Gerhard Schröder: Herr Sommer, vor der Bundestagswahl im vergangenen September, da haben Sie noch vor einem "sozialen Eissturm" gewarnt, falls Schwarz-Gelb ans Ruder kommt. Jetzt loben Sie plötzlich den Regierungsstil von Angela Merkel. Die Bundeskanzlerin habe gelernt, dass es besser sei, mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten als gegen sie. Haben Sie jetzt, nach fast 100 Tagen Regierungszeit, Frieden geschlossen mit der schwarz-gelben Koalition?
Michael Sommer: Nein, ich habe weder den Kriegszustand ausgerufen noch den Frieden geschlossen. Ich habe schlicht und ergreifend darauf aufmerksam gemacht, dass von der Wahlprogrammatik der Parteien her wir davon ausgehen mussten, dass es zu einer neoliberalen Wende rückwärts kommt.
Wir haben teilweise recht behalten - in puncto Steuerpolitik, wo sich die klientelorientierte Sichtweise der FDP eindeutig durchgesetzt hat. An anderen Stellen habe ich den Eindruck, dass sich die Koalitionäre, für mich, das gebe ich dann auch zu, überraschend an ein paar Stellen doch offensichtlich gelernt haben. Ob das jetzt in Fragen der Sozialpolitik war oder auch in Fragen von Arbeitnehmerrechten. Und völlig abgelöst davon ist die Frage des Regierungsstils von Angela Merkel.
Ich glaube, sie regiert dieses Land im Rahmen dessen, was sie in dieser Koalition machen kann, relativ klug. Zumindest halte ich ihren Stil für angemessen und für sauber. Was die Inhalte anbetrifft, da haben wir mehr als ein Fragezeichen, aber da werden wir sicherlich noch im Detail drauf kommen.
Schröder: Viele sprechen ja von einem Fehl- oder Stolperstart der neuen Regierung. Wie würden Sie denn den Kurs bezeichnen, können Sie da schon eine Linie erkennen?
Sommer: Nein, Sie können nicht wirklich eine Linie erkennen. Wenn Sie den Koalitionsvertrag sehen und das Wort "Prüfaufträge" eingeben, dann kommen Sie auf - ich glaube - insgesamt 150 Prüfaufträge in einem Koalitionsvertrag. Das ist wirklich wohl absoluter Rekord.
Was mich verwundert, ist, dass die von vielen so behauptete Liebesehe ja noch nicht einmal die Flitterwochen überlebt. Nichtsdestotrotz: Ich persönlich gehe davon aus, dass sich auch diese Koalition finden wird.
Schröder: Arbeitsministerin Ursula von der Leyen hat jetzt angekündigt, sie wolle Hartz IV auf den Prüfstand stellen. Sie kündigt dabei Korrekturen an jenem Konstrukt an, das die Gewerkschaften ja geradezu für den Inbegriff einer Politik der sozialen Kälte bezeichnen. Bei der SPD zu Regierungszeiten haben Sie da wenig Gehör gefunden, jetzt aber bei der Union. Da müssten Sie doch eigentlich jubeln, oder?
Sommer: Zumindest finde ich das interessant, was sich in der Union tut, übrigens auch in der Koalition. Und das müsste auch der SPD zu denken geben, ob sie nicht wirklich strategische Fehler gemacht hat, und zwar sehr, sehr prinzipieller Art.
Ich erinnere mich eines Telefonates während der Koalitionsverhandlungen, als Guido Westerwelle mich anrief und zu mir sagte: "Herr Sommer, ich wollte Ihnen nur sagen: In punkto Schonvermögen kommen wir Ihren Forderungen nach, und auch das, was wir mal besprochen haben in punkto selbstgenutztes Wohneigentum, da wollen wir was tun."
Meine Gefühlslage in der Situation war eine doppelte. Zum einen habe ich mich tatsächlich für die Betroffenen gefreut, zum anderen habe ich mir gesagt: Guck mal, das ist eigentlich jetzt für die alte Koalition - sozusagen mal nachgetreten - der soziale Todesstoß.
Schröder: Ursula von der Leyen sagt jetzt aber ganz konkret: Hartz IV muss gerechter werden, wir müssen uns die einzelnen Gruppen angucken, wir müssen mehr für Kinder tun, wir müssen mehr für Jugendliche tun, wir müssen mehr für Alleinerziehende tun. Ist das nicht der richtige Ansatz?
Sommer: Wenn sie Hartz IV einer Grundrevision unterziehen will, wie sie das jetzt in verschiedenen Interviews angekündigt hat, dann halte ich das für einen vernünftigen Punkt. Allerdings ist dann die Frage, worauf das zielt - das System effektiver zu machen oder dort, wo es zu Verwerfungen führt, abzuschaffen. Ich will Ihnen das an einem Beispiel klarmachen.
Es geht ja nicht nur um die Frage der Höhe der Regelsätze, zum Beispiel die der Kinder. Die sind zu niedrig aus unserer Sicht, eindeutig. Es geht auch nicht um die Frage, ob man Heizkosten pauschaliert - ja oder nein. Aber es gibt so ein paar Punkte, die mit Hartz ja verbunden sind: Die ganzen Hartz-Beschäftigungsverhältnisse, die hier entstanden sind - die Ein-Euro-Jobs, die öffentlich geförderte Beschäftigung bis hin zu Fragen der Zumutbarkeit, die ja alle dazu führten - das war ja auch von Rot-Grün intendiert -, den Niedriglohnsektor in Deutschland zu etablieren und total auszuweiten.
Diese Regelungen müssen meines Erachtens mit auf den Prüfstand. Und ob dazu die Frau von der Leyen bereit ist, das kann ich Ihnen noch nicht beantworten. Aber da ist eine Bereitschaft da, etwas zu tun. Wir nehmen das auf, aber beurteilen tue ich es erst, wenn ich weiß, was tatsächlich konkret passieren wird.
Schröder: Ursula von der Leyen sagt aber auch: Hartz IV - das Gesamtsystem - ist okay, wir müssen an einzelnen Punkten korrigieren. Also, diese Politik des Forderns und Förderns, das wollen wir beibehalten. Stimmen Sie da zu?
Sommer: Nun, ich habe ihr gesagt: Wir werden es immer daran messen, was tatsächlich für die Betroffenen passiert. Denn das Problem bei der Politik des Förderns und Forderns war ja, dass das Fördern zu kurz gekommen ist und eigentlich auch nur Fordern gemeint war.
Um das an einem Beispiel noch mal deutlich zu machen: Das Fördern hinein in ein Beschäftigungsverhältnis, wo ich wieder ergänzend Hartz IV brauche, wäre für mich eine falsche Politik. Das Fördern hinein in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung: Da sind wir die Ersten, die "hurra" schreien und auch Beifall klatschen und eigene Vorschläge unterbreiten.
Schröder: Aber das heißt, für eine Ausweitung der Zuverdienstgrenzen, wie Ursula von der Leyen das jetzt andenkt, da wären Sie nicht zu haben?
Sommer: Nein, weil das auch der falsche Weg wäre. Und der richtige Weg ist meines Erachtens immer, nicht diese Beschäftigungsverhältnisse für die Menschen etwas erträglicher zu machen, sondern tatsächlich zu erträglichen Beschäftigungsverhältnissen zu kommen, und das heißt, zu sozial abgesicherten Arbeitsverhältnissen, wo man im Minimum so viel verdient, dass man davon einigermaßen gut leben kann.
Schröder: Der Knackpunkt bei Hartz IV aber ist nach zwölf Monaten Arbeitslosigkeit, dann droht der tiefe Fall auf die Existenzsicherung. SPD-Chef Sigmar Gabriel hat nun vorgeschlagen, für Ältere müsse da mehr getan werden, das sei auch ein Gebot der Gerechtigkeit, dass man nach 30 Jahren nicht gleichbehandelt werde wie nach zwei Jahren Berufstätigkeit. Brauchen wir hier ein ganz neues System?
Sommer: Ja, oder die Rückkehr zu alter Vernunft. Über das, was Gabriel heute sagt, ist sein Vorvorgänger in Schwielowsee gestürzt worden - Kurt Beck. Ich kann mich an die Auseinandersetzung rund um den Hamburger Parteitag, wo es genau um die Frage der Zahlung von Arbeitslosengeld I, um die Verlängerung für Ältere ging, erinnern. Wenn Sigmar Gabriel das heute wieder aufgreift, dann ist das eine Korrektur, die überfällig ist
Schröder: Es gibt aber auch in der SPD einige, die sagen, das reicht auch noch nicht, Arbeitslosengeld I insgesamt muss verlängert werden, zwölf Monate sind zu wenig.
Sommer: Ja, wir sind bei einem ähnlichen Ansatzpunkt, weil wir sagen, die Lebensleistung muss auch abwägen. Nun weiß ich auch, dass die Arbeitslosenversicherung keine ist - im Vergleich mit der Rentenversicherung -, wo die Einzahlungsdauer automatisch dann die Zahldauer ausmacht. Der Hintergrund ist der, das gerade in Krisenzeiten wir alles tun müssen, die Beschäftigungsbrücken weiter zu bauen und die Menschen in ihrer Existenz zu sichern. Und Hartz IV ist ja ein System, das nicht mehr im Unterschied zu früher Lebensstandard sichert, sondern nur noch gegen das Verhungern hilft, um es mal zuzuspitzen, man nennt es auch Armutssicherung. Und ich glaube, wir brauchen die Rückkehr zu Systemen, die arbeitenden Menschen, die unverschuldet arbeitslos geworden sind, auch einigermaßen so die Brücke baut, dass sie ihren Lebensstandard erhalten können und dann wieder aus diesem Lebensstandarderhalt wieder arbeiten können. Das wäre mein Ziel.
Schröder: Aber das heißt: Ein bisschen an einzelnen Stellschrauben drehen, wie es jetzt die Arbeitsministerin angedeutet hat, das reicht Ihnen nicht?
Sommer: Mir wäre eine Grundrevision des Systems lieber, auch die Einführung zum Beispiel eines solchen Überbrückungsgeldes. Wir werden das auch brauchen, wenn viele der sogenannten Leistungsträger in dieser Gesellschaft wirklich abzurutschen drohen in Armut. Wenn man das nicht mit dem großen Schritt schafft, sondern über viele Einzelschritte, dann muss man auch diesen Weg gehen, weil es insgesamt um die Situation der Betroffenen geht. Nur glaube ich, dass man diese grundlegende Entscheidung, dass man nicht mehr den Lebensstandard erhält, dass man das wieder umkehren muss und Menschen dann auch die Perspektive auf eine menschenwürdige Arbeit wieder zu geben und nicht auf ein Leben mit Hartz IV, was auf Dauer weder menschenwürdig, noch für diese Gesellschaft wirklich gut ist.
Schröder: Nun sagen aber auch viele Arbeitsmarktpolitiker: Bei aller Kritik, der Arbeitsmarkt zeigt sich jetzt in der Krise erstaunlich robust, die Beschäftigtenzahl ist im vergangenen Jahr, im Jahr der schärfsten Rezession, kaum gesunken, die Zahl der Arbeitslosen ist nur gering gestiegen. Also, so ganz falsch kann das nicht gewesen sein, was da passiert ist.
Sommer: Nun ja, das Nichtsteigen oder nicht dramatische Steigen der Arbeitslosenzahlen im vergangenen Jahr hat ja nichts mit den Schröderschen Reformen zu tun, sondern mit der Tatsache, dass wir ja kräftig diese Schröderschen Reformen nicht nur nachgebessert, sondern - wenn man so will - ignoriert haben. Wir haben eine Politik der staatlich finanzierten oder öffentlich finanzierten Arbeitszeitverkürzung gemacht - Kurzarbeitergeld ist nichts anderes. Das war ein völlig richtiger Schritt, das war eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme, die aber nichts damit zu tun hat, was ich früher an Hartz IV oder sonstigen Systemen gemacht habe. Das ist ein völlig anderes System. Deswegen: Diesen Zusammenhang sehe ich nicht.
Schröder: Nun sagen ja viele: Kurzarbeitergeld schön und gut, das ist eine Brücke. Aber wie lange hält diese Brücke noch? Rechnen Sie damit, dass in den nächsten Wochen und Monaten nun tatsächlich Massenentlassungen anstehen, dass dann der Ernstfall am Arbeitsmarkt droht?
Sommer: Wir alle wissen nicht, ob die Brücke breit genug ist, um über diesen Strom der Krise zu kommen. Es vermehren sich die Anzeichen, dass es nicht reicht. Das heißt, wir müssen wahrscheinlich uns noch zusätzliche Instrumente ausdenken. Wir haben nach wie vor eine sehr gespaltene Situation in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben große Bereiche, insbesondere der verarbeitenden Industrie, wo wir große Probleme haben. Wir haben andere Bereiche, wo es wesentlich besser aussieht. Deswegen ist es schwierig, zu prognostizieren. Aber ich glaube auch, dass es immer schwieriger wird, diese Beschäftigungsbrücke zu halten.
Schröder: Was soll denn jetzt noch geschehen, der Staat hat ja schon Milliarden bereitgestellt?
Sommer: Ich glaube, es war klug, dass der Staat in der Krisensituation an verschiedensten Stellen bis an die Dehnbarkeit seiner selbst gegangen ist, um dieses Land und diese Wirtschaft einigermaßen im Gleichgewicht zu halten. Insgesamt kann sich die Bilanz der vergangenen eineinhalb oder zwei Jahre positiv sehen lassen.
Schröder: Aber Sie sagen, es muss noch mehr getan werden. Was konkret fordern Sie?
Sommer: Ich glaube, dass es Sinn macht, in der jetzigen Situation alles zu tun, die Beschäftigung, damit Unternehmensstabilität und damit letztendlich auch Einnahmestabilität des Staates zu generieren. Wir gehen davon aus, dass wir noch zusätzlich ergänzend, bis wir tatsächlich die Krise überwunden haben, auch noch staatlich geförderte Investitionsprogramme brauchen - nicht im Sinne von Gießkanne und auch nicht im Sinne von Fortsetzung Abwrackprämie II oder so, sondern wir nennen es sehr bewusst "Zukunfts-Investitionsprogramm", weil wir es gleichzeitig schaffen müssen, dass das, was wir brauchen, nämlich Zunahme von Forschung und Innovation, Zunahme von Infrastruktur, Zunahme von Verbesserungen im Bildungsbereich - dass wir das jetzt auch auf den Weg bringen und gleichzeitig damit auch Beschäftigung stabilisieren und etwas für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes tun. Und das ist dann kein rausgeschmissenes Geld, sondern nach meiner Meinung eine Investition in die Zukunft. Uns sagt jeder, die Größenordnung von mindestens zwei Prozent des Bruttosozialprodukts, das wären rund 50 Milliarden Euro, wären notwendig, um Zukunftsinvestitionen zu machen. Wir rechnen alleine für die Modernisierung des Bildungssektors - im ersten Schritt brauchten wir 28 Milliarden, das ist relativ seriös.
Schröder: Ist das nun wirklich der Weisheit letzter Schluss, gerade angesichts der prekären Haushaltslage?
Sommer: Das muss man nicht nur über Schulden finanzieren. Man kann es auch darüber finanzieren, dass man zum Beispiel zusätzlich Steuern erhebt bei denen, die sich das leisten können, und daraus bestimmte Sachen finanzieren. Wir haben auch alternative Finanzierungsvorschläge gemacht, denken Sie an den Vorschlag der IG Metall, eine Zwangsanleihe für die Vermögenden zu machen, die wieder zurückgezahlt wird. Also, es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man so etwas finanzieren kann. Nur - alles geht davon aus, dass es immer besser ist, etwas zu tun, als nichts zu tun.
Schröder: Finanzminister Schäuble muss aber im nächsten Jahr sparen. Das fordert die Schuldenbremse im Grundgesetz, von zehn Milliarden pro Jahr ist die Rede. Wie passt das da zusammen, da ist doch kein Geld für zusätzliche Investitionsprogramme?
Sommer: Da haben sie recht. Wenn sie die Schuldenbremse nicht auf den Prüfstand stellen, glaube ich schon, dass die selber in die selbst aufgestellte Falle tappen werden.
Schröder: Das heißt, Sie schlagen vor, die Schuldenbremse wieder aufzuheben?
Sommer: Wir haben immer gesagt, die Schuldenbremse ist der falsche Weg. Ich bin da nur konsistent in der Argumentation. Ich weiß, wir sind an einer großen Koalition gescheitert. Wir haben immer gesagt, die Schuldenbremse, auch alles, was mit der Föderalismusreform II zu tun hat, führt zu Handlungsunfähigkeit des Staates. Jetzt sehen wir das. Wenn Sie jetzt gleichzeitig eine Steuerentlastung machen für die FDP-Klientel und auf der anderen Seite sagen, diese Steuerentlastung bezahle ich dann damit, dass der Staat bestimmte Leistungen nicht mehr finanziert, dann schade ich genau denjenigen, die im unteren Einkommensbereich sind. Und das ist eine Umverteilung von unten nach oben. Deswegen sage ich, der arme Staat ist auch ein unsozialer Staat.
Schröder: Der Finanzminister hat jetzt angekündigt, wir müssen sparen, wir wollen sparen. Alle Ausgaben werden auf den Prüfstand gestellt. Ist das nicht der richtige Weg angesichts der dramatisch hohen Schulden?
Sommer: Mit Verlaub gesagt, der gleiche Finanzminister hat durchgewunken Kindergelderhöhung, die die meisten nicht gebraucht hätten. Der gleiche Finanzminister hat ein Steuergeschenk, eine unglaublich hohe Subvention, für Hoteliers durchgesetzt. Erst wird das Geld rausgeschmissen um anschließend dann zu sagen, jetzt müssen wir aber anfangen zu sparen. Man merkt die Absicht, nämlich dass man bestimmten Leuten erst mal was gibt, um anschließend dann bei den kleinen Leuten zu sparen. Und besonders pervers wird es dann mit der Diskussion, die wir zwischen Weihnachten und Neujahr hatten, wo dann erste Unionspolitiker anfingen und gesagt haben, wir müssen dann aber wenigstens mal den Arbeitslosenversicherungsbeitrag hoch hieven. Wir haben immer gesagt, guckt euch mal genau an, wie hoch er sein muss. Und 2,8 Prozent ist sicherlich nicht ein Dogma. Aber wenn dahinter steht, dass man die Beiträge der Sozialversicherung erhöhen will um Steuergeschenke für die Reichen wiederum gegenzufinanzieren, dann kann ich nur sagen, dann verschärfen die die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung tatsächlich. Und das scheint offensichtlich der Fall zu sein.
Schröder: Aber wäre eine Anhebung des Arbeitslosenbeitrages auf 4 Prozent nicht der richtige Weg? Damit könnte man die Defizite, die auch in 2011 vermutlich bei der Bundesagentur für Arbeit noch kommen werden, halbwegs decken.
Sommer: Also, in einer Situation wie der jetzigen Krise den Faktor Arbeit zu verteuern wäre erst mal der falsche Weg. Ich bin immer der Meinung gewesen, die Arbeitslosenversicherung muss so ausfinanziert werden, dass sie vernünftig ihren Leistungen nachkommen kann. Nur jetzt wird ja die Diskussion völlig verkehrt. Schröpfen tun Sie dann die Leute, die in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sind. Die zahlen. Und oben machen die dann die Kappungsgrenze. Da würden die Menschen mit höheren Einkommen, die würden dann geschont werden. Und das halte ich allerdings - mit Verlaub gesagt - wirklich für einen unsozialen Weg.
Schröder: Das Interview der Woche mit Michael Sommer, dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Herr Sommer, die schwarz-gelbe Koalition will ja auch das Gesundheitswesen grundlegend umkrempeln. Auch dafür wird Geld benötigt. Wie soll das alles zueinanderpassen, wenn wir auch noch sehen, dass weitere Steuerentlastungen geplant sind. Was erwarten Sie da?
Sommer: Ich erwarte schon, dass es zum Offenbarungseid dieser Koalition kommen wird, wenn man diese Pläne übereinanderlegt. Das geht nämlich nicht zusammen. Ich möchte Ihnen das nur an einem Beispiel sagen. Wenn Herr Rösler - meines Erachtens zu Unrecht - sagt, die jetzige Finanzierung des Gesundheitssystems sei unsozial, man müsste den Sozialausgleich über Steuern machen, dann bleibt er die Frage schuldig erstens: Wie hoch wäre dieser Sozialausgleich? Experten sagen uns, wahrscheinlich in der Größenordnung von 40 Milliarden Euro. Wo soll das Geld herkommen? Wenn Sie gleichzeitig sagen, wir wollen die Steuern senken, dann geht das ja nicht zusammen, dass Sie auf der einen Seite die Steuern senken und auf der anderen Seite sagen, ich brauche aber mehr Geld für den Sozialausgleich. Ich habe viel mehr den Verdacht, und das sage ich Ihnen ganz offen, dass man heute über den Sozialausgleich über Steuern redet und im Klaren ist, dass man den eigentlich gar nicht machen will, sondern dass man eigentlich tatsächlich eine Zwei- und Dreiklassenmedizin machen will.
Schröder: Gesundheitsminister Rösler sagt, wir machen das in kleinen Schritten. Jeder wird mitgenommen. Wir müssen hier dafür sorgen, dass es gerecht zugeht. Warum soll das nicht gelingen?
Sommer: Am Anfang hieß es: Nein, die Kopfpauschale wollen wir gar nicht einführen. Jetzt sagt er, wir führen sie in kleinen Schritten ein. Er sagt nicht, wie klein die Schritte sind. Er sagt nicht, in welchem Zeitraum es gemacht werden soll, mit welcher Zielsetzung. Deswegen sind wir da alle noch am suchen. Und wir machen momentan ja nichts anderes, als auf eine gewisse Gefährdungslage hinzuweisen und uns zu wappnen auf eine künftige Auseinandersetzung. Und dann werden wir die Auseinandersetzung sachbezogen führen. Dann können sie damit rechnen, dass die Auseinandersetzung kräftig wird.
Schröder: Wie wollen Sie denn verhindern, dass die schwarz-gelbe Koalition das tatsächlich einführt? Die haben ja eine ganz bequeme Mehrheit.
Sommer: Kein Gesetz entsteht im luftleeren Raum oder im politikfreien Raum. Und genau diesen Raum werden wir bestellen. Und da kann ich Ihnen sagen, die werden sich noch umgucken.
Schröder: Michael Sommer, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Herr Sommer, Sie stellen eine ganze Reihe Forderungen an den Staat, was er alles tun muss. Nun gibt es Ökonomen, die sagen, die Gewerkschaften können auch einiges tun, damit wir die Krise meistern können, zum Beispiel in der Tarifpolitik. In der Krise, in der Rezession ist eine moderate Tarifpolitik das Gebot der Stunde. Nun sehen wir gerade im öffentlichen Dienst, da fordern die Gewerkschaften fünf Prozent mehr Einkommen. Ist das nicht das völlig falsche Signal zu der jetzigen Zeit?
Sommer: Erstens ist fünf Prozent jetzt nicht eine unmaßvolle Forderung sondern eine moderate Forderung.
Schröder: Angesichts von fünf Prozent sinkender Wirtschaftsleistung moderat?
Sommer: Ja, von sinkender Wirtschaftsleistung insbesondere im industriellen Bereich. Wir haben eine sehr unterschiedliche Wirtschaftsentwicklung. Wir werden uns das nach den Branchen jeweils angucken. Und ich habe immer darauf hingewiesen, wir befinden uns im Spannungsverhältnis zwischen Steigerung der Massenkaufkraft einerseits, die ja Tarifpolitik auch bedeutet, auch in der Krise - und Existenzsicherung andererseits. Wie klug wir Tarifpolitik machen insgesamt, haben Sie gerade beim Beginn der Krise gesehen. Wir hätten das, was wir an Beschäftigungssicherung erreicht haben, ohne die unglaublich vielen und teilweise sehr, sehr klugen Tarifverträge zur Existenz- und Beschäftigungssicherung in den Betrieben einschließlich Auflösung von Arbeitszeitkonten und Ähnliches alles nicht erreichen können. Wir haben einen großen Beitrag dafür geleistet, die Krise einigermaßen zu bewältigen.
Schröder: Herr Sommer, Arbeitsministerin Ursula von der Leyen hat angekündigt, ein zweites Thema anzupacken, das den Gewerkschaften auch seit Jahren am Herzen liegt, das Thema Leiharbeit. Fälle wie die bei Schlecker sollen nicht mehr vorkommen, dass also ein Unternehmen Teile seiner Stammbelegschaft durch billige Leihkräfte ersetzen kann. Fälle wie Schlecker - ist das ein Einzelfall?
Sommer: Schlecker ist ein Beispiel von vielen. Es gibt sehr große Konzerne übrigens auch, die Leiharbeitsfirmen gegründet haben, teilweise zu Saubedingungen Leute ausgeliehen haben, teilweise zu anständigen Bedingungen ausgeliehen haben. Aber es zielte immer darauf, Beschäftigungsverhältnisse und letztendlich den internen Arbeitsmarkt in den Betrieben auch kaputtzumachen. Was die Regierung tun muss, ist meines Erachtens zweierlei. Wir brauchen zum einen mit Blick auf 2011 infolge Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa erst mal eine Sicherung der Lohnuntergrenze für Leiharbeit generell. Denn wir werden erleben im Jahr 2011, wenn bis dahin nichts passiert, dass Leiharbeit aus Osteuropa mit osteuropäischen Leiharbeitsfirmen darauf zielen wird, weiter die Beschäftigungsbedingungen in Deutschland zu verschlechtern. Dem kann man entschieden entgegenwirken mit einem vernünftigen Tarifvertrag zur Allgemeinverbindlichkeit.
Schröder: Das heißt, Sie fordern einen Mindestlohn für die Branche?
Sommer: Ja. Da sind wir lange dabei. Wir konnten uns ja in der Endphase der große Koalition nicht durchsetzen. Wir werden den Anlauf erneuern. Aber der zweite Punkt ist sehr viel prinzipieller. Wir brauchen insgesamt eine Überprüfung der Konstruktion des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, die 2003/2004 geschaffen worden ist. Ich darf daran erinnern, dass damals vereinbart worden ist in diesem Gesetz, dass der Grundsatz gilt, gleicher Lohn für gleiche Arbeit und gleiche Arbeitsbedingungen für Leiharbeitnehmer und Stammbelegschaft. Wir haben damals dazu gesagt, es kann tarifvertragliche Abweichungen geben. Und jeder, der an dem damaligen Verhandlungsprozess beteiligt war - ich war es auch persönlich - ist nicht davon ausgegangen, dass dieses Mittel der Tarifpolitik von Scheingewerkschaften und von zu allem entschlossenen Arbeitgebern missbraucht wird. Das heißt, wir brauchen eine Klarstellung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, dass diese Art von Tarifverträgen nicht mehr Anwendung finden. Dann kann man auch die Leiharbeit und Zeitarbeit als ein vernünftiges arbeitsmarktpolitisches Instrument weiterführen. Ansonsten wird sie sich selber desavouieren.
Schröder: Haben hier nicht auch die Gewerkschaften versagt? Denn die Gewerkschaften haben ja die Abschlüsse gemacht, die sie jetzt kritisieren. Was ist da falsch gelaufen? Warum haben Sie so miserable Verträge abgeschlossen?
Sommer: Ich will noch mal sagen, ich lasse ja so ziemlich alle Vorwürfe gegen mich gelten, aber für die Tarifverträge tragen wir nun wirklich nicht die Verantwortung.
Schröder: Aber Sie haben sie doch selber abgeschlossen.
Sommer: Nein, wir haben die Tarifverträge, über die ich rede, nicht abgeschlossen, sondern die sind von sogenannten christlichen Gewerkschaften abgeschlossen worden mit kleinsten Arbeitgeberverbänden, die nur darauf zielten - die haben teilweise überhaupt keine Mitglieder - irgendeinen Tarifvertrag zu schreiben und die dann für diese entsprechenden Entleiher zur Anwendung zu bringen. Das ist ja eine der Verwerfungen, die wir bekämpfen müssen.
Schröder: Aber die Verträge der DGB-Organisation sind nicht so viel besser.
Sommer: Doch, doch, sie sind im Kern wesentlich besser, sie sind alle über sieben Euro, was die entleihfreie Arbeitszeit anbetrifft. Sie haben alle die Zahlung von Sozialleistungen. Wenn Sie sich die Tarifverträge im Detail ansehen, dann sehen sie, dass eine Lücke von 20 bis 30 Prozent klafft, die nach unten aufgemacht wird.
Schröder: Herr Sommer, ich verstehe nicht, wie wollen Sie das erreichen, dass Leiharbeiter genau so bezahlt werden wie Stammbeschäftigte? Sie müssen doch gegen ihre eigenen Tarifverträge angehen . . .
Sommer: Nein, nein
Schröder: . . . und müssen die außer Kraft setzen, damit eine Gleichbehandlung hergestellt wird. Wie wollen Sie das sonst schaffen?
Sommer: Wir müssen eine Regelung machen. Und da gilt der Grundsatz: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Wenn die Firma XY an den Betrieb jemanden ausleiht, dann muss der mindestens nach einer kurzen Einarbeitungszeit gleich behandelt werden wie derjenige, der in dem Stammbetrieb ist.
Schröder: Wie wollen Sie das erreichen?
Sommer: Durch Tarifverträge, durch Betriebsvereinbarungen, durch Einflussnahme auf den Entleihbetrieb, also auf den Betrieb, der Arbeitskräfte entleiht, der tatsächlich dann welche nimmt.
Schröder: Was hindert Sie denn daran, solche Tarifverträge abzuschließen?
Sommer: Wir tun es ja. Im Zuge der Leiharbeitskampagne haben wir das generell gemacht. Wir bräuchten diese Einzeltarifverträge nicht abzuschließen, wenn wir gesetzlich regeln würden durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, dass in dem Moment, wo jemand entliehen ist, der Tarifvertrag gilt, der in dem Betrieb angewandt werden muss. Dann ist die Sache von vorneherein geregelt.
Schröder: Aber ist nicht auch ein Teil der Wahrheit, dass Ihnen schlicht die Durchschlagskraft fehlt, um solche Tarifverträge durchzusetzen?
Sommer: Ach, auf den Punkt wollen Sie? Ja, wir haben zum einen sehr unterentwickelte Organisationen, gerade bei Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern selbst, das ist richtig. Aber für die Entleihbetriebe, da haben wir schon die tarifvertragliche Mächtigkeit, durchzusetzen, dass da etwas passiert. Sonst hätte die IG Metall diese Tausenden von Tarifverträgen übrigens auch nicht abschließen können, wo wir die Entleihbedingungen in den Betrieben regeln.
Schröder: Sie sagen, für die Leiharbeitsbranche brauchen Sie Mindestlöhne, um das Tarifsystem abzusichern, weil die Gewerkschaften es aus eigener Kraft nicht mehr schaffen. Es gibt andere Branchen, in denen fordern Sie auch Mindestlöhne. Sehen sie da Chancen, das bei der Bundesregierung durchzusetzen? Finden sie da Gehör?
Sommer: Zum einen hat die Forderung nach Mindestlöhnen nicht nur etwas mit mangelnder gewerkschaftlicher Kraft zu tun, sondern teilweise auch zum Beispiel mit der mangelnden Tarifbindung von Arbeitgebern. Ich glaube schon, dass es Chancen gibt, auch diese Regierung davon zu überzeugen, dass man spätestens mit Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit 2011 in Europa zu Mindestarbeitsbedingungen kommt, die durch Gesetz geregelt sind. Das heißt, dass Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden nach dem Entsendegesetz. Die Alternative wäre - das wäre die bessere - ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn. Das wäre sicherlich schwieriger durchzusetzen als der Punkt, den ich Ihnen da eben genannt habe. Es war erst mal ein Fortschritt in der Koalitionsvereinbarung, dass sie gesagt haben, wir kippen nicht die bestehenden Mindestlohntarifverträge. Wir sind jetzt in der Phase, wo wir gucken müssen, ob das, was jetzt ausgehandelt worden ist, zum Beispiel Gebäudereiniger, ob das jetzt tatsächlich für allgemeinverbindlich erklärt wird. Wir sind da sehr dahinter her und ich hoffe auch, dass es da die notwendige Einsicht bei der Arbeitsministerin und bei der Bundesregierung insgesamt gibt.
Schröder: Die FDP aber bremst.
Sommer: Die bremst noch, sehr intensiv sogar. Ich weiß das auch, und es gibt Teile in der Union, die versuchen, es trotzdem flottzukriegen, die wir da auch massiv unterstützen. Aber von Seehofer angefangen bis zu Westerwelle - bei der Kanzlerin glaube ich sowieso, dass man da eher auf Einsicht hoffen kann - werden die feststellen, dass, je näher der Termin 1. Mai 2011 kommt, das heißt die volle Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die aus Osteuropa entsandt werden - niemand hat etwas dagegen, dass die hier herkommen, sondern die Frage ist, zu welchen Bedingungen die arbeiten - dass das den sozialen Druck erhöhen wird und dass das auch zu einer Einsicht und zu einer Umkehr bei der Bundesregierung führen wird. Ich hoffe es jedenfalls sehr.
Schröder: Herr Sommer, ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch.
Sommer: Bitte schön.
Michael Sommer: Nein, ich habe weder den Kriegszustand ausgerufen noch den Frieden geschlossen. Ich habe schlicht und ergreifend darauf aufmerksam gemacht, dass von der Wahlprogrammatik der Parteien her wir davon ausgehen mussten, dass es zu einer neoliberalen Wende rückwärts kommt.
Wir haben teilweise recht behalten - in puncto Steuerpolitik, wo sich die klientelorientierte Sichtweise der FDP eindeutig durchgesetzt hat. An anderen Stellen habe ich den Eindruck, dass sich die Koalitionäre, für mich, das gebe ich dann auch zu, überraschend an ein paar Stellen doch offensichtlich gelernt haben. Ob das jetzt in Fragen der Sozialpolitik war oder auch in Fragen von Arbeitnehmerrechten. Und völlig abgelöst davon ist die Frage des Regierungsstils von Angela Merkel.
Ich glaube, sie regiert dieses Land im Rahmen dessen, was sie in dieser Koalition machen kann, relativ klug. Zumindest halte ich ihren Stil für angemessen und für sauber. Was die Inhalte anbetrifft, da haben wir mehr als ein Fragezeichen, aber da werden wir sicherlich noch im Detail drauf kommen.
Schröder: Viele sprechen ja von einem Fehl- oder Stolperstart der neuen Regierung. Wie würden Sie denn den Kurs bezeichnen, können Sie da schon eine Linie erkennen?
Sommer: Nein, Sie können nicht wirklich eine Linie erkennen. Wenn Sie den Koalitionsvertrag sehen und das Wort "Prüfaufträge" eingeben, dann kommen Sie auf - ich glaube - insgesamt 150 Prüfaufträge in einem Koalitionsvertrag. Das ist wirklich wohl absoluter Rekord.
Was mich verwundert, ist, dass die von vielen so behauptete Liebesehe ja noch nicht einmal die Flitterwochen überlebt. Nichtsdestotrotz: Ich persönlich gehe davon aus, dass sich auch diese Koalition finden wird.
Schröder: Arbeitsministerin Ursula von der Leyen hat jetzt angekündigt, sie wolle Hartz IV auf den Prüfstand stellen. Sie kündigt dabei Korrekturen an jenem Konstrukt an, das die Gewerkschaften ja geradezu für den Inbegriff einer Politik der sozialen Kälte bezeichnen. Bei der SPD zu Regierungszeiten haben Sie da wenig Gehör gefunden, jetzt aber bei der Union. Da müssten Sie doch eigentlich jubeln, oder?
Sommer: Zumindest finde ich das interessant, was sich in der Union tut, übrigens auch in der Koalition. Und das müsste auch der SPD zu denken geben, ob sie nicht wirklich strategische Fehler gemacht hat, und zwar sehr, sehr prinzipieller Art.
Ich erinnere mich eines Telefonates während der Koalitionsverhandlungen, als Guido Westerwelle mich anrief und zu mir sagte: "Herr Sommer, ich wollte Ihnen nur sagen: In punkto Schonvermögen kommen wir Ihren Forderungen nach, und auch das, was wir mal besprochen haben in punkto selbstgenutztes Wohneigentum, da wollen wir was tun."
Meine Gefühlslage in der Situation war eine doppelte. Zum einen habe ich mich tatsächlich für die Betroffenen gefreut, zum anderen habe ich mir gesagt: Guck mal, das ist eigentlich jetzt für die alte Koalition - sozusagen mal nachgetreten - der soziale Todesstoß.
Schröder: Ursula von der Leyen sagt jetzt aber ganz konkret: Hartz IV muss gerechter werden, wir müssen uns die einzelnen Gruppen angucken, wir müssen mehr für Kinder tun, wir müssen mehr für Jugendliche tun, wir müssen mehr für Alleinerziehende tun. Ist das nicht der richtige Ansatz?
Sommer: Wenn sie Hartz IV einer Grundrevision unterziehen will, wie sie das jetzt in verschiedenen Interviews angekündigt hat, dann halte ich das für einen vernünftigen Punkt. Allerdings ist dann die Frage, worauf das zielt - das System effektiver zu machen oder dort, wo es zu Verwerfungen führt, abzuschaffen. Ich will Ihnen das an einem Beispiel klarmachen.
Es geht ja nicht nur um die Frage der Höhe der Regelsätze, zum Beispiel die der Kinder. Die sind zu niedrig aus unserer Sicht, eindeutig. Es geht auch nicht um die Frage, ob man Heizkosten pauschaliert - ja oder nein. Aber es gibt so ein paar Punkte, die mit Hartz ja verbunden sind: Die ganzen Hartz-Beschäftigungsverhältnisse, die hier entstanden sind - die Ein-Euro-Jobs, die öffentlich geförderte Beschäftigung bis hin zu Fragen der Zumutbarkeit, die ja alle dazu führten - das war ja auch von Rot-Grün intendiert -, den Niedriglohnsektor in Deutschland zu etablieren und total auszuweiten.
Diese Regelungen müssen meines Erachtens mit auf den Prüfstand. Und ob dazu die Frau von der Leyen bereit ist, das kann ich Ihnen noch nicht beantworten. Aber da ist eine Bereitschaft da, etwas zu tun. Wir nehmen das auf, aber beurteilen tue ich es erst, wenn ich weiß, was tatsächlich konkret passieren wird.
Schröder: Ursula von der Leyen sagt aber auch: Hartz IV - das Gesamtsystem - ist okay, wir müssen an einzelnen Punkten korrigieren. Also, diese Politik des Forderns und Förderns, das wollen wir beibehalten. Stimmen Sie da zu?
Sommer: Nun, ich habe ihr gesagt: Wir werden es immer daran messen, was tatsächlich für die Betroffenen passiert. Denn das Problem bei der Politik des Förderns und Forderns war ja, dass das Fördern zu kurz gekommen ist und eigentlich auch nur Fordern gemeint war.
Um das an einem Beispiel noch mal deutlich zu machen: Das Fördern hinein in ein Beschäftigungsverhältnis, wo ich wieder ergänzend Hartz IV brauche, wäre für mich eine falsche Politik. Das Fördern hinein in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung: Da sind wir die Ersten, die "hurra" schreien und auch Beifall klatschen und eigene Vorschläge unterbreiten.
Schröder: Aber das heißt, für eine Ausweitung der Zuverdienstgrenzen, wie Ursula von der Leyen das jetzt andenkt, da wären Sie nicht zu haben?
Sommer: Nein, weil das auch der falsche Weg wäre. Und der richtige Weg ist meines Erachtens immer, nicht diese Beschäftigungsverhältnisse für die Menschen etwas erträglicher zu machen, sondern tatsächlich zu erträglichen Beschäftigungsverhältnissen zu kommen, und das heißt, zu sozial abgesicherten Arbeitsverhältnissen, wo man im Minimum so viel verdient, dass man davon einigermaßen gut leben kann.
Schröder: Der Knackpunkt bei Hartz IV aber ist nach zwölf Monaten Arbeitslosigkeit, dann droht der tiefe Fall auf die Existenzsicherung. SPD-Chef Sigmar Gabriel hat nun vorgeschlagen, für Ältere müsse da mehr getan werden, das sei auch ein Gebot der Gerechtigkeit, dass man nach 30 Jahren nicht gleichbehandelt werde wie nach zwei Jahren Berufstätigkeit. Brauchen wir hier ein ganz neues System?
Sommer: Ja, oder die Rückkehr zu alter Vernunft. Über das, was Gabriel heute sagt, ist sein Vorvorgänger in Schwielowsee gestürzt worden - Kurt Beck. Ich kann mich an die Auseinandersetzung rund um den Hamburger Parteitag, wo es genau um die Frage der Zahlung von Arbeitslosengeld I, um die Verlängerung für Ältere ging, erinnern. Wenn Sigmar Gabriel das heute wieder aufgreift, dann ist das eine Korrektur, die überfällig ist
Schröder: Es gibt aber auch in der SPD einige, die sagen, das reicht auch noch nicht, Arbeitslosengeld I insgesamt muss verlängert werden, zwölf Monate sind zu wenig.
Sommer: Ja, wir sind bei einem ähnlichen Ansatzpunkt, weil wir sagen, die Lebensleistung muss auch abwägen. Nun weiß ich auch, dass die Arbeitslosenversicherung keine ist - im Vergleich mit der Rentenversicherung -, wo die Einzahlungsdauer automatisch dann die Zahldauer ausmacht. Der Hintergrund ist der, das gerade in Krisenzeiten wir alles tun müssen, die Beschäftigungsbrücken weiter zu bauen und die Menschen in ihrer Existenz zu sichern. Und Hartz IV ist ja ein System, das nicht mehr im Unterschied zu früher Lebensstandard sichert, sondern nur noch gegen das Verhungern hilft, um es mal zuzuspitzen, man nennt es auch Armutssicherung. Und ich glaube, wir brauchen die Rückkehr zu Systemen, die arbeitenden Menschen, die unverschuldet arbeitslos geworden sind, auch einigermaßen so die Brücke baut, dass sie ihren Lebensstandard erhalten können und dann wieder aus diesem Lebensstandarderhalt wieder arbeiten können. Das wäre mein Ziel.
Schröder: Aber das heißt: Ein bisschen an einzelnen Stellschrauben drehen, wie es jetzt die Arbeitsministerin angedeutet hat, das reicht Ihnen nicht?
Sommer: Mir wäre eine Grundrevision des Systems lieber, auch die Einführung zum Beispiel eines solchen Überbrückungsgeldes. Wir werden das auch brauchen, wenn viele der sogenannten Leistungsträger in dieser Gesellschaft wirklich abzurutschen drohen in Armut. Wenn man das nicht mit dem großen Schritt schafft, sondern über viele Einzelschritte, dann muss man auch diesen Weg gehen, weil es insgesamt um die Situation der Betroffenen geht. Nur glaube ich, dass man diese grundlegende Entscheidung, dass man nicht mehr den Lebensstandard erhält, dass man das wieder umkehren muss und Menschen dann auch die Perspektive auf eine menschenwürdige Arbeit wieder zu geben und nicht auf ein Leben mit Hartz IV, was auf Dauer weder menschenwürdig, noch für diese Gesellschaft wirklich gut ist.
Schröder: Nun sagen aber auch viele Arbeitsmarktpolitiker: Bei aller Kritik, der Arbeitsmarkt zeigt sich jetzt in der Krise erstaunlich robust, die Beschäftigtenzahl ist im vergangenen Jahr, im Jahr der schärfsten Rezession, kaum gesunken, die Zahl der Arbeitslosen ist nur gering gestiegen. Also, so ganz falsch kann das nicht gewesen sein, was da passiert ist.
Sommer: Nun ja, das Nichtsteigen oder nicht dramatische Steigen der Arbeitslosenzahlen im vergangenen Jahr hat ja nichts mit den Schröderschen Reformen zu tun, sondern mit der Tatsache, dass wir ja kräftig diese Schröderschen Reformen nicht nur nachgebessert, sondern - wenn man so will - ignoriert haben. Wir haben eine Politik der staatlich finanzierten oder öffentlich finanzierten Arbeitszeitverkürzung gemacht - Kurzarbeitergeld ist nichts anderes. Das war ein völlig richtiger Schritt, das war eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme, die aber nichts damit zu tun hat, was ich früher an Hartz IV oder sonstigen Systemen gemacht habe. Das ist ein völlig anderes System. Deswegen: Diesen Zusammenhang sehe ich nicht.
Schröder: Nun sagen ja viele: Kurzarbeitergeld schön und gut, das ist eine Brücke. Aber wie lange hält diese Brücke noch? Rechnen Sie damit, dass in den nächsten Wochen und Monaten nun tatsächlich Massenentlassungen anstehen, dass dann der Ernstfall am Arbeitsmarkt droht?
Sommer: Wir alle wissen nicht, ob die Brücke breit genug ist, um über diesen Strom der Krise zu kommen. Es vermehren sich die Anzeichen, dass es nicht reicht. Das heißt, wir müssen wahrscheinlich uns noch zusätzliche Instrumente ausdenken. Wir haben nach wie vor eine sehr gespaltene Situation in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben große Bereiche, insbesondere der verarbeitenden Industrie, wo wir große Probleme haben. Wir haben andere Bereiche, wo es wesentlich besser aussieht. Deswegen ist es schwierig, zu prognostizieren. Aber ich glaube auch, dass es immer schwieriger wird, diese Beschäftigungsbrücke zu halten.
Schröder: Was soll denn jetzt noch geschehen, der Staat hat ja schon Milliarden bereitgestellt?
Sommer: Ich glaube, es war klug, dass der Staat in der Krisensituation an verschiedensten Stellen bis an die Dehnbarkeit seiner selbst gegangen ist, um dieses Land und diese Wirtschaft einigermaßen im Gleichgewicht zu halten. Insgesamt kann sich die Bilanz der vergangenen eineinhalb oder zwei Jahre positiv sehen lassen.
Schröder: Aber Sie sagen, es muss noch mehr getan werden. Was konkret fordern Sie?
Sommer: Ich glaube, dass es Sinn macht, in der jetzigen Situation alles zu tun, die Beschäftigung, damit Unternehmensstabilität und damit letztendlich auch Einnahmestabilität des Staates zu generieren. Wir gehen davon aus, dass wir noch zusätzlich ergänzend, bis wir tatsächlich die Krise überwunden haben, auch noch staatlich geförderte Investitionsprogramme brauchen - nicht im Sinne von Gießkanne und auch nicht im Sinne von Fortsetzung Abwrackprämie II oder so, sondern wir nennen es sehr bewusst "Zukunfts-Investitionsprogramm", weil wir es gleichzeitig schaffen müssen, dass das, was wir brauchen, nämlich Zunahme von Forschung und Innovation, Zunahme von Infrastruktur, Zunahme von Verbesserungen im Bildungsbereich - dass wir das jetzt auch auf den Weg bringen und gleichzeitig damit auch Beschäftigung stabilisieren und etwas für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes tun. Und das ist dann kein rausgeschmissenes Geld, sondern nach meiner Meinung eine Investition in die Zukunft. Uns sagt jeder, die Größenordnung von mindestens zwei Prozent des Bruttosozialprodukts, das wären rund 50 Milliarden Euro, wären notwendig, um Zukunftsinvestitionen zu machen. Wir rechnen alleine für die Modernisierung des Bildungssektors - im ersten Schritt brauchten wir 28 Milliarden, das ist relativ seriös.
Schröder: Ist das nun wirklich der Weisheit letzter Schluss, gerade angesichts der prekären Haushaltslage?
Sommer: Das muss man nicht nur über Schulden finanzieren. Man kann es auch darüber finanzieren, dass man zum Beispiel zusätzlich Steuern erhebt bei denen, die sich das leisten können, und daraus bestimmte Sachen finanzieren. Wir haben auch alternative Finanzierungsvorschläge gemacht, denken Sie an den Vorschlag der IG Metall, eine Zwangsanleihe für die Vermögenden zu machen, die wieder zurückgezahlt wird. Also, es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man so etwas finanzieren kann. Nur - alles geht davon aus, dass es immer besser ist, etwas zu tun, als nichts zu tun.
Schröder: Finanzminister Schäuble muss aber im nächsten Jahr sparen. Das fordert die Schuldenbremse im Grundgesetz, von zehn Milliarden pro Jahr ist die Rede. Wie passt das da zusammen, da ist doch kein Geld für zusätzliche Investitionsprogramme?
Sommer: Da haben sie recht. Wenn sie die Schuldenbremse nicht auf den Prüfstand stellen, glaube ich schon, dass die selber in die selbst aufgestellte Falle tappen werden.
Schröder: Das heißt, Sie schlagen vor, die Schuldenbremse wieder aufzuheben?
Sommer: Wir haben immer gesagt, die Schuldenbremse ist der falsche Weg. Ich bin da nur konsistent in der Argumentation. Ich weiß, wir sind an einer großen Koalition gescheitert. Wir haben immer gesagt, die Schuldenbremse, auch alles, was mit der Föderalismusreform II zu tun hat, führt zu Handlungsunfähigkeit des Staates. Jetzt sehen wir das. Wenn Sie jetzt gleichzeitig eine Steuerentlastung machen für die FDP-Klientel und auf der anderen Seite sagen, diese Steuerentlastung bezahle ich dann damit, dass der Staat bestimmte Leistungen nicht mehr finanziert, dann schade ich genau denjenigen, die im unteren Einkommensbereich sind. Und das ist eine Umverteilung von unten nach oben. Deswegen sage ich, der arme Staat ist auch ein unsozialer Staat.
Schröder: Der Finanzminister hat jetzt angekündigt, wir müssen sparen, wir wollen sparen. Alle Ausgaben werden auf den Prüfstand gestellt. Ist das nicht der richtige Weg angesichts der dramatisch hohen Schulden?
Sommer: Mit Verlaub gesagt, der gleiche Finanzminister hat durchgewunken Kindergelderhöhung, die die meisten nicht gebraucht hätten. Der gleiche Finanzminister hat ein Steuergeschenk, eine unglaublich hohe Subvention, für Hoteliers durchgesetzt. Erst wird das Geld rausgeschmissen um anschließend dann zu sagen, jetzt müssen wir aber anfangen zu sparen. Man merkt die Absicht, nämlich dass man bestimmten Leuten erst mal was gibt, um anschließend dann bei den kleinen Leuten zu sparen. Und besonders pervers wird es dann mit der Diskussion, die wir zwischen Weihnachten und Neujahr hatten, wo dann erste Unionspolitiker anfingen und gesagt haben, wir müssen dann aber wenigstens mal den Arbeitslosenversicherungsbeitrag hoch hieven. Wir haben immer gesagt, guckt euch mal genau an, wie hoch er sein muss. Und 2,8 Prozent ist sicherlich nicht ein Dogma. Aber wenn dahinter steht, dass man die Beiträge der Sozialversicherung erhöhen will um Steuergeschenke für die Reichen wiederum gegenzufinanzieren, dann kann ich nur sagen, dann verschärfen die die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung tatsächlich. Und das scheint offensichtlich der Fall zu sein.
Schröder: Aber wäre eine Anhebung des Arbeitslosenbeitrages auf 4 Prozent nicht der richtige Weg? Damit könnte man die Defizite, die auch in 2011 vermutlich bei der Bundesagentur für Arbeit noch kommen werden, halbwegs decken.
Sommer: Also, in einer Situation wie der jetzigen Krise den Faktor Arbeit zu verteuern wäre erst mal der falsche Weg. Ich bin immer der Meinung gewesen, die Arbeitslosenversicherung muss so ausfinanziert werden, dass sie vernünftig ihren Leistungen nachkommen kann. Nur jetzt wird ja die Diskussion völlig verkehrt. Schröpfen tun Sie dann die Leute, die in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sind. Die zahlen. Und oben machen die dann die Kappungsgrenze. Da würden die Menschen mit höheren Einkommen, die würden dann geschont werden. Und das halte ich allerdings - mit Verlaub gesagt - wirklich für einen unsozialen Weg.
Schröder: Das Interview der Woche mit Michael Sommer, dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Herr Sommer, die schwarz-gelbe Koalition will ja auch das Gesundheitswesen grundlegend umkrempeln. Auch dafür wird Geld benötigt. Wie soll das alles zueinanderpassen, wenn wir auch noch sehen, dass weitere Steuerentlastungen geplant sind. Was erwarten Sie da?
Sommer: Ich erwarte schon, dass es zum Offenbarungseid dieser Koalition kommen wird, wenn man diese Pläne übereinanderlegt. Das geht nämlich nicht zusammen. Ich möchte Ihnen das nur an einem Beispiel sagen. Wenn Herr Rösler - meines Erachtens zu Unrecht - sagt, die jetzige Finanzierung des Gesundheitssystems sei unsozial, man müsste den Sozialausgleich über Steuern machen, dann bleibt er die Frage schuldig erstens: Wie hoch wäre dieser Sozialausgleich? Experten sagen uns, wahrscheinlich in der Größenordnung von 40 Milliarden Euro. Wo soll das Geld herkommen? Wenn Sie gleichzeitig sagen, wir wollen die Steuern senken, dann geht das ja nicht zusammen, dass Sie auf der einen Seite die Steuern senken und auf der anderen Seite sagen, ich brauche aber mehr Geld für den Sozialausgleich. Ich habe viel mehr den Verdacht, und das sage ich Ihnen ganz offen, dass man heute über den Sozialausgleich über Steuern redet und im Klaren ist, dass man den eigentlich gar nicht machen will, sondern dass man eigentlich tatsächlich eine Zwei- und Dreiklassenmedizin machen will.
Schröder: Gesundheitsminister Rösler sagt, wir machen das in kleinen Schritten. Jeder wird mitgenommen. Wir müssen hier dafür sorgen, dass es gerecht zugeht. Warum soll das nicht gelingen?
Sommer: Am Anfang hieß es: Nein, die Kopfpauschale wollen wir gar nicht einführen. Jetzt sagt er, wir führen sie in kleinen Schritten ein. Er sagt nicht, wie klein die Schritte sind. Er sagt nicht, in welchem Zeitraum es gemacht werden soll, mit welcher Zielsetzung. Deswegen sind wir da alle noch am suchen. Und wir machen momentan ja nichts anderes, als auf eine gewisse Gefährdungslage hinzuweisen und uns zu wappnen auf eine künftige Auseinandersetzung. Und dann werden wir die Auseinandersetzung sachbezogen führen. Dann können sie damit rechnen, dass die Auseinandersetzung kräftig wird.
Schröder: Wie wollen Sie denn verhindern, dass die schwarz-gelbe Koalition das tatsächlich einführt? Die haben ja eine ganz bequeme Mehrheit.
Sommer: Kein Gesetz entsteht im luftleeren Raum oder im politikfreien Raum. Und genau diesen Raum werden wir bestellen. Und da kann ich Ihnen sagen, die werden sich noch umgucken.
Schröder: Michael Sommer, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Herr Sommer, Sie stellen eine ganze Reihe Forderungen an den Staat, was er alles tun muss. Nun gibt es Ökonomen, die sagen, die Gewerkschaften können auch einiges tun, damit wir die Krise meistern können, zum Beispiel in der Tarifpolitik. In der Krise, in der Rezession ist eine moderate Tarifpolitik das Gebot der Stunde. Nun sehen wir gerade im öffentlichen Dienst, da fordern die Gewerkschaften fünf Prozent mehr Einkommen. Ist das nicht das völlig falsche Signal zu der jetzigen Zeit?
Sommer: Erstens ist fünf Prozent jetzt nicht eine unmaßvolle Forderung sondern eine moderate Forderung.
Schröder: Angesichts von fünf Prozent sinkender Wirtschaftsleistung moderat?
Sommer: Ja, von sinkender Wirtschaftsleistung insbesondere im industriellen Bereich. Wir haben eine sehr unterschiedliche Wirtschaftsentwicklung. Wir werden uns das nach den Branchen jeweils angucken. Und ich habe immer darauf hingewiesen, wir befinden uns im Spannungsverhältnis zwischen Steigerung der Massenkaufkraft einerseits, die ja Tarifpolitik auch bedeutet, auch in der Krise - und Existenzsicherung andererseits. Wie klug wir Tarifpolitik machen insgesamt, haben Sie gerade beim Beginn der Krise gesehen. Wir hätten das, was wir an Beschäftigungssicherung erreicht haben, ohne die unglaublich vielen und teilweise sehr, sehr klugen Tarifverträge zur Existenz- und Beschäftigungssicherung in den Betrieben einschließlich Auflösung von Arbeitszeitkonten und Ähnliches alles nicht erreichen können. Wir haben einen großen Beitrag dafür geleistet, die Krise einigermaßen zu bewältigen.
Schröder: Herr Sommer, Arbeitsministerin Ursula von der Leyen hat angekündigt, ein zweites Thema anzupacken, das den Gewerkschaften auch seit Jahren am Herzen liegt, das Thema Leiharbeit. Fälle wie die bei Schlecker sollen nicht mehr vorkommen, dass also ein Unternehmen Teile seiner Stammbelegschaft durch billige Leihkräfte ersetzen kann. Fälle wie Schlecker - ist das ein Einzelfall?
Sommer: Schlecker ist ein Beispiel von vielen. Es gibt sehr große Konzerne übrigens auch, die Leiharbeitsfirmen gegründet haben, teilweise zu Saubedingungen Leute ausgeliehen haben, teilweise zu anständigen Bedingungen ausgeliehen haben. Aber es zielte immer darauf, Beschäftigungsverhältnisse und letztendlich den internen Arbeitsmarkt in den Betrieben auch kaputtzumachen. Was die Regierung tun muss, ist meines Erachtens zweierlei. Wir brauchen zum einen mit Blick auf 2011 infolge Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa erst mal eine Sicherung der Lohnuntergrenze für Leiharbeit generell. Denn wir werden erleben im Jahr 2011, wenn bis dahin nichts passiert, dass Leiharbeit aus Osteuropa mit osteuropäischen Leiharbeitsfirmen darauf zielen wird, weiter die Beschäftigungsbedingungen in Deutschland zu verschlechtern. Dem kann man entschieden entgegenwirken mit einem vernünftigen Tarifvertrag zur Allgemeinverbindlichkeit.
Schröder: Das heißt, Sie fordern einen Mindestlohn für die Branche?
Sommer: Ja. Da sind wir lange dabei. Wir konnten uns ja in der Endphase der große Koalition nicht durchsetzen. Wir werden den Anlauf erneuern. Aber der zweite Punkt ist sehr viel prinzipieller. Wir brauchen insgesamt eine Überprüfung der Konstruktion des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, die 2003/2004 geschaffen worden ist. Ich darf daran erinnern, dass damals vereinbart worden ist in diesem Gesetz, dass der Grundsatz gilt, gleicher Lohn für gleiche Arbeit und gleiche Arbeitsbedingungen für Leiharbeitnehmer und Stammbelegschaft. Wir haben damals dazu gesagt, es kann tarifvertragliche Abweichungen geben. Und jeder, der an dem damaligen Verhandlungsprozess beteiligt war - ich war es auch persönlich - ist nicht davon ausgegangen, dass dieses Mittel der Tarifpolitik von Scheingewerkschaften und von zu allem entschlossenen Arbeitgebern missbraucht wird. Das heißt, wir brauchen eine Klarstellung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, dass diese Art von Tarifverträgen nicht mehr Anwendung finden. Dann kann man auch die Leiharbeit und Zeitarbeit als ein vernünftiges arbeitsmarktpolitisches Instrument weiterführen. Ansonsten wird sie sich selber desavouieren.
Schröder: Haben hier nicht auch die Gewerkschaften versagt? Denn die Gewerkschaften haben ja die Abschlüsse gemacht, die sie jetzt kritisieren. Was ist da falsch gelaufen? Warum haben Sie so miserable Verträge abgeschlossen?
Sommer: Ich will noch mal sagen, ich lasse ja so ziemlich alle Vorwürfe gegen mich gelten, aber für die Tarifverträge tragen wir nun wirklich nicht die Verantwortung.
Schröder: Aber Sie haben sie doch selber abgeschlossen.
Sommer: Nein, wir haben die Tarifverträge, über die ich rede, nicht abgeschlossen, sondern die sind von sogenannten christlichen Gewerkschaften abgeschlossen worden mit kleinsten Arbeitgeberverbänden, die nur darauf zielten - die haben teilweise überhaupt keine Mitglieder - irgendeinen Tarifvertrag zu schreiben und die dann für diese entsprechenden Entleiher zur Anwendung zu bringen. Das ist ja eine der Verwerfungen, die wir bekämpfen müssen.
Schröder: Aber die Verträge der DGB-Organisation sind nicht so viel besser.
Sommer: Doch, doch, sie sind im Kern wesentlich besser, sie sind alle über sieben Euro, was die entleihfreie Arbeitszeit anbetrifft. Sie haben alle die Zahlung von Sozialleistungen. Wenn Sie sich die Tarifverträge im Detail ansehen, dann sehen sie, dass eine Lücke von 20 bis 30 Prozent klafft, die nach unten aufgemacht wird.
Schröder: Herr Sommer, ich verstehe nicht, wie wollen Sie das erreichen, dass Leiharbeiter genau so bezahlt werden wie Stammbeschäftigte? Sie müssen doch gegen ihre eigenen Tarifverträge angehen . . .
Sommer: Nein, nein
Schröder: . . . und müssen die außer Kraft setzen, damit eine Gleichbehandlung hergestellt wird. Wie wollen Sie das sonst schaffen?
Sommer: Wir müssen eine Regelung machen. Und da gilt der Grundsatz: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Wenn die Firma XY an den Betrieb jemanden ausleiht, dann muss der mindestens nach einer kurzen Einarbeitungszeit gleich behandelt werden wie derjenige, der in dem Stammbetrieb ist.
Schröder: Wie wollen Sie das erreichen?
Sommer: Durch Tarifverträge, durch Betriebsvereinbarungen, durch Einflussnahme auf den Entleihbetrieb, also auf den Betrieb, der Arbeitskräfte entleiht, der tatsächlich dann welche nimmt.
Schröder: Was hindert Sie denn daran, solche Tarifverträge abzuschließen?
Sommer: Wir tun es ja. Im Zuge der Leiharbeitskampagne haben wir das generell gemacht. Wir bräuchten diese Einzeltarifverträge nicht abzuschließen, wenn wir gesetzlich regeln würden durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, dass in dem Moment, wo jemand entliehen ist, der Tarifvertrag gilt, der in dem Betrieb angewandt werden muss. Dann ist die Sache von vorneherein geregelt.
Schröder: Aber ist nicht auch ein Teil der Wahrheit, dass Ihnen schlicht die Durchschlagskraft fehlt, um solche Tarifverträge durchzusetzen?
Sommer: Ach, auf den Punkt wollen Sie? Ja, wir haben zum einen sehr unterentwickelte Organisationen, gerade bei Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern selbst, das ist richtig. Aber für die Entleihbetriebe, da haben wir schon die tarifvertragliche Mächtigkeit, durchzusetzen, dass da etwas passiert. Sonst hätte die IG Metall diese Tausenden von Tarifverträgen übrigens auch nicht abschließen können, wo wir die Entleihbedingungen in den Betrieben regeln.
Schröder: Sie sagen, für die Leiharbeitsbranche brauchen Sie Mindestlöhne, um das Tarifsystem abzusichern, weil die Gewerkschaften es aus eigener Kraft nicht mehr schaffen. Es gibt andere Branchen, in denen fordern Sie auch Mindestlöhne. Sehen sie da Chancen, das bei der Bundesregierung durchzusetzen? Finden sie da Gehör?
Sommer: Zum einen hat die Forderung nach Mindestlöhnen nicht nur etwas mit mangelnder gewerkschaftlicher Kraft zu tun, sondern teilweise auch zum Beispiel mit der mangelnden Tarifbindung von Arbeitgebern. Ich glaube schon, dass es Chancen gibt, auch diese Regierung davon zu überzeugen, dass man spätestens mit Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit 2011 in Europa zu Mindestarbeitsbedingungen kommt, die durch Gesetz geregelt sind. Das heißt, dass Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden nach dem Entsendegesetz. Die Alternative wäre - das wäre die bessere - ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn. Das wäre sicherlich schwieriger durchzusetzen als der Punkt, den ich Ihnen da eben genannt habe. Es war erst mal ein Fortschritt in der Koalitionsvereinbarung, dass sie gesagt haben, wir kippen nicht die bestehenden Mindestlohntarifverträge. Wir sind jetzt in der Phase, wo wir gucken müssen, ob das, was jetzt ausgehandelt worden ist, zum Beispiel Gebäudereiniger, ob das jetzt tatsächlich für allgemeinverbindlich erklärt wird. Wir sind da sehr dahinter her und ich hoffe auch, dass es da die notwendige Einsicht bei der Arbeitsministerin und bei der Bundesregierung insgesamt gibt.
Schröder: Die FDP aber bremst.
Sommer: Die bremst noch, sehr intensiv sogar. Ich weiß das auch, und es gibt Teile in der Union, die versuchen, es trotzdem flottzukriegen, die wir da auch massiv unterstützen. Aber von Seehofer angefangen bis zu Westerwelle - bei der Kanzlerin glaube ich sowieso, dass man da eher auf Einsicht hoffen kann - werden die feststellen, dass, je näher der Termin 1. Mai 2011 kommt, das heißt die volle Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die aus Osteuropa entsandt werden - niemand hat etwas dagegen, dass die hier herkommen, sondern die Frage ist, zu welchen Bedingungen die arbeiten - dass das den sozialen Druck erhöhen wird und dass das auch zu einer Einsicht und zu einer Umkehr bei der Bundesregierung führen wird. Ich hoffe es jedenfalls sehr.
Schröder: Herr Sommer, ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch.
Sommer: Bitte schön.