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Sie wollen gehen - aber sie sollen bleiben

Die irakische Flüchtlingskrise gilt als eine der schlimmsten der Welt. In diesem Zusammenhang werden die Diskussionen in Deutschland über eine bevorzugte Aufnahme christlicher Flüchtlinge im Irak aufmerksam verfolgt. Christliche Politiker in dem Land sehen den Exodus von Christen aus dem Irak eher kritisch.

Von Carsten Kühntopp |
    Im Nordosten des Irak. Zur türkischen Grenze sind es vielleicht fünfzig Kilometer, Iran ist ebenfalls nicht weit. Das Dorf Tineh am Fuß einer Bergkette. 22 Familien leben hier, christliche Familien, also entweder Chaldäer oder Assyrer; in diesem Teil des Landes bei Amadiye liegen mehrere christliche Dörfer. Die Häuser in Tineh gleichen Schuhkartons, eines sieht aus wie das andere, sie stehen in Reih und Glied und sind denkbar einfach: Jede Familie hat ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, Bad und Küche, es gibt Strom und fließendes Wasser. Das ist nicht viel, aber ein festes Dach über dem Kopf ist weit mehr als viele andere Flüchtlinge im Irak haben.

    Ganze zwei Jahre lang haben wir in Zelten gelebt, erzählt Ishaq Patto, dann spendierte die Regierung von Irakisch-Kurdistan die Wohnhäuser. Patto ist der Mukhtar, der Dorfvorsteher von Tineh. Mit seiner Familie kam er direkt nach dem Sturz von Saddam Hussein hierher; in Bagdad ließ er alles zurück. Er hatte Dokumente, die zeigten, dass seine Familie in Tineh stets Land besessen hatte. 2003 nahm Patto dieses Land wieder in Besitz und fing an, es zu bewirtschaften. Der Ertrag reicht gerade so zum Überleben.

    Manche der Familien in Tineh sind aus freien Stücken zurückgekehrt, wie Patto; die meisten, die hier leben, sind allerdings Flüchtlinge, die der Gewalt in anderen Landesteilen entkommen wollten. In dieser Situation retteten sie sich dorthin, wo einst ihre Eltern gelebt hatten. Sliwo Issa Yacoub hatte Tineh 1961 verlassen, in Richtung Bagdad. Damals war er ein kleiner Junge, die Familie floh vor innerkurdischen Auseinandersetzungen, die immer blutiger wurden. Yacoub wuchs in Bagdad auf. Doch vor drei Jahren musste er die Stadt verlassen.

    "Wir hatten Angst, dass unsere Kinder entführt werden würden. Man hätte dann Lösegeld zahlen müssen, und dazu wären wir nicht in der Lage gewesen. Es gab Terror und Entführungen. Also haben wir sie nicht mehr in die Schule geschickt."

    Yacoub sitzt im Wohnzimmer: Häkeldeckchen auf dem Sofa, die Mutter Gottes in Plastik auf dem Fernseher, an der Wand ein schwülstig-goldgerahmtes Bildnis Jesu - alles blitzblank geputzt, hell und aufgeräumt. Yacoub ist Mitte fünfzig und Vater von zwei Kindern. In Bagdad hatte die Familie ein gutes Leben, erzählt er, man besaß zwei Häuser und ein Auto.

    "Hier haben wir keine Arbeit, es gibt keine Jobs. In Bagdad war ich Manager in einem Hotel, etwa 30 Jahre lang. Aber hier bin ich arbeitslos. Es gibt auch ein Problem mit der Sprache: Ich spreche kein Kurdisch."

    Seine Eltern hatten einst aramäisch gesprochen, wie viele irakische Christen, die Sprache Jesu. Doch in Bagdad lernte Yacoub als Kind arabisch und sprach dann nichts anderes mehr. Nun, zurück in Kurdistan, kann er sich kaum verständigen. Doch an eine Rückkehr in die irakische Hauptstadt ist nicht zu denken. Nachbarn achten darauf, dass sein Eigentum dort nicht geplündert wird; alles ist eingepackt und abgesperrt. Aber nach wie vor ist die Lage unsicher. Yacoub berichtet von Drohungen gegen ihn und andere Christen:

    "In bestimmten Vierteln in Bagdad - nicht in allen! - in bestimmten Vierteln wie Dora und Mekanik wurde man bedroht: Entweder ihr konvertiert zum Islam oder ihr zahlt "jaziya", Schutzgeld, oder ihr geht weg! Wer immer das auch macht, ist gewiss kein Iraker. Das ist von außen gekommen, als El Kaida kam. Wir haben 45 Jahre lang in Bagdad gelebt, und niemals hat irgendjemand was gesagt."

    Seit kurzem hat Tineh eine eigene kleine Kirche, sie ist dem Heiligen Georg gewidmet. Der Bau ist ähnlich einfach wie die Wohnhäuser des Dorfes - auch die Kirche ist eine Spende der Regierung von Irakisch-Kurdistan. In Tineh erzählt man sich, dass Massoud Barzani, der Präsident der Autonomieregierung, einst gesagt habe, dass er mit einem Auge nach den Kurden schaue und mit dem anderen nach den Christen. Irakisch-Kurdistan ist zu einem Refugium für christliche Flüchtlinge geworden. Ohne sie an den Checkpoints lange aufzuhalten, werden sie hereingelassen; muslimische Araber haben es längst nicht so leicht, sich in Kurdistan vor der Gewalt in Sicherheit zu bringen.

    Zu wissen, dass man willkommen ist, tut den Christen von Tineh gut. Eine katholische Nichtregierungsorganisation schenkte ankommenden Flüchtlingen vier Schafe pro Familie, zusammen mit einem Flugblatt mit wichtigen Ratschlägen für eine sachgerechte Haltung der Tiere. Eine Zeitlang unterstützte die Autonomieregierung jede Flüchtlingsfamilie mit einhundert US-Dollar im Monat. Doch nun gibt es nur noch die Hälfte, bestenfalls. Fünfzig Dollar - davon kann man auch im Irak nicht überleben, sagt Sliwo Issa Yacoub.

    "Wir haben in Bagdad etwas gespart - irgendwie überleben wir - manchmal helfen uns einige Organisationen - bis wir Arbeit finden und bis man vielleicht hier Fabriken öffnen wird, in denen wir arbeiten können."

    An dieser Stelle greift Yacoubs Frau in das Gespräch ein, Sana Polos heißt sie. Sie will weggehen, wegen der Kinder, sagt sie.

    "Ich will, dass ihr Leben besser wird, denn mit dem Leben hier bin ich nicht zufrieden. Früher lebte ich in der Hauptstadt - dann kam ich hierher, das ist so anders! Die Kinder haben Totschlag, Krieg und Zerstörung erlebt - ich will einfach nur, dass sie aus dem Land gehen, um ein anderes Leben zu haben. Der Mensch lebt nur einmal. Wieso haben wir denn Bagdad verlassen? Wir wollten einfach nur Sicherheit haben, weil wir Angst hatten, dass man die Kinder entführen würde! Das Wichtigste sind die Kinder."

    Wenige Kilometer von Tineh entfernt liegt Aradin. Auch Aradin ist ein verschlafenes kleines Christen-Dorf. Von den Fertighäusern, die die Regierung den Menschen in Tineh geschenkt hat, kann Yehoshua Yacoub nur träumen; mit Sliwo Issa Yacoub in Tineh ist er nicht verwandt. Yehoshua Yacoub wohnt auf engstem Raum in einer Hütte, zusammen mit seiner Frau und fünf halbwüchsigen Kindern. Von der Decke des Raumes, der als Wohnzimmer dient, hängt eine nackte Glühbirne, das Sofa ist schmuddelig und durchgesessen, die Wände dreckig-gelb, als Tischchen für den Tee hält ein Plastikhocker her. Yacoub ist Kalligraph von Beruf - dass er also Künstler ist, macht das Leben nicht leichter, und dass ihn die Hilfe der Autonomieregierung bisher nicht erreicht hat, erst recht nicht.

    "Es gibt nur Versprechungen. Jeder steckt das Geld in die eigene Tasche. Es sind jetzt vier Jahre, aber von der Sozialversicherung ist noch immer nichts gekommen. Von den Hilfsgütern erhalten wir etwas, aber es ist das, was schlecht geworden ist. Selbst Tiere würden das nicht essen. Das gute Zeugs verkaufen sie und geben uns dann das schlechte."

    Yacoub hat keine Zweifel: Zurück nach Bagdad zu gehen, das kommt für ihn nicht in Frage. Er berichtet von einem Verwandten, der versuchte, in die irakische Hauptstadt zu gelangen, um dort eine Pension zu kassieren. Auf dem Weg dorthin verschleppten ihn Männer in Uniform und ließen ihn erst dann wieder gehen, als er die Zahlung von 50.000 US-Dollar Lösegeld arrangierte. Yacoub sitzt in Kurdistan fest. Besonders schwierig sei die Lage für die Jüngeren, wirft einer von Yacoubs Söhnen ein. Er heißt Hans und ist arbeitslos.

    "Ich bin 23 Jahre alt, und ich will heiraten und eine Zukunft aufbauen. Aber dafür habe ich kein Geld. Wir haben keine Arbeit und keinen Anspruch auf irgendwas. Jeder kümmert sich nur um sich selbst."

    Mit einem gequälten Lächeln im Gesicht fügt Hans' Vater hinzu: Bei uns müssen die jungen Leute eintausend Jahre alt werden, weil sie erst dann genug Geld für eine Hochzeit zusammen haben! Auch Hans' Freund Iwan ist arbeitslos. In Bagdad verdiente er als Blumenhändler sein Geld; vor zwei Jahren floh er mit seinen Eltern nach Kurdistan.

    "Wir sind aus Bagdad weggelaufen, weil unsere Eltern sich um unsere Zukunft sorgten. Aber hier haben wir dieselbe Situation: Keine Arbeit, keine Hoffnung, nichts. Dort gab es die Angst vor Entführungen, hier gibt es eine andere Angst."

    "Seit wir geboren wurden, haben wir immer nur Totschlag, Explosionen, Kriege und Zerstörung gesehen, nichts anderes. Seit wir kleine Kinder sind, hat es für uns nie etwas anderes gegeben. "

    Wer im Irak heute 15, 20 oder 30 Jahre alt ist, hat nur Krisen und Kriege erlebt: Der irakisch-iranische Krieg in den achtziger Jahren, die Kuwait-Invasion 1990 mit den darauffolgenden drakonischen Sanktionen der Vereinten Nationen, der Sturz Saddam Husseins 2003, der zum Bürgerkrieg führte. Auch Hans und Iwan träumen davon, den Irak verlassen zu können, um ihr Glück in Europa oder Nordamerika zu versuchen.

    Die irakische Flüchtlingskrise gilt als eine der schlimmsten der Welt, schlimmer noch als die sudanesische. Experten schätzen, dass mittlerweile fast fünf Millionen Iraker ihren Wohnort verlassen haben, um sich vor der Gewalt in Sicherheit zu bringen, das ist fast ein Iraker von fünf. Etwa die Hälfte davon sind Binnenflüchtlinge, die anderen gingen ins Ausland, vor allem nach Syrien und Jordanien. Diese beiden Länder haben Enormes geleistet, um den Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf zu geben und sie mit dem Nötigsten zu versorgen. Allgemein gilt nach Auffassung von Fachleuten: Je kleiner eine Minderheit im Irak ist, desto gefährdeter ist sie. Das bedeutet, dass die irakischen Christen verwundbar sind; doch es gibt Minderheiten, die weitaus kleiner und deshalb noch gefährdeter sind.

    Yonadam Kanna beobachtet die Lage ganz genau. Kanna ist einer von zwei christlichen Abgeordneten im irakischen Parlament. Der Auffassung, dass vor allem oder ausschließlich Christen das Ziel von Gewalttätern seien, widerspricht er.

    "Ja, sicher, es gab sehr fanatische, extreme Gewalt auf sunnitischer Seite von den Bin Ladens, von den El-Kaida-Terroristen; als sie in Ramadi geschlagen wurden, gingen sie nach Süd-Bagdad und nach Mosul. Aber grundsätzlich ist jeder Iraker unter diesem Druck der Gewalttäter, jeder Iraker ist von dieser Gewalt bedroht - nur nicht die drei Provinzen der Kurdischen Regionalregierung. Sicherlich gab es auch Gewalt, die sich speziell gegen Christen richtete. Doch es ist keine Lösung, uns einfach aus dem Land zu ziehen."

    Der christliche Abgeordnete Kanna ist nicht gut zu sprechen auf Menschenrechtsaktivisten in Deutschland, die vor einigen Wochen mit der alarmierenden Botschaft an die Öffentlichkeit gegangen waren, die irakischen Christen würden zum Opfer gezielter ethnischer Säuberungen. Dies stimme so nicht, sagt Kanna.

    "Wenn es ethnische Säuberungen gibt, dann müssen Sie mir helfen, mich dem zu widersetzen - anstatt indirekt demjenigen zu helfen, der die ethnische Säuberung ausführt. Genau das passiert aber: Wenn Sie mir sagen "Komme nach Europa", dann unterstützen Sie den, der gerade solchen Druck auf mich ausübt. Sie helfen den Fanatikern und Extremisten, mich aus dem Land zu verjagen! Stattdessen müssen Sie in die andere Richtung wirken!"

    Die Diskussionen in Deutschland und auf europäischer Ebene über eine bevorzugte Aufnahme christlicher Flüchtlinge wurden im Irak aufmerksam verfolgt. Mit vollendeter arabischer Höflichkeit betont Kanna zunächst, welch großen Respekt er für deutsche Spitzenpolitiker habe - doch dann holt er aus.

    "Wir waren von dieser sogenannten humanitären Geste sehr enttäuscht. Dies zerstört uns, es saugt die Christenheit aus dem Land. Sicherlich wissen wir es zu schätzen, dass Deutschland zu Saddams Zeiten so vielen Menschen eine Zuflucht war - und zwar nicht nur Christen. Aber heute bitten wir um Hilfe dabei, Frieden und Stabilität herzustellen, damit hunderttausende Familien wieder in das Land zurückkommen. Als Deutsche geben Sie ein schlechtes Beispiel ab, wenn Sie so für Christen voreingenommen sind. Das ist auch schlecht für Europa, denn eigentlich ist Europa säkular, und es spielt dort keine Rolle, welchem Volk oder welcher Religion jemand angehört."

    Niemand weiß genau, wie viele Christen noch im Irak leben. Yonadam Kanna vermutet, dass es derzeit noch 700.000 sind. Seit Ende der achtziger Jahre habe fast jeder zweite irakische Christ das Land verlassen. Bischof Raban al-Kas hingegen vermutet derzeit noch eine halbe Million Christen im Irak; al-Kas betreut die beiden Diözesen Erbil und Amadiye. Er sagt, vor dem Krieg hätten noch 750.000 Christen im Land gelebt, etwa einer von dreien sei also gegangen.

    "Das darf nicht sein, dass die Europäer die Christen dazu ermuntern, dieses Land zu verlassen. Denn hier, in dieser Region, sind unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Jetzt müssen wir darauf warten, bis die Tage des Leidens vorbei sind, denn so, wie es jetzt ist, wird es nicht ewig sein. Wir haben viele Christen, die in Syrien und in Jordanien warten. Wenn möglich, sollten die Europäer diesen Menschen helfen, die nun im Ausland leben. - Wer jetzt die Christen aus dem Irak rausholt, der opfert die Geschichte und alles, was die Kirche hier vorher tat - der opfert das Wissen und die Kultur der Christen, die Vergangenheit. Das geht nicht, dass wir all das zurücklassen!"

    Gefragt, ob es ethnische Säuberungen gegen Christen gebe, winkt Bischof al-Kas ab. Allerdings gesteht er ein, dass die Situation für Christen schwierig ist. Von außen sei anti-christlicher Fanatismus in das Land getragen worden.

    "Der islamische Fanatismus ist von außen zu uns gekommen, aus Saudi-Arabien, Afghanistan oder Pakistan. Von dort kamen sie in unser Land, Leute, die gegen die Christen sind - aber die irakische Bevölkerung selbst ist nicht gegen die Christen."

    Irakische Politiker und der Klerus sind sich einig: Sollte Europa jetzt die Tore für christliche Flüchtlinge aus dem Irak öffnen, wäre das Christentum im Zweistromland am Ende. Der Irak - ein Land, in dem das Christentum uralt ist - wäre plötzlich rein muslimisch.

    Im Dorf Tineh, einem der zahlreichen christlichen Dörfer im irakisch-türkisch-iranischen Dreiländereck, verfängt diese Argumentation nicht. Sliwo Issa Yacoub, der arbeitslose Hotelmanager, glaubt, dass die Kirchenführer ganz anders sprechen würden, wenn sie so leben müssten wie die Flüchtlinge.

    "Die ersten, die gingen, waren die Geistlichen! Sie wollen jetzt verhindern, dass die Menschen weggehen, aber sie waren die ersten, die gingen! Wo sind sie denn jetzt alle? Sie kehrten Bagdad und Basra den Rücken und sitzen nun in einem schönen Vorort von Erbil oder in Frankreich oder Kanada. Ihnen wird gewiss nichts passieren! Sicherlich, einige von ihnen sind gute Menschen, die hiergeblieben sind und sich aufopfern, aber das sind nur wenige."

    Ihm wäre es lieber, sein Land nicht zu verlassen, sagt Yacoub, doch seine Frau träumt davon, wegzugehen. Die Sorge um ein drohendes Ende des Christentums im Irak ist ihr zu weltfremd, zu akademisch.

    "Nach allem, was wir erlebt haben, haben wir kein Verlangen mehr, im Irak zu bleiben. Sie haben die Kirchen zerstört, sie haben Christen getötet - wir haben einfach keinen Wunsch mehr, hierzubleiben."