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Siena rennt

Der Palio ist eines der kürzesten und härtesten Pferderennen der Welt. Es wird auf dem Piazza del Campo in Siena ausgetragen und dauert mitunter nicht einmal eine Minute. Im Rennen zu Ehren der Jungfrau Maria treten die 17 Stadtteile Sienas gegeneinander an. Der holländische Filmemacher John Appel hat nun einen Film über dieses spektakuläre Rennen gemacht.

Von Katja Lückert |
    Nicht nur deutsche Touristen, sondern Reisende aus aller Welt werden auch in diesem Sommer eines der spannendsten, aber auch brutalsten Pferderennen der Welt - den Palio im toskanischen Städtchen Siena erleben.
    Doch nur, wer eine Weile unter Sienesen gelebt hat, kann ermessen, was dieses nur hundertsekündige Rennen, das um die mit Tuff belegte, berühmte muschelförmige Piazza del Campo führt, wirklich bedeutet. Der holländische Filmemacher John Appel hat ein Stadtviertel – in Siena heißen sie Contraden - besucht, das schon viele Jahre keinen Palio mehr gewonnen hat, und dessen Bewohner um so verzweifelter auf den Sieg hoffen. Der 91-jährige Egidio lebt seit seiner Geburt in dieser Contrada della Civetta, also dem kleinsten Stadtviertel von Siena, dessen Wappentier, die Eule ist.

    "Wenn ich nur noch einmal bevor ich sterbe, erleben dürfte, dass unsere Contrada Civetta gewinnt, das wäre so schön, dass man es nicht beschreiben kann, so schön."

    Dabei ist es nicht leicht, diese besondere Spezies der ansonsten recht offenherzigen und gastfreundlichen Italiener dazu zu bewegen, einen mitzunehmen in die hermetische Welt der Contrada. Hier zeigt sich, dass der Palio, der seit dem Mittelalter zweimal jährlich – nämlich am 2. Juli und am16. August gefeiert wird, nicht in der Gefahr steht zu einem überwiegend folkloristischen Ereignis zu verkommen, wie etwa der venezianische Karneval.

    "Die Contrada ist wie eine große Familie, alle zusammen sorgen für das Notwendige. Jeder hat eine Aufgabe, die er natürlich ehrenamtlich versieht – denn in der Contrada wird niemand bezahlt."

    In einer Contrada zu leben, heißt zutiefst patriotisch zu sein, allerdings nur bezogen auf einen sozialen Mikrokosmos: Das eigene Stadtviertel mit seinen Gassen, den Hinterhöfen, dem Gemeindehaus, den Gärten und der eigenen Kirche. Dort wohin sich Fremde selten verirren, blüht eine besonders enge Form des nachbarschaftlichen Miteinanders, das auf die eine oder andere Weise während des ganzen Jahres auf die Vorbereitung des sommerlichen Pferderennens ausgerichtet ist. Da gilt es einen geeigneten Fantino zu finden: Meist verdingen sich sardische oder süditalienische Jockeys für nicht geringe Summen beim Palio in Siena, allerdings riskieren sie bei dem teuflischen Rennen auf ungesattelten Pferden jedes Mal ihr Leben. Nicht selten kommen Mensch und Tier zu Schaden, wenn nicht ums Leben – nach den Regeln des Palio gewinnt das Pferd, das nach drei Runden die Ziellinie übertritt – auch ohne seinen Reiter.

    Mädchen: " Ich erwarte, dass wir den Palio gewinnen, denn du ziehst gewissermaßen in den Krieg. Das ist der Krieg auf der Piazza del Campo. Die Liebe für die Contrada bringt man uns schon von klein auf nahe, als eine Sache, die zu uns gehört – sie bringen uns bei, dass wir zusammengehören, dass wir ein Volk sind und dass wir 365 Tage im Jahr für das Stadtviertel leben sollen. "

    Bereits die Kinder werden in der Contrada getauft, die Jungen werden in der schwierigen Technik des Fahnenschwingens unterrichtet, ihre Mütter und Großmütter bügeln die Fahnen und die historischen Kostüme.

    John Appel ist es in zum Teil wunderschönen Einstellungen gelungen, die Emotionen der Sienesen und die Archaik, dieses weltweit einzigartigen historischen und zugleich hochlebendigen Pferderennens einzufangen. Allerdings und das ist leider ein unverzeihliches Manko, bildet dieser Dokumentarfilm nur ab. Er zeigt die Freuden und- Enttäuschungstränen, die Hysterie und die Schlachtengesänge – aber er erklärt nichts. Weder, dass für jeden Palio von den 17 Contraden nur zehn ausgewählt werden und zwar sieben davon, die im letzten Lauf nicht von der Partie waren und drei weitere durch das Los ausgewählte.

    Noch von den traditionellen Feindschaften zwischen benachbarten Stadtvierteln oder von den geheimen Absprachen zwischen den Jockeys. Man erfährt nicht, dass die Contraden Mitte des 16. Jahrhunderts, als die Republik Siena fiel, die Aufgabe übernahmen, die sich auflösenden Militärkompagnien zu ersetzen, in dem sie die waffenfähigen Männer zusammenschlossen. Und wer es nicht weiß, kann es nicht ahnen, dass Palio, von lateinisch Pallium, also Tuch kommt und dass das ganze lebensgefährliche Treiben sich um ein zwar jedes Jahr neu gestaltetes Seidenbanner dreht, - aber – um ein Tuch eben, das die siegreiche Contrada nach Hause bringen darf.