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Sigismund Krzyzanowski: "Münchhausens Rückkehr"
Der Lügenbaron in der Sowjetunion

Sigismund Krzyzanowski durfte unter den Sowjets keine Bücher veröffentlichen. Seit den 90ern aber wird sein Werk posthum neu entdeckt. Darunter auch der nun auf Deutsch übersetzte Roman "Münchhausens Rückkehr", in dem Krzyzanowski den Lügenbaron in die Sowjetunion der 20er Jahre reisen lässt.

Von Wolfgang Schneider | 14.01.2019
    Buchcover Sigismund Krzyzanowski: „Münchhausens Rückkehr“ und eine Münchhausen Weihnachtsfigur
    Begnadeter Phantast und Aufschneider: Baron Hieronymus von Münchhausen (Buchcover: Dörlemann Verlag / Hintergrund: picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    Er ist wieder da, der neben Doktor Faust vielleicht markanteste mythische Held der deutschen Literatur: Baron Münchhausen. Und wieder reist er nach Russland. Wir erinnern uns: Damals, im achtzehnten Jahrhundert, erlebte er dort legendäre Abenteuer, etwa jenes mit dem Pferd, das er nach einem anstrengenden Ritt durch den Schnee an einem Pfosten festband, der sich am nächsten Morgen, nach einer ungeheuren Schneeschmelze, als Kirchturmspitze entpuppte.
    Diesmal, im Roman von Sigismund Krzyzanowski, macht sich der Lügenbaron auf ins Reich der sozialistischen Wahrheit. Er erzählt von seinen Erlebnissen in der Sowjetunion der frühen zwanziger Jahre: Der Phantast trifft auf die Utopie. Wie er dorthin hinreist? Eine Kanonenkugel als Transportmittel, das ist mittlerweile veraltet. Der technische Fortschritt bringt jedoch seine Erschwernisse:
    "Eine moderne Granate lässt sich nicht so einfach besteigen wie die schwerfälligen gusseisernen Bomben von früher. Zugegebenermaßen gelang es mir erst nach zwei erfolglosen Versuchen, mich auf den summenden Stahl zu schwingen."
    Kühner Ritt auf einer Granate
    Vor diesem kühnen Ritt auf der Granate gibt es eine längere Vorgeschichte, die in Berlin beginnt. Dort lebt der Baron in der Nähe des Alexanderplatzes und bekommt Besuch von einem deutschen Dichter mit dem schönen Namen Unding. Die beiden führen ein tiefsinniges Gespräch über Schein und Sein, wobei Münchhausen sich erinnert, dass er im Lauf der letzten zweihundert Jahre schon einige solcher Debatten geführt hat, etwa mit dem Romantiker Ludwig Tieck und dem idealistischen Philosophen Fichte, mit dem er über Ich und Nicht-Ich plauderte.

    Bald darauf treffen wir Münchhausen in London wieder. Sein Häuschen in Kensington ist umrankt mit den legendären Superbohnen, auf deren rasant wachsenden Trieben er einst bis zum Mond hinaufgestiegen ist. Deshalb heißt das Haus "das verrückte Bohnen-Cottage". Im Festsaal der Royal Society berichtet der Baron einem begeisterten Publikum schließlich von seinen Erlebnissen in der Sowjetunion. Die konkrete Erzählsituation wird wie bei den originalen Abenteuern des Ur-Münchhausen mit vergegenwärtigt.
    Eine Bücherfressende Dampflokomotive
    Sehr merkwürdig gestaltet sich nach dem Grenzübertritt auf der Granate schon die Weiterreise Richtung Moskau mit einem Zug, der kaum vorankommt. Der Baron stellt fest, dass der Tender der Lokomotive nicht Kohle enthält, sondern Bücher. Das Sinnbild scheint klar: Ins Feuer mit dem alten Denken im Sowjetreich! Aber die Liebe zum Geistigen lässt sich nicht so einfach abschaffen. So erklärt sich aus, warum die Fahrt derart lange dauert. Der Heizer ist nämlich ein ehemaliger Professor:

    "'Sehen Sie', erklärte man mir von allen Seiten, 'unser Maschinist ist Professor, ein überaus gelehrter Mann, der kein einziges Buch auslässt, und wenn er es von einer Schwelle zur anderen nicht durchgelesen hat, wirft er es noch nicht in die Feuerung, nein, nein, nein!'"
    Ein lange vergessener, da lange totgeschwiegener Autor
    Nach der russischen Revolution lebte Sigismund Krzyzanowski drei Jahrzehnte in einem winzigen Zimmer in Moskau. Dass ein Schriftsteller nie erlebt, dass eines seiner Werke veröffentlicht wird, ist einerseits erschütternd. Andererseits überlebte Krzyzanowski gerade deshalb, weil er nichts veröffentlichte und dem stalinistischen Terror so keine Angriffsfläche bot. Wenn man dieses Buch liest, kann man nur feststellen: Gut, dass zu Zeiten der Säuberungswellen niemand den Inhalt seiner Schublade genauer überprüft hat. Und zum Beispiel gelesen hat, wie sein Münchhausen in Moskau die Beschwernisse des postrevolutionären Alltags erlebt. Dazu gehören die Hyperinflation und die Hungerkatastrophe, welche die junge Sowjetunion nach dem Bürgerkrieg heimsuchte. Schlichtweg alles sei aufgegessen worden, sogar die "Zwiebeltürme". Das ist mehr als ein Wortspiel, nämlich zugleich Anspielung auf die vielen orthodoxen Kirchen, die im Zeichen des offiziellen Atheismus abgerissen wurden. Über die Hungersnot heißt es weiter:

    "Die Lebensmittelläden waren zugenagelt, und vor den mit gemalten Schinkenkeulen, Wurstgirlanden und Radieschen-Gewinden verzierten Aushängeschildern drängten sich massenweise Leute, die sich vom Anschauen ernährten. In wohlhabenderen Häusern (…) speiste man unter Beachtung althergebrachter kulinarischer Traditionen. Bei Tisch servierte man als ersten Gang ein Stillleben der niederländischen Schule mit der Darstellung von allerlei Köstlichkeiten."
    Kritik am Sowjetsystem alá Münchhausen
    Münchhausen erhält außerdem Einblicke in die sowjetische Wissenschaft und das sowjetische Theater. Er steigt auf den leeren Sockel des zerstörten Denkmals von Zar Alexander und wird von einer Menschenmenge gefeiert. Wegen eines falsch gelösten Straßenbahntickets wird er zwischenzeitlich zum Tode verurteilt. Die Sowjetunion, resümiert er, sei ein Land solche Fakten hervorbringt, dass allen Phantasmen das Nachsehen bleibe. Eigentlich keine gute Geschäftsgrundlage für einen Lügenbaron.
    Als Maxim Gorki 1932 einige Schriften Krzyzanowskis zur Beurteilung vorgelegt wurden, äußerte er zwar einen gewissen Respekt. Doch Gorki fand die "philosophische Tiefe" bei Krzyzanoskwi veraltet und sein Neigung zu Wortspielereien für "unsere tragische Zeit", wie er es formulierte, nicht mehr angemessen.
    Gorki kritisierte Krzyzanowskis Buch als "Wortgeplänkel"
    Solche ideologisch gefärbten Urteile erscheinen heute natürlich mehr als fragwürdig. Aber in einem Punkt hatte Gorki vielleicht recht: Der Feinsinn von Krzyzanowskis Pointen und die Subtilität seiner Münchhausen-Satire werden dem millionenfachen Leid, das man mit der russischen Revolution, dem Bürgerkrieg und Stalinismus verbindet wohl nicht gerecht.

    Mehr als ein Regimekritiker ist dieser Autor ein Form-Spieler. Er entwickelt eine hybride Erzählweise, in der sich zeitkritische Anekdote, Phantastik, philosophische Reflexion und intertextuelle Artistik amalgamieren. Es ist eine episodische und moderne Form, der allerdings jeder Reportage-hafte Zugriff auf die frühe sowjetische Wirklichkeit fernliegt – dergleichen sollte man nicht erwarten. Baron Münchhausen ist bei Krzyzanowski nicht mehr der selbstherrliche Aufschneider, sondern ein Mann, der hintersinnige Paradoxien liebt. Er hadert am Ende mit dem Starrummel um seine Person und debattiert mit einem Mathematiker über Wahrscheinlichkeitstheorie, wobei er eine schöne These aufstellt:

    "Sie kommen mir mit Ihren ganzen Zahlen. Aber was sind sie, diese ganzen Zahlen, für das nicht ganze Wesen, genannt Mensch? Menschen sind Brüche, die sich als Einheiten ausgeben."
    Auch Geschehnisse seien niemals etwas Ganzes, sondern ereigneten sich gewissermaßen immer nur halb. So gesehen ist diese gewitzte, von Dorothea Trottenberg geschmeidig übersetzte Münchhausiade ein Werk über die Unvollkommenheit der Welt. Der Baron zieht es am Ende vor, aus ihr zu verschwinden. Er steigt zurück in das Buch, aus dem er gekommen ist.
    Sigismund Krzyzanowski: "Münchhausens Rückkehr"
    aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg
    Dörlemann Verlag, Zürich. 240 Seiten, 22 Euro