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Liz Kessler: "Als die Welt uns gehörte"
Was Menschen Menschen antun können

Drei Volksschülerinnen und Volksschüler in Wien - ein unzertrennliches Trio. Doch der Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland 1938 ändert alles. Die britische Autorin Liz Kessler verarbeitet in ihrem dramatischen Holocaust-Roman „Als die Welt uns gehörte“ die eigene Familiengeschichte.

Von Christoph Vormweg |
Liz Kessler: "Als die Welt uns gehörte"
Zu sehen sind ein Foto der Autorin mit ihrem Vater und das Buchcover, auf dem ein stilisiertes Bild eines nächtlichen Parks mit dem Riesenrad des Wiener Praters abgebildet ist.
Liz Kesslers Jugendroman beruht auf der Geschichte ihres Vaters Harry (Cover: S. Fischer Verlage/Foto: privat/Mit freundlicher Genehmigung von Liz und Harry Kessler)
Zufälle spielen in jedem Leben eine Rolle. Für Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind sie deshalb so attraktiv, weil sie unvorstellbare Kettenreaktionen auslösen können: so wie in Liz Kesslers Jugendroman „Als die Welt uns gehörte“. Das Buch beginnt mit einer scheinbar banalen Geschichte: Leo Grünberg darf seinen neunten Geburtstag mit Elsa und Max, seinen besten Freunden, auf dem Riesenrad im Wiener Prater feiern. Übermütig tollt er herum und rempelt aus Versehen ein britisches Touristenpaar an. Sein Vater entschuldigt Leo - und aus der Entschuldigung wird eine Plauderei und die Einladung zu einem Stück Sachertorte.

Eine Zufallsbekanntschaft als Lebensretter

Die Zufallsbekanntschaft rettet dem jüdischen Jungen Leo Jahre später das Leben. Genauso erging es Liz Kesslers Vater, der durch eine Bürgschaft aus England dem Holocaust entkam. Mit anderen Worten: Ohne diese Bürgschaft gäbe es auch nicht die Romane der international so erfolgreichen Kinder- und Jugendbuch-Autorin. Und genau diese Abhängigkeit der eigenen Existenz von einem Zufall ließ Liz Kessler auf Dauer keine Ruhe. Sie wollte wissen, wie Mitte der 1930er-Jahre aus angesehenen Wiener Bürgern in kurzer Zeit angebliche „Untermenschen“ werden konnten. Und so entstand der Roman über ein Trio aus drei neunjährigen Wiener Volksschülern. Leo und Elsa haben jüdische Wurzeln, Max ist der Sohn eines frühen österreichischen Nazis. Zu Anfang, als die Welt für die Kinder noch in Ordnung ist, lässt Elsa die Fahrt auf dem Riesenrad in einem Treueschwur gipfeln:

„'Wir wollen bis in alle Ewigkeit an diesen Tag denken', sage ich und halte jedem von ihnen einen kleinen Finger hin. 'Versprecht, dass wir den Tag nie vergessen, an dem wir die Könige und die Königin von ganz Wien waren.'
Die Jungs grinsen zurück und haken sich in meine kleinen Finger ein. 'Versprochen!', sagen sie einstimmig. Unsere Finger bleiben bis zum Ende der Fahrt eingehakt.“

Zur Erinnerung bekommt jeder der drei einen Abzug des Fotos, das Leos Vater macht und das sie zeitlebens bei sich tragen werden.

Das Trio wird zersprengt

Schon bald reißt der immer stärker werdende Judenhass in Wien die Freunde und die Freundin auseinander. Erst flieht Elsas Familie nach Prag, weil sie sich dort sicherer fühlt. Dann verbietet der Vater Max jeden Kontakt zu jüdischen Kindern, also auch zu Leo. Und schließlich, nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich 1938, dürfen die beiden auch in der Schule nicht mehr miteinander sprechen.

Für Max öffnet der überraschende Umzug nach München neue Perspektiven. Denn sein Vater steigt zum SS-Obersturmführer auf. Er selbst wird Mitglied im Jungvolk.
„In Viererreihen marschierten sie die Straße entlang, so dass sie fast die gesamte Breite des Bürgersteigs einnahmen. Ein Mann, der ihnen entgegenkam, musste ihnen ausweichen. Als er vom Bürgersteig sprang, rief einer der Jungen: 'Stinkender Jude!' Ein anderer hielt sich die Hand vors Gesicht und machte mit den Fingern eine lange Hakennase. Die anderen Jungen lachten. Max zwang sich, mitzulachen. Doch innerlich überkam ihn ein unbehagliches, bebendes Gefühl. Schlimme Dinge über Juden zu sagen war das Einzige, was er an seinem neuen Leben nicht mochte. Und was sie für Dinge sagten – Max hielt sie nicht einmal für richtig. Seine besten Freunde waren Juden gewesen – aber sie hatten keine Hakennasen, und sie stanken auch nicht. “

Erziehung zum Hass

In eingängiger, klarer Prosa beschreibt Liz Kessler Max' schrittweise, vom Vater gesteuerte Abrichtung zur Führungsfigur in der Hitlerjugend. Der neue Halt in der Gruppe verdrängt die Erinnerung an seine Freunde aus Kindheitstagen. Auch für Leo rückt die Vergangenheit nach der geglückten Flucht in den Hintergrund. Doch auch seine neuen englischen Mitschüler meiden ihn. Für sie gehört Leo zum Feind:

„Daheim in Wien hatten uns alle gehasst, weil wir Juden waren. Hier hassten sie mich, weil mich mein Akzent verriet. Würde es jemals einen Ort geben, wo ich dazu passte und wo man mich um meiner selbst willen akzeptierte?“

„Als die Welt uns gehörte“ ist ein psychologisch einfühlsamer, verstörender, hoch dramatischer Jugendroman. Als allwissende Erzählerin spielt sich Liz Kessler nicht auf. Für jede Perspektive hat sie eine eigene stilistische, die Erzähldynamik steigernde Lösung gefunden. Die beiden von den Nazis verfolgten jüdischen Jugendlichen erzählen ihr Leben aus der Ich-Perspektive: Leo, der Überlebende, rückblickend im Präteritum, Elsa, die ins Vernichtungslager Auschwitz Deportierte, im dramatisierenden Präsens. Der Werdegang von Max dagegen wird aus der personalen Erzählperspektive dargestellt und so auf Distanz gehalten. Denn die extreme Unmenschlichkeit, zu der er erzogen wird, erlaubt keine Nähe.

Eine bildstarke Schreibweise

Für ihren Roman hat Liz Kessler, wie sie in einem Interview sagte, etliche historische Darstellungen der systematischen Judenvernichtung im Dritten Reich gelesen sowie Museen und KZ-Gedenkstätten besucht. In präzis ausgearbeiteten Szenen führt sie die alltäglichen, sich immer weiter verschärfenden Momente der Demütigung und Entrechtung der Jüdinnen und Juden schonungslos realistisch vor Augen. Ihre schriftstellerische Klasse demonstriert sie vor allem mit einer visuellen, bildstarken Schreibweise, die das Drehbuch quasi mitliefert. Liz Kesslers beklemmender Jugendroman führt vor, was Menschen Menschen antun können, und ist zugleich ein intensives, zwiespältiges Nachdenken über die Macht und Ohnmacht von Freundschaft.
Liz Kessler: „Als die Welt uns gehörte“
Aus dem Englischen von Eva Riekert
Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag, Frankfurt a. M. 304 Seiten,  17 Euro, ab 12 Jahren.