu-Ausgabe seines Buches ein Vorwort geschrieben, das einige literarhistorische, aber vor allem die starken autobiographischen Züge des Romans erhellt. Und so kann man in Bunny die Wiederkehr des Autors und der Geschichte seiner Kindheit sehen, die durch den plötzlichen Tod der Mutter abrupt endete und ein Trauma verursachte, das Maxwell, wie er unbefangen bekennt, im Grunde nie vollständig zu bewältigen imstande war. Die Biographie des Autors deckt sich ebenfalls mit den äußeren Gegebenheiten des Textes. Maxwell wurde 1908 im Bundesstaat Illinois geboren. Dort, im kleinen Städtchen Logan, spielt auch der Roman, und an zahlreichen Details - der Straßen und Plätze, der Wohnungseinrichtung, der Spielsachen Bunnys - läßt sich ablesen, wie exakt der junge Schriftsteller Maxwell seine frühe Kindheit noch im Gedächtnis hatte. 1918 war dann das Jahr der Krise. Die Mutter starb an den Folgen der Spanischen Grippe, die - man weiß das heute kaum noch - nach Kriegsende in Europa Hunderttausenden das Leben kostete. Bald grassierte die Epidemie auch in den USA: die Schulen wurden geschlossen, öffentliche Veranstaltungen abgesagt, dennoch breitete sich das Virus auf weite Teile des Landes aus. Im Roman erkrankt Bunny als erster in der Familie. Maxwell beschreibt diese Zeit des Fiebers und Betthütens zunächst als perfektes Glück, denn nun kann Bunny die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der geliebten Mutter in Anspruch nehmen: er kann schwach im Bett dahindämmern und weiß, dass sie da ist, bei ihm wacht. Die Gefahr ist dem Kind natürlich nicht bewusst, es spürt und genießt nur den quasi-embryonalen Zustand, den er zuvor, im Heranwachsen, schon verloren geglaubt hatte.

    Als Bunny ganz klein war, war er manchmal nachts mit trockener Kehle aufgewacht und hatte nach etwas zu trinken gerufen. Das war eines der wenigen Dinge, die unfehlbar funktionierten. Er hörte dann ein Stolpern und Torkeln und das Geräusch von laufendem Wasser im Badezimmer. Der Rand eines Glases stieß an seine Zähne. Er trank durstig und fiel wieder in den Schlaf zurück... Bis eines Nachts durch die Dunkelheit hindurch eine Stimme sagte: "Ach, hol' es dir doch selbst!" Zum ersten Mal in seinem Leben wurde Bunny bewusst gemacht, dass er einen Vater hatte. Und zutiefst schockiert tat er, wie er geheißen worden war. Seit dieser Zeit hatte er versucht, in der Ordnung seines Daseins einen Platz für seinen Vater zu finden - immer vergeblich. Sein Vater war nicht der Mann, der sich in irgendeine Ordnung einfügte, außer in seine eigene. Zum einen war er zu groß dazu. Seine Stimme war zu laut. Er hatte zu breite Schultern und roch nach Zigarren. Im Familienorchester spielte sein Vater das Klavier, Robert die kleine Trommel, Bunny die große Trommel und die Becken. Sein Vater gab mit Kopf und Armen den Einsatz. Und sofort erscholl ein schrecklicher Lärm, der die leere Mitte des Raums überflutete und bis in alle Ecken und hinter alle Stühle drang.

    William Maxwell gestaltet diese Kindheitserfahrungen als Drama der Desillusion, und man braucht nicht lange zu lesen, bis der große literarhistorische Zeuge hinter diesen Akten sichtbar wird. Es ist natürlich Marcel Proust, der in den ersten beiden Bänden seiner "Suche nach der verlorenen Zeit" kaum mehr zum Thema machte, als die Sehnsucht, die ein Kind nach seiner Mutter verspürt. "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen" - so lautet der erste Satz von Prousts "Recherche". Im Schlafen gehen, im Träumen und Erwachen, wobei der erste Gedanke gleich wieder der Mutter gilt, hat Proust die Essenz seiner Kindheit erkannt und alle Erinnerung daran gemessen. Die Eingangs-Aufwach-Szene von Maxwells Roman sowie viele weitere Passagen, in denen Bunnys Bewusstsein beschrieben wird, sind ein reines Echo von Prousts Tonfall und Klage, dass diese Aura von Schutz und Mutterliebe irgendwann vergehen und unwiederbringlich dahin sein muss. Man weiß auch von Marcel Proust, wie beinahe schon pathologisch abgöttisch er an seiner Mutter hin, und man kann froh sein, dass ihm der Maxwellsche Schicksalsschlag erspart blieb. Proust hätte das keinesfalls verkraftet, und womöglich wäre sein epochaler Roman nicht geschrieben worden. Wenn man ein bisschen gemein sein wollte, ließe sich sagen, dass sich mit Proust und Maxwell zwei der größten Muttersöhnchen der Literaturgeschichte getroffen haben. Aber wenn auch Maxwell in seinen anderen Romanen immer wieder dieses konkrete Motiv vom Verlust der Mutter umkreist und den Schmerz darüber literarisch eingestanden hat, verfügt er, vielleicht weil er Amerikaner ist, doch über jene größere Portion an Lebenstüchtigkeit und Kraft, die es ihm schon im ersten romanhaften Versuch ermöglichte, vom eigenen Erleben abzurücken und seinen Roman davor zu bewahren, am Ende nur Proust'sche Schluchzer zu variieren. So besteht "Sie kamen wie die Schwalben" aus drei Teilen mit jeweils verschiedenen Erzähl-Perspektiven: "Engelskind" heißt bezeichnenderweise der für Bunny reservierte Part; schlicht mit "Robert" ist das zweite Kapitel überschrieben. Robert ist der dreizehnjährige Bruder Bunnys und von ganz anderem Schlag. Er ist ein toughes Kind, ein Raufbold und früh erwachsen, was sich schon in seinem Berufswunsch ‚Anwalt' zeigt. Robert sieht die Welt als Herausforderung, in der es darum geht, nach oben zu kommen und Erfolg zu haben. Zäh und verbissen arbeitet er daran, sein größtes Handicap zu kompensieren: als Kleinkind hat er bei einem Unfall sein Bein verloren. Nichtsdestotrotz spielt er Football und übt Leichtathletik. Und, logisch, verachtet er seinen schwächlichen kleinen Bruder, der so gesund ist und dennoch ein Weichei. Robert ist deutlich als Prototyp des All-American Kid gezeichnet, und obschon man spürt, dass des Autors Sympathie ein wenig ungleich verteilt ist, schafft Maxwell es mit großer Einfühlung, auch die Innenwelt dieses kleinen Rebellen zu entfalten. Und klug legt er die Nachricht vom Tod der Mutter genau in dieses Kapitel. Auch Robert steckt sich mit der Spanischen Grippe an, nachdem Vater und Mutter ebenfalls krank geworden sind und im Krankenhaus liegen. Aber Robert geht anders damit um:

    Robert sollte noch nicht aufstehen. Morgen vielleicht, sagte Dr. MacGregor, falls er kein Fieber mehr habe. Aber es war gar nicht schwer. Er zog seine Unterwäsche und sein Hemd an. Während er die Riemen seines künstlichen Beins befestigte, kam ein Spatz, um an dem alten Farbtropfen auf dem Fenstersims zu picken, und Robert wedelte schwach mit den Armen, um ihn zu verscheuchen. Bevor er noch mit dem Ankleiden fertig war, klingelte das Telefon, und Tante Claras Stimme tönte durch den Heizungsschacht herauf. "Hallo...Hallo, James, ich kann dich nicht hören... Nein, ich kann dich nicht besonders gut hören, hörst du mich...? Ja..." Beim Gedanken an seinen Vater musste Robert sich setzen und sich mit beiden Händen an die Stuhlkante klammern. "James, nein, das darf nicht wahr sein..." Und dann ein langes Schweigen und: "Nein, aber ich werde... wenn du möchtest, dass ich es tue." Angespannt lauschend hörte Robert, wie der Hörer eingehängt wurde. Die Treppenstufen knarrten leise. "Bunny... Oh, Bunny", seufzte sie. Tante Clara war schon oben, als Robert seine Tür aufstieß. Sie war weder überrascht noch ärgerlich, als sie ihn sah. "Komm hier herein, Robert", forderte sie ihn auf. "Ich muß euch etwas sagen." Man brauchte Robert nicht zu sagen, was geschehen war. Er wußte es schon. Seine Mutter war tot. Während der Nacht, als er geschlafen hatte, hatte sich ihr Zustand verschlimmert. Und sie hatte keine guten Chancen mehr, es zu schaffen, wie der Arzt gesagt hatte. Und sie war gestorben. Sein Kopf rauschte gewaltig, wie die Muschel im Salon. Er streckte die Hand nach den Gewichten aus, den kegelförmigen Gewichten der Kuckucksuhr, und hielt sich schwankend an ihnen fest, bis der Raum um ihn herum wieder Gestalt annahm und der Boden unter seinen Füßen nicht mehr nachgab.

    So mannhaft reagiert der ältere Bruder, sofort sucht er nach Halt, den er auch findet. Noch in der Nacht hat Robert im Traum die Katastrophe antizipiert und sich darauf eingestellt. Zwar hat er seine Mutter auch sehr geliebt, aber sie gehörte ebenfalls zu den Erwachsenen, gegen die man sich sowieso immer zur Wehr setzen musste. Und seine Verachtung von Bunnys Affenliebe zur Mutter hat Robert in Distanz zu ihr gebracht. Viel stärker orientiert er sich an seinem Vater, James Morison. Von Bunny nur als bedrohliche, störende Existenz wahrgenommen, ist das Familienoberhaupt in seiner gravitätischen Unerreichbarkeit für Robert das große Vorbild. Ihm eifert er nach, er will auch einmal diese Position, und Robert ist stolz wie Oskar, wenn der Vater ihn manchmal auf Geschäftsreise mitnimmt. Erneut zeigt sich hier das enorme Talent, mit dem Maxwell die kindliche Seele mit ihren ganz eigenen, rein emotionalen Prioritäten erfasst. Und so wird mit der Figur Roberts eine zweite psychologische Ebene angelegt, die wie im Falle des kleineren Bunny Ängste und Sehnsüchte einer Kindheit auffächert, nur anders, mit jenem Akzent und Bestreben, sich die väterliche Liebe gewissermaßen zu verdienen. Deshalb trainiert Robert im Sport, als ob er kein Bein verloren hätte; das Mitleid der Mutter oder seiner Umgebung erbittert ihn, er will nur den Respekt des Vaters. Umso erschütterter reagiert der ältere Sohn, als er feststellt, dass auch der Vater Gefühle hat. Bevor sie stirbt, entbindet die Mutter noch ein Kind. Die Schwangerschaft ist kompliziert, und in einer grandiosen Szene zeigt Maxwel den Vater, wie er Robert von seiner Angst um die Ehefrau erzählt. Es ist ein stockendes Gespräch, gespickt mit altväterlichen Phrasen, die peinlich jede unmännliche Sentimentalität vermeiden sollen, und doch begreift Robert entsetzt die Hilflosigkeit und Verzweiflung, die den Vater erfüllt. Diese Passage bildet genau die Mitte des Romans und so auch die formale Gelenkstelle, die den dritten, abschließenden Teil des Buches vorbereitet. Jetzt steht Vater James Morison im Mittelpunkt. Nach dem Tod von Elizabeth kehrt er in das verwaiste Haus zurück. Wie ein Zombie durchstreift er die Räume. Alles sieht noch so aus wie früher, doch nichts ist mehr, wie es war:

    James ging die Treppe hinauf und über den Flur in das Schlafzimmer, das er mit Elizabeth geteilt hatte. Und sah ihre Kleider im Schrank hängen und blieb blind und fast bewußtlos stehen. Als er wieder die Kraft dazu hatte, schloß er hastig die Schranktür und drückte die Stirn an den hohen, kühlen Spiegeln auf deren Außenseite. Satin und Spitzen und brauner Samt und der schwache Duft von Veilchen - Das war alles, was ihm von seiner Liebe geblieben war. Voller Wut - denn sie hätte ihm noch ein Wort zukommen lassen können und hatte es nicht getan - ging er dann im Zimmer herum und nahm ihre Haarbürste oder ihren Elfenbeinspiegel oder das winzige Fläschchen mit Riechsalz in die Hand und legte sie wieder hin. Nacheinander machte er Schubladen auf, zog kleine, intime Gegenstände heraus - Haarnadeln, Duftkissen, einen Puderschwamm, eine Bridgetabelle, eine Troddel, eine Bernsteinkette - und häufte sie auf dem Toilettentisch auf. Denn sie hatte ihn beiseite gelegt, sagte er sich, hatte ihn gleichgültig zusammen mit ihrem Leben abgelegt. Das Schwächegefühl, das er in den Schultern verspürte, wanderte nun von den Hüften in die Knie. Er stand mitten im Zimmer und schaukelte vor und zurück; und in den Ohren hatte er diese schreckliche letzte Stunde ihres Atmens... Er würde das Haus verkaufen, dachte er wieder und wieder, als müsste er eine Lektion auswendig lernen. Und Clara konnte die Kinder nehmen, da sie sie ja wollte. Und alles andere würde er verschenken, an Ethel, Irene, Sophie, an alle, die so freundlich und gut sein würden, sie anzunehmen. Denn sie war jetzt fortgegangen. Und wenn er damit fertig wäre, würde keine Spur mehr von ihr bleiben, nirgendwo. Niemand würde wissen, dass es diesen Menschen je gegeben hatte, sagte er sich. Und er wandte sich zur Tür und sah Bunny, der ihn mit Elizabeths erschrockenen Augen anstarrte.

    Es sind solch prägnante, atemberaubende Szenen, die diesen schmalen Roman von nur knapp 200 Seiten zu einem großen Kunstwerk machen. Mit seinem Stil maximaler psychologischer Verdichtung hat Maxwell in der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts kaum ein ebenbürtiges Pendant. Man rühmt Hemingway für seine Kürze, doch dieser wirkt im Vergleich zu Maxwell wie ein literarischer Brutalo, der die menschlichen Innenräume mit dem Hammer abklopft, um hinter ihr Geheimnis zu kommen. Es wäre jedoch ein Missverständnis, wollte man Maxwell gegen Hemingway als literarischen Tiefenpsychologen ausspielen. Maxwell betreibt keine Analyse, erklärt nichts, kommt zu keinem Schluss. Als Erzähler hält er sich konsequent zurück: in strikt personaler Erzählweise entwickelt er alle Gedanken, Stimmungen und Ereignisse aus dem Bewusstsein seiner Protagonisten. Und die Plausibilität und Triftigkeit dieser Darstellung zu akzeptieren, bleibt dem Leser überlassen, der allein entscheiden muss, ob dieser individuelle Zuschnitt dem eigenen Gefühl entspricht. Dieser Anspruch auf Repräsentanz ist das literarische Risiko, das jeder Roman eingeht. Maxwell vertraut dabei auf die Erfahrungen seiner Biographie . Seht her, scheint er schlicht zu fragen, so ging es mir und meiner Familie damals; könnt ihr damit etwas anfangen? Und man kann. Ob bei Bunny oder Robert: vermutlich jeder Mensch, der nicht ganz verhärtet ist, dürfte durch ihr Wesen in die Zeit seiner Kindheit versetzt werden. Man erkennt eigentlich alles wieder: die Träume, Atmosphäre, Ängste und Wünsche, dass es bisweilen sogar schmerzt, daran erinnert zu werden. War nicht die Vorstellung, jemals die Eltern zu verlieren, die schrecklichste überhaupt, als man acht oder zehn Jahre alt war? Kann man je den Triumph vergessen, dieses reine Glück, beim Fußball einmal ein Tor geschossen zu haben, obwohl man im Sport doch immer die Flasche war? Und wer als Erwachsener einen geliebten Menschen verlor, weiß auch um die bodenlose Leere, in die der Vater James zu fallen scheint. Die Größe dieses Buches liegt in seiner zutiefst menschlichen Wahrheit, die man nicht mit intellektuellen, ästhetischen Kategorien feststellen muß, sondern einfach mit dem Herzen begreift. "Ich schreibe über die Vergangenheit", hat Maxwell einmal gesagt, "nicht weil ich etwa denke, sie sei besser als die Gegenwart. Ich will einfach die Dinge, die passierten, nicht vergessen." Das klingt wie ein Klischee, wäre es auch, wenn es um Geschichte und ihre Aufarbeitung ginge. Maxwell meint aber die andere, persönliche Vergangenheit, das kleine, Leben selbst, und letztlich ist es ja das, was uns am tiefsten bewegt. So wird es wohl auch immer sein, und deshalb wird dieser Roman auch noch in hundert Jahren die Menschen erreichen. "Sie kamen wie die Schwalben" wurde, wie gesagt, 1937 veröffentlicht, und man muß bei der Lektüre immer wieder zwischendurch überrascht an diese Jahreszahl denken, denn zu keiner Sekunde, in keiner Zeile hat man das Gefühl, einen gewissermaßen schon historischen Roman der klassischen Moderne zu lesen. ‚Zeitlosigkeit' ist in diesem Fall einmal keine literaturkritische Floskel, sondern die ästhetische Qualität, die Stil und Gehalt gleichermaßen umfaßt. Den Titel seines Romans hat William Maxwell einem Gedicht von William Butler Yeats entnommen, und die Hoffnung darauf, dass das Leben immer irgendwie doch weitergeht, diese Zuversicht auch, die im Buch weder Bunny, Robert noch der Vater verspüren können, liegt in jenen Versen. William Maxwell mögen sie getröstet haben.

    Sie kamen wie die Schwalben und flogen wie Schwalben fort,

    Und doch machte das starke Wesen einer Frau,

    Dass eine Schwalbe nicht ihr Ziel verlor;

    Und eine Schar von einem halben Dutzend dort,

    Die scheinbar ohne Richtung wirbelnd in den Himmel stieg,

    Fand im träumenden Raum sicheren Weg und Ort.