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Sigrid Löffler: "Die neue Weltliteratur"
Einwanderung in Sprache

Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler hat eine Anthologie über eine neue, nicht-westliche Literatur vorgelegt, die als Folge der Entkolonialisierung der 1960er- und der Globalisierung entstanden ist. Mit Doris Lessing aus Rhodesien, John Maxwell Coetzee aus Südafrika und V.S. Naipaul aus Trinidad wählt sie drei Galionsfiguren als Türöffner.

Von Katrin Hillgruber | 10.02.2014
    "Nationalliteratur will jetzt nicht viel besagen", schrieb Johann Wolfgang von Goethe 1827 an seinen Getreuen Eckermann. Vielmehr, so Goethe, sei die Epoche der Weltliteratur an der Zeit und jeder müsse dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. Die Literaturkritikerin und Publizistin Sigrid Löffler hat sich diesen Appell unerschrocken zu Herzen genommen, auch wenn sie ausdrücklich von einer neuen Weltliteratur spricht, im Sinne einer globalen Literatur. Aus europäischer Sicht ist dieses Phänomen an den Rändern der einstigen Kolonialmächte entstanden und entwickelt sich, ja explodiert laut Sigrid Löffler weitgehend unbemerkt vor sich hin. Sie hat sich vorgenommen, diesen ihrer Meinung nach für deutschsprachige Leser weitgehend unbekannten geistigen Kontinent zu vermessen. Wie ist sie dieses Mammutprojekt angegangen?
    Sigrid Löffler: "Ich habe mich schon seit mindestens zehn, fünfzehn Jahren damit befasst, weil mich die postkoloniale, vor allem englischsprachige Literatur immer schon interessiert hat. Die wurde ja auch weltliterarisch schon anerkannt, hat auch Nobelpreise bekommen, wie man weiß, Vidiadhar Naipaul war einer dieser Nobelpreisträger, der aus Trinidad stammt und eindeutig ein Mann aus den Randgebieten des britischen Weltreiches ist, ebenso John M. Coetzee aus Südafrika, auch er hat den Nobelpreis bekommen. Doris Lessing in gewisser Weise gehört natürlich auch dazu, denn sie entstammt Rhodesien, also auch einer ehemaligen britischen Kolonie. Diese Autoren haben mich interessiert, weil sie neue Stoffe, neue Erzählstoffe in die Literatur eingebracht haben, und das wurde lange im deutschsprachigen Raum nicht wirklich wahrgenommen. Die deutschsprachige Literatur war doch mit ihren eigenen Themen sehr lange sehr intensiv beschäftigt, und da habe ich mich schon lange umorientiert. Insofern ist dieses Buch eigentlich ein Zwischenergebnis einer langen und intensiven Lektürebeschäftigung."
    "Generation Windrush"
    Mit den Nobelpreisträgern Doris Lessing aus Rhodesien, John Maxwell Coetzee aus Südafrika und V.S. Naipaul aus Trinidad wählt sich Sigrid Löffler drei Galionsfiguren und zugleich Türöffner für ihre Anthologie. Die drei kamen zwischen 1947 und 1962 nach London, als sich das gewaltige British Empire, in dem einst nie die Sonne unterging, längst in Auflösung befand, nicht zuletzt durch die Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs. Am 22. Juni 1948 legte in Tilbury an der Themse-Mündung das jamaikanische Schiff "Empire Windrush" an. Dessen 493 Passagiere gelten heute als "Generation Windrush", als Vorhut einer neuen Einwanderergeneration, die laut Sigrid Löffler zu einer "innerbritischen Rekolonialisierung der Entkolonisierten" führte. Als literarische Zeugnisse dieser Entwicklung präsentiert sie Romane wie V.S. Naipauls "The Enigma of Arrival", "Das Rätsel der Ankunft", oder "The Lonely Londoners" von Sam Selvon aus Trinidad. Sie schildert die Migration als Transitorium zwischen Aufbruch und Ankunft und findet die schöne Formulierung von der Melancholie als gewaltiger Produktivkraft.
    "Das Gerüst, das sich zunächst einmal angeboten hat, war der Zerfall des Britischen Empire nach 1945. Das hat mir […] die topographische und auch chronologische Struktur gegeben, das Gerüst, danach konnte ich dieses Buch zunächst mal strukturieren und überhaupt die Autoren nach Regionen und nach Themen sortieren in zweierlei Hinsicht: einerseits die verschiedenen, deutlich erkennbaren Einwanderungswellen aus den Kolonien ins englische Mutterland und andererseits die Autoren, die in ihren Kolonien, Ex-Kolonien verblieben sind und darüber ihre Bücher schreiben, das sind meistens ruinierte Länder, Kolonien, die sich vom Trauma ihrer Unabhängigkeit nie erholt haben, bis heute nicht erholt haben."
    Narratives Netz bis in die Gegenwart
    Von emblematischen Romanen der Einsamkeit wie "The Lonely Londoners", einem postkolonialen "Urtext", spannt Löffler ein narratives Netz bis in die Gegenwart, indem sie rund fünfzig Migranten und/oder Sprachwechsler von der britischen Bangladeschi Monica Ali über den Nigerianer Chinua Achebe bis zum Iraker Najem Wali in ihrem jeweiligen nationalen Kontext und mit ihren Hauptwerken vorstellt. Dabei ist die Präsenz englischsprachiger Autoren übermächtig. Frankophone Erzähler aus Afrika, dem Maghreb oder dem Libanon, den Löffler wie Ex-Jugoslawien als zerfallenden Staat aufgenommen hat, befinden sich hoffnungslos in der Minderheit. Sigrid Löffler rühmt das Englische als besonders demokratische Sprache, die durch immer neue Einwanderungswellen bereichert werde.
    "Und ich denke in der Tat, dass diese Autoren, die ja mit ihrem ganzen kulturellen Gepäck in diese neue Sprache eingewandert sind, das heißt mit ihren Sprichwörtern, mit ihrer Geschichte, mit ihren Liedern, mit ihren Mythen, mit ihren Märchen, alles das haben sie ja in die neue Sprache mit eingebracht, und sie verändern das Englische dadurch auch. Man kann sagen, sie kreolisieren das Englische. Kreolisierung war ja zunächst mal ein Ausdruck für die frankophonen karibischen Inseln und die Autoren sagen wir mal von Martinique, die das Französische kreolisiert haben, verändert haben. Aber vice versa gilt das ebenfalls auch für die englische Sprache. Und das Englische […] öffnet sich dem. Und in der Tat, wie diese Autoren englisch schreiben, verändert die englische Sprache sehr, und ich denke, zu ihrem Vorteil."
    Autoren wie der pakistanische Shootingstar Mohsin Hamid, Hanif Kureishi, Salman Rushdie oder auch eine ganze Reihe junger Schriftstellerinnen aus Afrika werden mit ausführlichen Werkinterpretationen vorstellt. Wie kam diese Auswahl zustande?
    Einige Kapitel sehr kursorisch
    "Zunächst habe ich natürlich die Autoren gekannt und auch seit langem gelesen, und dann ist mir aber auch aufgefallen in den letzten Jahren, dass immer mehr von diesen englischsprachigen Migrantenautoren übersetzt werden, auch in der deutschsprachigen Literatur, dass auch nicht mehr nur die Spezialverlage sich damit beschäftigen, sondern dass sie auch einwandern in die großen Publikumsverlage. Es gibt ja kaum mehr einen großen Publikumsverlag, der nicht seinen afrikanischen, pakistanischen oder karibischen Autor hätte. Mich hat natürlich im Zusammenhang mit dem Buch vor allem interessiert, welche Bücher sind auf Deutsch übersetzt. Es ist ja ein Buch, das Orientierungshilfe leisten will für ein deutschsprachiges Publikum, also muss ich mich schon auf deutschsprachige und in deutschsprachiger Übersetzung vorliegende Titel konzentrieren."
    In dieser notgedrungenen Beschränkung auf das übersetzte Material liegt ein Problem dieser ansonsten höchst löblichen, überfälligen Anthologie: Einige Kapitel wie das zum Irak fallen sehr kursorisch aus, in anderen wie dem zu Ex-Jugoslawien muss viel Bekanntes wiederholt werden. Zudem leuchtet nicht ganz ein, warum als "Arrival Cities", Ankunftsstädte, nur New York, Bombay beziehungsweise Mumbai und das kanadische Toronto genannt werden. In diesen Kapiteln beruft sich Sigrid Löffler auf den Reportageband "Arrival Cities" von Doug Saunders. Der britisch-kanadische Journalist sprach mit Migranten in weltweit mehr als zwanzig Städten; ein Drittel der Erdbewohner befinden sich auf Wanderschaft.
    Elite der afrikanischen Kosmopoliten
    Offenbar ging es der Verfasserin darum, eine möglichst außereuropäische Perspektive einzunehmen. Dieses Vorhaben hat andererseits reiche Früchte getragen. Hochinteressant fallen ihre Erkundungen auf dem indischen Subkontinent und vor allem unter der jungen, selbstbewussten Schriftstellergeneration Afrikas aus, den selbsterklärten Afropoliten. Hier offenbart sie sich in allen Facetten, die es vom Leser selbst zu entdecken gilt - die neue Weltliteratur, wie sie die Kustodin Sigrid Löffler erklärt.
    "Das ist eigentlich das, was mich am meisten verwundert hat, was ich aber auch bewundere, ist, dass es eine neue Generation beispielsweise von afrikanischen Autoren gibt, die sich selbst eigentlich als die Elite der afrikanischen Kosmopoliten betrachten: Taye Selassie beispielsweise, eine dieser Autorinnen, bezeichnet sich ja selbst als Afropolitin, also als afrikanische Kosmopolitin, und Teju Cole aus Nigeria, der in New York lebt, würde sich ähnlich verorten. Also, da ist schon auch im Selbstbewusstsein dieser Migranten, dieser Zuwanderer in den Westen, schon einiges vorangegangen, da hat sich sehr viel verändert."

    Sigrid Löffler: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler.
    C.H. Beck Verlag, München 2013. 344 Seiten, 19,95 Euro