Die noch immer treffendste Formel für das 20. Jahrhundert stammt von dem großen britischen Historiker Eric Hobsbawm. Er sprach, in seiner klassischen Analyse, von einem Zeitalter der Extreme, das mit dem Ersten Weltkrieg begann und mit dem Zusammenbruch des Kommunismus ein Ende fand. Zwischen diesen beiden Schlüsseldaten lagen mehr als sieben Jahrzehnte voller Gewalt; ein vergleichsweise kurzer Zeitraum, in dem aber mehr Menschen durch Krieg, Bürgerkrieg, Vernichtung oder Vertreibung ums Leben gekommen sind als jemals zuvor in der Geschichte. Überall auf der Welt wurden Krieg und massenhafter Tod zu einer bestimmenden Erfahrung, zeigt der Historiker Hans-Heinrich Nolte in seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Am radikalsten natürlich in Europa, entfacht durch die schrecklichen imperialen Großmachtträume, des Wilhelminischen Kaiserreichs, der Nationalsozialisten und der russischen Revolutionäre. Bereits in den Anfängen der sozialistischen und angeblich besseren Gesellschaft findet Nolte die Wurzeln für die späteren stalinistischen Verbrechen.
"Politisch zeigte sich sehr schnell, dass die fehlende Kontrolle der Mächtigen, das Aufheben der anderen Parteien, das Schließen der konstituierenden Versammlung 1918 durch Lenin, dass diese fehlende Kontrolle der Mächtigen auch schnell Massenverbrechen ermöglicht hat und damit auch politisch und legitimatorisch den sozialistischen Versuch unmöglich gemacht hat."
Trotzdem vergingen über 70 Jahre bis zum Zerfall der Sowjetunion und allen, mit ihrer dominierenden machtpolitischen Existenz verbundenen Versuchen, eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. Das Jahr 1917 ist damit ein Schlüsseljahr in der globalen Geschichte des 20. Jahrhunderts. In seiner Konsequenz vielleicht sogar noch folgenreicher als der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Mit der russischen Revolution begann die Teilung der Welt in große ideologische Lager, die die geopolitische Ordnung fast bis zum Ende des Jahrhunderts bestimmen sollte. Erst im Zweiten Weltkrieg, dann im Kalten Krieg, dessen Nachwirkungen heute noch im Konflikt zwischen Nord- und Südkorea zu spüren sind. Ein zweites global folgenreiches Ereignis fällt ebenfalls in das Jahr 1917: Der Kriegseintritt der USA, als Reaktion auf den uneingeschränkten U-Boot-Krieg der deutschen Marine. Erstmals griffen die Vereinigten Staaten, längs schon die wirtschaftliche Führungsmacht der Welt, in einen geopolitischen Konflikt ein. Für Hans-Heinrich Nolte markiert dieser militärische Schritt den Auftakt zum Aufbau einer Weltordnung nach amerikanischen Vorstellungen. Das Völkerbundprojekt von Präsident Wilson wurde nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in genau dieser Absicht konzipiert, scheiterte aber an der Weigerungshaltung etlicher europäischer Staaten, darunter England, Frankreich und schließlich der Sowjetunion.
"Die Vereinigten Staaten konnten dieses Konzept ohne Einschränkung eigentlich erst 1989/91 also mit dem Sturz der Sowjetunion durchsetzen. Und insofern ist das 20. Jahrhundert gekennzeichnet dadurch, dass die Vereinigten Staaten ökonomisch, politisch, auch nach der 'soft power', also nach dem Einfluss auf den Medienmärkten, nach dem Einfluss auf dem Bild, was sich die Menschen von der Welt machten – Hollywood nur als terminus technicus – schon die Welt bestimmt haben. Aber sie konnten diese hegemoniale Position gegenüber den Mächten, die sich auf autarke Großräume zurückziehen wollten oder konnten, nicht durchsetzen."
Im Grunde genommen sind die großen historischen Linien des vergangenen Jahrhunderts allein schon aufgrund ihrer zeitlichen Nähe bekannt. Verglichen mit welthistorischen Analysen früherer Epochen bietet ein Rückblick auf die globale Geschichte der Jahre zwischen 1900 und 2000 daher kaum die Möglichkeit, allzu große neue Sichtweisen und Erkenntnisse zu verkünden. Schon gar nicht, wenn er in einer so komprimierten Form zusammengefasst wird wie von Hans-Heinrich Nolte. Auf gut 400 Seiten schildert er die Grundzüge vor allem der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Welt im 20. Jahrhundert, widmet sich Nationsbildungen und militärischen Bündnissen wie der NATO und dem Warschauer Pakt, beschreibt zentrale Phänomene wie Religion, Fundamentalismus, Gewalt und Genozid. Das Ganze allerdings in einem weitgehend handbuchartigen Stil, der eigentlich keinen Platz für eine ausführliche historische Erzählung und eine grundlegende These lässt. Dafür wiederum finden sich Themenfelder wie die technische Beschleunigung oder die Umweltzerstörung. Letztere ebenfalls mit einer Bilanz, die an das Wort vom Zeitalter der Extreme erinnern lässt.
"Wir haben die Natur behandelt, über Jahrhunderte hinweg, als die große Mutter, die alles kann und alles hat und der man alles nehmen kann. Und das eben wird doch mittlerweile eingesehen, ist nicht möglich. Es gibt auch Lernbeispiele. Die Frage ist wirklich: Wird so viel gelernt, dass es etwas nutzt?"
Ein Grundmotiv in diesem Buch über die globale Geschichte des 20. Jahrhunderts bildet das lange Ringen um eine dauerhafte und zukunftsweisende Weltordnung, beginnend mit dem Zerfall der alten europäischen Staatenwelt im Ersten Weltkrieg und den Träumen der Amerikaner, die Welt sicherer zu gestalten. Ein globales, demokratisch verfasstes System ist auch am Anfang des folgenden Jahrhunderts noch immer ein unvollendetes Projekt, trotz der immer größeren Rolle der Vereinten Nationen. Angesichts der großen Probleme wie der weltweiten Armut, dem Klimawandel oder dem neuen Terrorismus wäre eine Weltregierung wichtiger denn je, so Hans-Heinrich Nolte. Allzu große Hoffnung auf ihre Verwirklichung hegt er nicht.
"Die hat deswegen eine geringe Chance, weil die Nationalstaaten dazu da sind, den Vorteil der jeweiligen Bürger zu sichern. Solange sie das tun, werden die wichtigsten und führenden Staaten einer solchen Stärkung der Vereinten Nationen nicht zustimmen. Das ist ja leider auch die Politik der Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten gewesen. Solange sie das nicht tun, bestehen wenige Chancen. Denn dann wird erst auf eine Katastrophe reagiert werden."
Insgesamt bietet diese Weltgeschichte des 20. Jahrhundert wenig Neues. Sie ist vielmehr eine Zusammenfassung etlicher Forschungen, geschrieben in einer konventionellen politikgeschichtlichen Perspektive. Neuere Bücher zu einzelnen Themen dieser Weltgeschichte gehen deutlich darüber hinaus, etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, Bernd Stöwers große Geschichte des Kalten Krieges, die sich eben nicht nur auf die politischen Dimensionen der beiden Blöcke beschränkt, sondern auch grundlegend die kulturellen Phänomene dieser Teilung der Welt in den Blick rückt. Vom Siegeszug der Massenkultur, nicht nur in Europa und den USA, sondern auch in Indien, über veränderte Mentalitäten in einem Zeitalter der Beschleunigung bis hin zum Lebenswandel in der digital vernetzten Freizeitgesellschaft gäbe es noch etliche spannende Anhaltspunkte für eine noch umfassendere Geschichte der sich rapide verändernden Welt im 20. Jahrhundert. Und damit für eine Geschichte, die eben nicht nur weitgehend politische und wirtschaftliche Grundlinien resümiert.
Hans-Heinrich Nolte: "Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts", Böhlau-Verlag, Wien, Köln und Weimar, 444 Seiten, Euro 29,90.
"Politisch zeigte sich sehr schnell, dass die fehlende Kontrolle der Mächtigen, das Aufheben der anderen Parteien, das Schließen der konstituierenden Versammlung 1918 durch Lenin, dass diese fehlende Kontrolle der Mächtigen auch schnell Massenverbrechen ermöglicht hat und damit auch politisch und legitimatorisch den sozialistischen Versuch unmöglich gemacht hat."
Trotzdem vergingen über 70 Jahre bis zum Zerfall der Sowjetunion und allen, mit ihrer dominierenden machtpolitischen Existenz verbundenen Versuchen, eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. Das Jahr 1917 ist damit ein Schlüsseljahr in der globalen Geschichte des 20. Jahrhunderts. In seiner Konsequenz vielleicht sogar noch folgenreicher als der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Mit der russischen Revolution begann die Teilung der Welt in große ideologische Lager, die die geopolitische Ordnung fast bis zum Ende des Jahrhunderts bestimmen sollte. Erst im Zweiten Weltkrieg, dann im Kalten Krieg, dessen Nachwirkungen heute noch im Konflikt zwischen Nord- und Südkorea zu spüren sind. Ein zweites global folgenreiches Ereignis fällt ebenfalls in das Jahr 1917: Der Kriegseintritt der USA, als Reaktion auf den uneingeschränkten U-Boot-Krieg der deutschen Marine. Erstmals griffen die Vereinigten Staaten, längs schon die wirtschaftliche Führungsmacht der Welt, in einen geopolitischen Konflikt ein. Für Hans-Heinrich Nolte markiert dieser militärische Schritt den Auftakt zum Aufbau einer Weltordnung nach amerikanischen Vorstellungen. Das Völkerbundprojekt von Präsident Wilson wurde nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in genau dieser Absicht konzipiert, scheiterte aber an der Weigerungshaltung etlicher europäischer Staaten, darunter England, Frankreich und schließlich der Sowjetunion.
"Die Vereinigten Staaten konnten dieses Konzept ohne Einschränkung eigentlich erst 1989/91 also mit dem Sturz der Sowjetunion durchsetzen. Und insofern ist das 20. Jahrhundert gekennzeichnet dadurch, dass die Vereinigten Staaten ökonomisch, politisch, auch nach der 'soft power', also nach dem Einfluss auf den Medienmärkten, nach dem Einfluss auf dem Bild, was sich die Menschen von der Welt machten – Hollywood nur als terminus technicus – schon die Welt bestimmt haben. Aber sie konnten diese hegemoniale Position gegenüber den Mächten, die sich auf autarke Großräume zurückziehen wollten oder konnten, nicht durchsetzen."
Im Grunde genommen sind die großen historischen Linien des vergangenen Jahrhunderts allein schon aufgrund ihrer zeitlichen Nähe bekannt. Verglichen mit welthistorischen Analysen früherer Epochen bietet ein Rückblick auf die globale Geschichte der Jahre zwischen 1900 und 2000 daher kaum die Möglichkeit, allzu große neue Sichtweisen und Erkenntnisse zu verkünden. Schon gar nicht, wenn er in einer so komprimierten Form zusammengefasst wird wie von Hans-Heinrich Nolte. Auf gut 400 Seiten schildert er die Grundzüge vor allem der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Welt im 20. Jahrhundert, widmet sich Nationsbildungen und militärischen Bündnissen wie der NATO und dem Warschauer Pakt, beschreibt zentrale Phänomene wie Religion, Fundamentalismus, Gewalt und Genozid. Das Ganze allerdings in einem weitgehend handbuchartigen Stil, der eigentlich keinen Platz für eine ausführliche historische Erzählung und eine grundlegende These lässt. Dafür wiederum finden sich Themenfelder wie die technische Beschleunigung oder die Umweltzerstörung. Letztere ebenfalls mit einer Bilanz, die an das Wort vom Zeitalter der Extreme erinnern lässt.
"Wir haben die Natur behandelt, über Jahrhunderte hinweg, als die große Mutter, die alles kann und alles hat und der man alles nehmen kann. Und das eben wird doch mittlerweile eingesehen, ist nicht möglich. Es gibt auch Lernbeispiele. Die Frage ist wirklich: Wird so viel gelernt, dass es etwas nutzt?"
Ein Grundmotiv in diesem Buch über die globale Geschichte des 20. Jahrhunderts bildet das lange Ringen um eine dauerhafte und zukunftsweisende Weltordnung, beginnend mit dem Zerfall der alten europäischen Staatenwelt im Ersten Weltkrieg und den Träumen der Amerikaner, die Welt sicherer zu gestalten. Ein globales, demokratisch verfasstes System ist auch am Anfang des folgenden Jahrhunderts noch immer ein unvollendetes Projekt, trotz der immer größeren Rolle der Vereinten Nationen. Angesichts der großen Probleme wie der weltweiten Armut, dem Klimawandel oder dem neuen Terrorismus wäre eine Weltregierung wichtiger denn je, so Hans-Heinrich Nolte. Allzu große Hoffnung auf ihre Verwirklichung hegt er nicht.
"Die hat deswegen eine geringe Chance, weil die Nationalstaaten dazu da sind, den Vorteil der jeweiligen Bürger zu sichern. Solange sie das tun, werden die wichtigsten und führenden Staaten einer solchen Stärkung der Vereinten Nationen nicht zustimmen. Das ist ja leider auch die Politik der Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten gewesen. Solange sie das nicht tun, bestehen wenige Chancen. Denn dann wird erst auf eine Katastrophe reagiert werden."
Insgesamt bietet diese Weltgeschichte des 20. Jahrhundert wenig Neues. Sie ist vielmehr eine Zusammenfassung etlicher Forschungen, geschrieben in einer konventionellen politikgeschichtlichen Perspektive. Neuere Bücher zu einzelnen Themen dieser Weltgeschichte gehen deutlich darüber hinaus, etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, Bernd Stöwers große Geschichte des Kalten Krieges, die sich eben nicht nur auf die politischen Dimensionen der beiden Blöcke beschränkt, sondern auch grundlegend die kulturellen Phänomene dieser Teilung der Welt in den Blick rückt. Vom Siegeszug der Massenkultur, nicht nur in Europa und den USA, sondern auch in Indien, über veränderte Mentalitäten in einem Zeitalter der Beschleunigung bis hin zum Lebenswandel in der digital vernetzten Freizeitgesellschaft gäbe es noch etliche spannende Anhaltspunkte für eine noch umfassendere Geschichte der sich rapide verändernden Welt im 20. Jahrhundert. Und damit für eine Geschichte, die eben nicht nur weitgehend politische und wirtschaftliche Grundlinien resümiert.
Hans-Heinrich Nolte: "Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts", Böhlau-Verlag, Wien, Köln und Weimar, 444 Seiten, Euro 29,90.